so wol dir, falke, daz du bist! du fliugest swar dir liep ist

Dietmar von Eist um 1160

 

 

 

Ich möchte Matthias Eder, von vielen in der Ostasienforschung ehrfurchtsvoll „Meister Eder“ genannt, Ernst Ottwalt, Max Moerman, Peter Schöller, David Kornhauser, Sabine Frühstück, Itshiro Hori, Sarah Thal, Peter Knecht, Tēgo Yoshida, Hans Baerwald, Gustav Heldt, Richard Rubinger, Johannes Maringer, Peter Konicki, Horst Krüger, Stephen Oppenheimer, Alexander Krappe, Irene Träuber, Namio Egami und vielen anderen, deren Gedanken mich zu diesem Text inspiriert haben, danken.

 

Zur Umschrift japanischer Begriffe: Zuerst war ich versucht richtige Lautschrift zu nutzen, also jokat:a statt yokatta für 良かった, doch habe ich mich für die gängige Hepburnumschrift entschieden, da ich sonst wohl mehr verwirren als aufklären würde, mit den Abweichungen von tshi statt chi für , dshi statt ji für und dsu statt zu für beziehungsweise um dem japanischen Alphabet näher zu kommen.

 

In der Erzählung wurden alle Namen lebender Menschen, die nicht Teil der Zeitgeschichte sind, geändert.

 

 

 

 

Tempel 1

 

Wenn man unter Zeitunterschiedsschlafmangel pilgert wird alles, was man schreibt, eine Kopie einer Kopie einer Kopie.. Mein Tyler Durden heißt Kōbō Daishi, ein Mönch, der vor rund zwölfhundert Jahren Shikoku umrundet haben soll.

Im Tempel kaufe ich meinen Wanderstab. Eine Nonne, gekleidet ganz in grau, die zuerst darauf bestanden hatte, mich schon einmal gesehen zu haben und mir nicht glauben wollte, dass ich den Weg zum ersten Mal gehe, freut sich sehr, als ich ihr erzähle, dass ich aus Berlin bin. Mit strahlendem Gesicht erzählt sie, dass viele Deutsche den Weg laufen und will mir noch eine weiße Tasche dazu geben, „als Osettai!“.1 Der Tölpel, ich, schlägt die Tasche aus. Das darf man nicht. Ein Osettai muss angenommen werden. Die Nonne kämpfte sichtlich damit, die Fassung zu bewahren. Sie wollte mir wohl einen besonderen Gefallen tun. Vergib mir.

Lustige Affen wuseln gerade um mich herum. Eine vorsintflutliche Eisenbahn wackelt auf schmaler Spur durch die Felder. Alte Menschen spielen Gētobōru, wobei es gilt mit langen Holzhämmern, die aussehen wie riesige Korkenzieher, Botschakugeln durch kleine Bögen zu schießen, und freuen sich dabei wie die Kinder. Sie sind glücklich. Ich bin glücklich.

 

1Osettai sind Gaben aller Art, die der Pilgernde von Fremden erhält und die nicht abgelehnt werden dürfen, selbst wenn sie gegen die Gelübde des Pilgernden verstoßen.

 

 

 

 

Tempel 2

 

Gartenzwerge und Heiligenfiguren stehen in geschlossener Eintracht. Ein kleiner liebevoll angelegter Park umgibt den Tempel. Verneige mich nochmal vor den kleinen Steinmännchen und gehe weiter. Die Sonne ist großzügig.

 

 

 

 

Tempel 3

 

Erste Erschöpfungszustände. Sitze an der Spitze einer Schreintreppe2 in der Sonne. Der Schrein ist weiträumig angelegt aber schon ganz schön heruntergekommen. Anscheinend fehlen die Einnahmen. Am Fuß der Treppe steht ein ausladender, großer Baum. Lege mich auf dem Boden und sehe zu ihm auf. Seine Blätter knistern leicht im Wind.

Weiter. Malerischer Weg. Die Felder zur Linken, die sie überwachenden Ahnengräber, Dshidsō=Figuren3 und Schreine zur Rechten am Hang. Wegabschnitte laufen durch Bambushaine, die sich im Wind schwenken und wunderbare Lichteffekte zaubern. Kein Geräusch außer dem Bambusrausch.

Alles ist wie in einem Film. Die Welt, die mich umwandelt, die Häuser, die Menschen.. Fast meine ich, mich selber zu beobachten, mir selber zu folgen auf dem Weg. Ich genieße wie dieses ich durch das Licht der Sonne wandert, durch die grünen Felder, vorbei an den blattlosen und an den immergrünen Bäumen, sich vor Menschen verbeugt und artig grüßt und sich freut, wenn diese ebenso lächelnd zurückgrüßen. Ich bin glücklich, auch wenn dieses „Ich“ von einer leichten Melancholie umgeben ist, sie gehört wohl dazu.

 

2Als „Schreine“ bezeichnet man die kleinen Tempel und Andachtsstätten des Shintō. Auf die Beziehung von Shintō und Buddhismus wird an späterer Stelle noch eingegangen.

3Dshidsō ist der japanisierte Name Kishitigarbhas, der durch Gelübde auf die Buddhaschaft verzichtet haben soll um Seelen aus der Unterwelt zu retten. Man bindet ihm oft Lätzchen um und häuft vor ihm Steine auf, da im Volksglauben die Hexe Shōdsuka am Saenokawa, dem Grenzfluss zur Unterwelt, den Verstorbenen die Klamotten wegnimmt und sie dazu zwingt steinerne Uferbefestigungen zu bauen. Die heute allgegenwärtigen Dshidsōfiguren ersetzten Steinphallusse, die früher als Fruchtbarkeitsbringer entlang der Felder und Wege aufgestellt wurden.

 

 

 

 

Tempel 4

 

Bekomme mein zweites Osettai: Eine Flasche Pocari Sweat. Muss an Murakamis Einhörner denken. Das Pocari=Einhorn, lebt es in der Savanne Tansanias und ernährt sich ausschließlich von vierblättrigem Klee, weswegen sein Schweiß bei Japanern als leistungsfördernder Glücksbringer in sportlichen Wettkämpfen gilt? Sie füllen ihn in Halbliterflaschen ab und verkaufen ihn zu horrenden Preisen. Danke liebe Frau von Tempel Vier! Ich war tatsächlich fast am verdursten. Danach geschieht mir ein unglaubliches Sakrileg. Waren die Einhörner schuld?

 

 

 

 

Tempel 5

 

Ach, ich wünschte, ich wäre nicht immer so vergesslich. Als ich heute Morgen mein Zelt abgebaut habe, habe ich doch tatsächlich meine Stirnlampe liegen lassen. Gestern war mir etwas so peinliches geschehen, dass ich es zunächst nicht wagte niederzuschreiben: Ich hatte Kōbō, meinen Wanderstab, an einer Raststelle liegen gelassen. Dieser Hang, Dinge zu vergessen, zieht sich durch mein ganzes Leben.

In der Uni gab es ein Mädchen, das ebenso war wie ich. Ich beobachtete sie, wie sie einmal zu ihrem Fahrrad ging. Zuerst ging sie nach links die Reihe lang, hielt inne, kratzte sich am Kopf, ging den Weg wieder zurück, sah etwas verloren in die Landschaft, ging die Reihe noch einmal lang, blieb plötzlich stehen, drehte sich um und blickte auf ein Fahrrad eineinhalb Meter hinter ihr: ihr Fahrrad. Sie stellte ihre Tasche in den Korb und schloss ihr Fahrrad auf. Dabei viel der Korb krachend mit der Tasche vom Gepäckträger, was von ihr mit keiner Regung gewürdigt wurde. Erst beim Rausschieben merkte sie, dass da etwas im Weg war: ihr Korb. Eine Schwester im Geiste. Ein Mädchen, das genauso verträumt, gedankenverloren und verplant war wie ich. Ich entflammte in tiefer Liebe zu ihr, doch alle meine Werbeversuche schienen nicht zu ihr durchzudringen. Vielleicht war es besser so. Was für Kinder wären aus diesem geistigen Inzest hervorgegangen?

Während ich in der Sonne sitze und schreibe, bekomme ich mein drittes Osettai: zwei Mandarinen. Die Frau besteht darauf mich gestern schon gesehen zu haben. Der Doppelgänger, der mich verfolgt, geht mir voraus. Jeder Mensch hat einen Widerpart auf der Welt, wenn man diesen trifft, muss einer von beiden sterben.

 

 

 

 

Tempel 6

 

Bei Tempel Sechs schlägt mir eine etwas unfreundliche Stimmung entgegen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil bisher alle Menschen durchweg freundlich waren. In Berlin ist es andersrum, da ist es erwähnenswert, sollte man von irgendjemandem auf der Straße freundlich behandelt werden.

Ja.. wahrscheinlich denken sie, ich nehme sie nicht ernst, weil ich kein echter Gläubiger bin. Und in gewisser Weise haben sie ja auch recht: Ich bin kein Gläubiger. Ich respektiere den Buddhismus für seine Friedfertigkeit und seine Toleranz, mit der er sich doch positiv vom Totalitarismus der Monotheisten abhebt.. und deswegen will ich auch nicht unnötig provozieren und ziehe weiter, damit sie mich nicht widerlegen.

Es sind doch mehr Pilger unterwegs als ich für den Winter erwartet hatte. Die, die laufen, haben aber außer ihrer weißen Tasche, jede von ihnen erinnert mich an meine Untat, kein Gepäck dabei. Wie machen die das? Auch wenn man jeden Tag in einer Herberge nächtigt, dürfte der Platz knapp sein. Ich habe inzwischen festgestellt, dass es zwei Gruppen von Pilgern gibt: den Edelpilger, der fast ohne Gepäck in strahlend weißen Klamotten und blitzblanken Schuhen für ein paar Tage von Herberge zu Herberge zieht und den Prekariatspilger, der mit seiner gesamten Habe auf dem Rücken verschmuddelt durch die Gegend stampft, jenseits der Grenze zur Obdachlosigkeit. Mit einem von der zweiten Gruppe habe ich bei einer Pause an einem Schrein gequatscht. Superlieb, kaum noch Zähne im Mund, hat er mir lächelnd in einfachen Worten von seinem bisherigen Weg erzählt. Am liebsten hätte ich ihn geknuddelt, aber das ist in Japan noch unangebrachter als in Norddeutschland. Bald werde ich so sein wie er.

Lachend und winkend zieht er von dannen. Er läuft den Rundweg „gyakuutshi“, das heißt gegen den Uhrzeigersinn. Ich laufe ihn „dshunutshi“, das heißt im Uhrzeigersinn. Das rituelle Umrunden von Kultobjekten ist hinduistischen Ursprungs und von vielen anderen Kulturen übernommen worden, man findet es im Islam wie im Buddhismus. In Shikoku umrundet man aber nicht die Gebeine eines Heiligen in einer Stupa oder einen Meteoriten wie in Mekka, es sind die Berge der Insel Shikoku, die für sich in ihrer eigenen Gegenständlichkeit verehrt werden. Das Umrunden erfolgt dabei in einem derart weiten Radius, dass der Kreis, bis an dem einen Tag, da man an seinen Ursprungsort zurückkehrt, nie konkret spürbar wird; ähnlich wie man sein ganzes Leben mit Nichtigkeiten vertrödeln kann, ohne je an den Tod zu denken, bis zu jenem Tag, an dem man stirbt. Am „Ende“ kann man die Runde wieder von Neuem beginnen. Es steht einem frei, wo man „einsteigt“ und „aussteigt“ und in welche Richtung man „fährt“ auf dieser Pilger=Yamanote.4 Die Gyakuutshi=Pilger wollen Kōbō Daishi auf ihrem Weg begegnen, die Dshunutshi=Pilger wollen es ihm gleich tun.

 

4Yamanote ist der Name des tōkyōter S=Bahnrings.

 

 

 

 

Tempel 7

 

Meine Vergesslichkeit setzt sich fort. Eine vergessene Flasche Wasser. Ein vergessener Beutel Müll. Wirklich! Ich weiß, aufgrund der fehlenden Mülleimer „vergessen“ die Japaner ihren Müll gerne mal irgendwo. Aber ich habe ihn tatsächlich vergessen! Ehrenwort! Naja, es wird mir wohl niemand glauben..

Es wird Zeit für eine Erholung und Zeit sich mal wieder richtig zu waschen. Im Onsen5 werde ich behandelt wie ein Kleinkind. Drei dort arbeitende Frauen zwischen Dreißig und Fünfzig wuseln um mich herum, verstauen mein Gepäck und laufen mit mir in die Männerumkleide, um mir zu zeigen, wie die Spinde funktionieren. Hilfe trägt die Entmündigung als Samen in sich, doch in Japan wird manchmal aus diesem Samen ohne eigenes Zutun eine ganze Mangrove.

Jetzt sitz ich hier, gebadet, frisch, hoch oben auf dem Treppenabsatz vor einem Schrein im Rauschen der Autobahn unter mir. Dort unten an der letzten Stufe steht auch die Opferkiste, in die man seine Spende wirft. Man will wohl dem Ehrerbietenden den Aufstieg ersparen. Neben mir fegt fleißig eine liebe alte Frau. Von ihr habe ich mein Osettai Nummer Vier bekommen: Eine Dose Kaffee und eine Dose Tee. Danke!

 

5Onsen ist Japanisch für „heiße Quelle“.

 

 

 

 

Tempel 8

 

..wird direkt hinter mir zugemacht. Außer dem üblichen Kleingeld habe ich den Bodhisattwas auch noch Amblers Der Kuhhandel geopfert. Ich hoffe, sie können Deutsch. Für dieses Projekt habe ich mir eine Auswahl der von Murakami so heißgeliebten nordamerikanischen Autoren mitgenommen. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich, bis auf die Klassiker von Bukowski und Twain, die in Deutschland wohl jeder gelesen hat, diesen Teil der Weltliteratur bisher völlig vernachlässigt habe. Ambler, Faulkner und Steinbeck gefallen mir stilistisch sehr gut, Autoren wie Hemingway, Poe oder Chandler bleiben mir aber fremd.

Im Waschsalon herrscht eine komische Atmosphäre. Alle Japaner grüßen sich normalerweise mit den üblichen Floskeln, sind sie einmal gezwungen, in nennenswerte Nähe zueinander zu treten. Die einzige Ausnahme sind öffentliche Verkehrsmittel und – so scheint es – Waschsalons. Auf meine Gewohnheitsgrüße wurde nur mit einem stummen Nicken reagiert, auf das ein schnelles Weggehen folgte. So etwas erwartet man vielleicht, wenn man seine Französischlehrerin im Swingerclub treffen würde, aber warum hier? Vielleicht schämen sich die Leute, keine Waschmaschine zu besitzen. In der Stadt sind die Wohnungen oft schlicht zu klein, um die Monster irgendwo unterzubringen, auch ist die soziale Kontrolle dort wesentlich lascher. Hier auf dem Land bedeutet der Waschsalon, dass man sich keine Maschine leisten kann. Der Konsumdruck der Oberen auf die Unteren ist in Japan enorm, aber auch in Berlin ja nicht gering.

 

 

 

 

Tempel 9

 

Als ich am Tempel ankomme, ist es stockfinster. Es sind auch keine Menschen mehr auf der Straße. Eine Kleinigkeit spenden. Weiter durch die Nacht.

 

 

 

 

Tempel 10

 

Es ist feucht im Zelt. Die nächtliche Luftfeuchte ist am Fliegennetz kondensiert und auf mich niedergetropft. Aber der Schlafsack ist dicht genug. Beim morgendlichen Erklimmens des Tempel Zehn wird mir warm. Er liegt relativ weit oben eingebettet in die Berghänge.

Zunächst waren die Siedlungen der frühen Japaner umgeben von einem dicken, schwer zu durchdringenden Wald. Religion diente den Menschen in ihren Ursprüngen dazu Dinge, die sie nicht kontrollieren konnten, eben doch zu kontrollieren, in ihrer Fantasie das Ohnmachtsgefühl zu überwinden. Der Wald mit all seinen Tieren war eine Welt, die sich der Herrschaft des Menschen entzog, und so begann er, durch Beten die Götter im Wald zu beeinflussen. Mit dem Aufkommen des Ackerbaus wurden alle nutzbaren Flächen gerodet, was übrig blieb von der götterbewohnten Waldwelt, waren die Berge.

Die meisten Tempel dienten der Ehrung der Ahnen, die von den Bergen aus die Ernte in den Tälern sicherstellten und zu deren Füßen man die heiligen Stätten errichtete. Noch heute sind viele Gräber auf die Reisfelder ausgerichtet. Die Tempel in den Bergen sind dagegen zumeist alte Einsiedeleien der Hidshiri, derer „die die Sonne kennen“, oder derer „die um die Zeit wissen“, oder derer „die den Tag beherrschen“ – oder auch oft schlichter mit „Weiser“ oder „Heiliger“ übersetzt.

Ein Hidshiri war eine Mischung aus Wandermönch, Heiler, Schamane, Landstreicher, Bergeinsiedler, Seher, Evangelist, Kräutersammler, Außenseiter und Priester. Eine Mischung aus bedrohlichem Fremden und erlösendem Heilsbringer – ein synkretistischer Graswurzelmönch. Anarcho=buddhistische Kinder der Sonne, die die Kirchenhierarchien genauso ablehnten wie sie sie. Im vormodernen Japan allgegenwärtig, streiften sie durch die Lande, erzählten Geschichten, sangen und beteten und zogen zur Askese in die Bergeinsiedeleien, in die Waldwelt der Götter.

Im alten Japan waren die wandernden Hidshiri die Verbindung der Dörfer zur Welt, sie waren Nachrichtensprecher, Fernsehserie und Konzert in einem, die großen Geschichtsanthologien Japans gehen auf ihre Erzählungen zurück; sie begleiteten die Menschen durch den Ablauf der Jahreszeiten, sammelten die Neuigkeiten auf den Märkten, begleiteten die Truppen in die Schlachten und gaben all dem in ihren Berichten einen Sinn, indem sie sie mit Mythen aller Art verwoben. Sie liefen durch die Welt auf der ewigen Suche. Auf sie gehen die meisten Pilgerwege und =praktiken Japans zurück und auch Kōbō soll einer langen Linie von Hidshiri entsprungen sein.. Gibt es ein besseres Sinnbild für diesen Lebensentwurf, als einen Weg der immer im Kreis führt? Mein Ziel ist es nicht, dem Ideal zu entsprechen, aber doch ihm so nahe zukommen wie möglich. Der Hidshiridō, der Weg des Hidshiri.

Ich, der Nichtsesshafte, der ewig Getriebene, laufe los, dem Licht der Sonne, der großen Unbekannten hinterher. Das Leben ohne Uhr ist ein schönes Leben. Man muss sich in Japan eigentlich auch nicht um Öffnungszeiten sorgen, da die Konbini, die japanischen Spätkaufketten, rund um die Uhr geöffnet haben. „Rund um die Uhr“ ist ein schönes Sprachbild.. auch ohne Uhr. Gibt es aber mal keine Konbinis, kann man morgens sehr lange hungrig bleiben, da die meisten Imbisse und Restaurants erst um elf öffnen. Aber das wäre auch mit Uhr nicht anders. Irgendwann erstehe ich eine Packung Chips in einem Krämerladen, wo ich auch gleich auf einen Tee mit der Verwandtschaft eingeladen werde.

Als ich weitergehe treffe ich einen anderen Henro,6 der mich gleich fragt, wo ich herkomme und ob ich denn als Christ den Pilgerweg laufen könne. Sage ihm, dass ich kein Christ sei und verneine auch die Frage, ob ich Buddhist wäre. „Du bist Deutscher“, sagt er lachend, „du glaubst an gar nichts.“ Ja.. „Wir glauben an gar nichts, Lebowski, an gar nichts! Und morgen kommen wir wieder und weg ist dein Johannes!“ kommt mir in den Sinn. Nietzsche führt in Deutschland ja eher ein Schattendasein. Wie schwach ist sein Denken, vergleicht man es mit Geistesgrößen wie Hegel, Fichte oder Marx.

Dass seine Rezeption in den USA so ausgeprägt ist liegt wohl vor allem daran, dass es dem eigenen Großmachtstreben entsprach – bevor ich falsch verstanden werde, es ist immer einfach auf den USA herumzuhacken, vor allem in der deutschen Linken gehörte jahrelang das Anprangern der USA in allen Lebenslagen zum guten Ton und die USA gaben sich auch alle erdenkliche Mühe es ihren Gegnern möglichst einfach zu machen, doch heute, da der Pax Amerikana sich seinem Ende nähert, stellt sich die Frage, wie es weiter geht.. In Japan ist Nietzsche vor allem deswegen bekannt, da einer der größten Schriftsteller des Landes, Akutagawa, sich oft auf ihn bezog, und daher kein Schüler hier an seinem Namen vorbeikommt.

Durchquere das Tal des Yoshino zur gegenüberliegenden Bergriege. Riesiger Bambus schwingt im schwachen Wind. Der Fluss ist so rein und klar, dass man von der Brücke aus mühelos die Getränkedosen und Autoreifen auf seinem Grund sehen kann.

Als ich das Schauspiel betrachte, fahren vier schnatternde und lachende Thailänderinnen auf Fahrrädern an mir vorbei. Auf dem Land leben heißt in Japan harte Arbeit bei niedrigem Konsumniveau. Kaum eine Japanerin ist daher bereit einen Bauern zu heiraten und so ist heute der Frauenanteil in den Städten viel höher als auf dem Land. Männer sind als traditionelle Erben an das Land ihrer Ahnen gebunden. Es aufzugeben käme einem Verrat an ihnen gleich. Vielleicht hilft der Zuzug südostasiatischer Frauen, die äußere Kruste aus Selbstzufriedenheit und Ethnozentrismus vieler Japaner etwas aufzubrechen.. Ja.. Ich kann mich noch an das Hallo erinnern, dass mein Erscheinen als Gaidshin, also als „Ausländer“, in jüngeren Jahren auf dem Land ausgelöst hat. Heute ist davon nur noch wenig zu spüren.

Die Landflucht und der Niedergang auf dem Land ist auch an den vielen windschiefen, verlassenen Häusern zu sehen, die offenbar nur noch stehen, da es niemanden gibt, der für die Abrisskosten aufkommt. Selbst in touristischen Zentren wie Nikkō findet man sie zu Hauf.

 

6Henro ist sowohl der Name des Rundwegs um Shikoku als auch der der auf ihm wandernden Pilger.

 

 

 

 

Tempel 11

 

Berge sind schön. Vom Tal aus. Ich habe nie verstanden, was Leute daran fanden, über einen Berg statt um ihn herum zu laufen. Ab Tempel Elf gibt es erst mal keine Einkaufsmöglichkeiten oder Restaurants mehr, sodass ich zusätzlich zu meinem Gepäck noch meine Verpflegung zu schleppen habe.

Der dunkelgrüne Wald mit seinen Farnen und den hereingebrochenen Lichtstrahlen ist wunderschön. Er wäre aber auch in einem Tal wunderschön. Eine Mandarine als Osettai. Eine Frau behauptet felsenfest, mich schon einmal Pilgern gesehen zu haben. Bestreite es natürlich. Kōbō lässt sich nicht gerne enttarnen.

Nach einer größeren Erledigung habe ich den unstillbaren Wunsch, mir die Hände zu waschen. Bei Hardcoresurvivaltypen löst das meist Stirnrunzeln aus, man gilt schnell als „Duschnutte“. „In Frankreich wäscht man sich gar nicht die Hände, die Klos dort haben nicht mal Waschbecken und dieses Volk hat trotzdem überlebt!“ Ich weiß. Ich weiß. Aber es ist einfach so. Es hat sich wohl ausgezahlt stets die Dshidsō auf dem Weg zu ehren, denn kaum bieg ich um die Ecke, liegt mitten auf dem Weg ein versiegeltes Hygienetuch in einem durch die Bäume fallenden Lichtflecken.

Gegen Ende des Tages, nach Regen, Schnee und einem Wind, der einem das Fürchten lehrte, komme ich ins letzte Tal vor Tempel Zwölf. Nebelschleier ziehen durch die dicht bewachsenen Bergketten. Es ist die Anfangssequenz von Mononoke. Tief unten plätschert ein Bach, sonst ist es völlig still. Die Häuser wirken nicht verwahrlost, doch wo sind die Menschen?

 

Aufstehen, das Eis aus dem Zelt klopfen, los. Durst. Es sollte eigentlich eine Quelle kommen, nach dem Plan, nur es kommt keine. Muss dran vorbeigegangen sein. Mir wird beim Aufstieg schwindelig, da überholt mich Murakami. Das unverkennbare zerknirschte Mondgesicht mit dem stechenden Blick erkennt mich nicht. Er grüßt mich mit einem „Otsukaresama“, was wörtlich „ihre ehrenwerte Erschöpfung“ bedeutet und sinngemäß „gut gemacht“ oder auch „Schluss für heute“. Nein, nein, lieber Herr Murakami, der Tag hat gerade erst angefangen. „Leider“, würden meine Füße sagen.

Aus irgendeinem Grund muss ich an meinen alten Sprachlehrer in der Uni denken. Er ist mit meiner Art nie so wirklich zurechtgekommen, doch ich hatte ihn trotzdem sehr gerne. Ich kann mich erinnern, wie wir uns kurz auf dem Flur unterhielten und ich das Wort „Omae“ verwendete, eine Version des „Du“s, die, wie ich heute weiß, niemals gegenüber Höhergestellten oder Fremden verwendet werden darf und wenn man sie gegenüber Jenen verwendet einer Beleidigung gleich kommt. Er antwortete nur „das ist falsch“ (er sagte einem für gewöhnlich auch sonst nie was man denn falsch gemacht hatte) und ich fragte „Warum?“, doch er ging wortlos weiter. Wahrscheinlich hatte er meine Nachfrage als Provokation aufgefasst. Ein anderes Mal sollten wir übersetzen. Der Text ging um einen Jungen, der gerade frisch verheiratet war und es kamen die Worte „warui, warui“ vor, was wörtlich übersetzt „schlecht, schlecht“ bedeutet und sinngemäß „mein Fehler“, was ich damals noch nicht wusste und so knobelte ich herum und hab es dann aus dem Zusammenhang heraus mit „ach du Scheiße“ übersetzt, so nach dem Motto, der Typ wacht morgens auf, sieht die Schrulle bei sich im Bett, den Ring an seinem Finger und fragt sich, was ihn da eigentlich getrieben hat. Solche Texte waren ihm durchaus zuzutrauen! Er meinte zu meiner Übersetzung nur trocken „das [Bedauern der Heirat] kommt erst so nach drei Jahren.“ Worauf ich antwortete: „Sprechen Sie da aus Erfahrung?“ Es tat mir im gleichen Augenblick bereits Leid. Er sackte eineinhalb Zentimeter zusammen und drehte sich von mir weg. Es ist ihm als Größe anzurechnen, dass er mich trotzdem noch zu einem seiner Grillabende einlud, wo ich feststellen musste, dass seine Ehe tatsächlich das war, was man „zerrüttet“ nennt. Bis heute habe ich ein schlechtes Gewissen, aber was hätte ich machen sollen? Ein saarländischer Kommilitone hat mir mal erzählt, dass die Saarländer alle etwas langsam und zurückgeblieben aber herzensgute und friedfertige Menschen seien. Meine ehrliche Antwort war, dass er der einzige Saarländer sei, den ich kenne und ich ihm deswegen nicht widersprechen könne. Eine halbe Stunde später kam er an und fragte mich, ob ich Prügel wolle. Nein, natürlich nicht. Aber was soll ich denn bei solchen Vorlagen tun? Die Antworten kommen da ganz von alleine.

Mit dem Chor der Roten Armee auf den Ohren geht es Tempel Zwölf entgegen. Ohne diesen heroischen Habitus würde ich diese letzte Nordwand wohl nicht schaffen.

 

 

 

 

Tempel 12

 

Getränkeautomaten. Nach den Strapazen bin ich von Tempel Zwölf etwas enttäuscht. Nicht, dass er hässlich wär, doch nach dem Erlittenen erwartet man mehr. Mit Enka7 auf den Ohren geht es weiter. Es folgt ein kleines Tal, dann der Schock: die nächste Bergwand. Ich glaubte, mit Tempel Zwölf die Berghölle von Pik Kōbō hinter mich gebracht zu haben.. Schilder warnen: „Fühlen Sie sich fit genug für den Aufstieg? Überschätzen Sie nicht ihre Kräfte!“

Nach dem Pass kommt das Paradies, eine langgewundene Straße, die sich die Sonnenseite eines Bergkamms entlangschlängelt. Sanft. Meerwärts. Lachende Kinder und glückliche Großeltern. Es ist Neujahr, das japanische Gegenstück zu Weihnachten. Das heißt, man trifft sich mit der Familie, tauscht kleine Geschenke aus und stopft sich mehrere Tage den Bauch voll. Die alten Menschen wirken so unglaublich glücklich im Kreise ihrer Enkel.

Eine Rasthütte schwebt auf Stelzen in der Sonne. Treffe Naoko. Sie läuft den Weg schon zum vierten Mal und ist auch sonst viel in der Welt herumgekommen. In der Messestadt Frankfurt war sie dreimal von Exhibitionisten belästigt worden, erzählt sie, und auch als sie in Neuyork belästigt wurde, hier wurde es ihr zu bunt und sie rief die Polizei, war der Exhibitionist ein Deutscher. Ob das normal wäre? Ich hoffe nicht. Sie schlägt vor sich ein Zimmer in einer Herberge zu teilen „um Geld zu sparen.“

 

Beim Frühstück erzählt die Betreiberin, dass es gestern einen Terroranschlag in Berlin gegeben habe. Das macht mich total kirre. Während Naoko auf dem Klo ist raff ich meine sieben Sachen zusammen, zahl meinen Teil, das Abendessen erlässt sie uns als Osettai, und ziehe los. Nach der Horrornachricht wird der Fluchtreflex übermächtig. Wann fangen die Menschen an sich gegen die islamfaschistische8 Bedrohung zu wehren? Die Scheiße fickt meinen Kopf.

Das Laufen tut gut. Ein wunderschönes Flusstal. Große Felsen. Dichter Wald. Malerisch eingeklemmte Dörfer.

Doch meine Gedanken sind woanders. Irgendwann gelingt es mir über das Wort „Ficken“ auch im Kopf weiter zu kommen. Es bedeutete ursprünglich „ruckartig bewegen“, wie alle Worte ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren, sobald sie eine sexuelle angenommen haben. Das Wort „Puff“ stand ursprünglich für Backgammon, doch da man allzu oft ins Bordell ging, wenn man seiner Frau sagte, man gehe zum Puff, verlor es diese Bedeutung. Ähnlich ist es mit „Hure“, das so viel wie Bezahlen hieß oder „Fotze“, das für Körperöffnung stand. „Schwanz“ befindet sich in einem Übergangsstadium und man kommt wohl nicht umhin sich bei Zeiten einen neuen Namen für das wedelnde Ende des Hundes auszudenken. Ich schlage „Wedel“ vor. Aber „Ficken“ nahm auch eine negative Bedeutung im Sinne von fertigmachen oder quälen an. Diese Doppelbedeutung führt zu bisweilen ulkigen Ergebnissen, so sah ich auf der Mattscheibe mal einen Bericht über eine Gangsterrapgruppe aus Bonn, was das Schicksal wohl für sich genommen als noch nicht absurd genug befand, nein, es verleitete sie sich „Keiner fickt mit uns“ zu nennen. Zuerst fand ich das Wortspiel zwischen ironisierter Streetcredibility und Selbstmitleid äußerst gelungen, aber als dann die Interviews kamen wurde schnell klar, dass keiner von ihnen den Intellekt dazu hatte. Horstkinder, die wohl aus Dummheit gepatzt hatten. Was wollte man auch von Bonnern erwarten? Es gab diesen Typus des Idioten, dessen einzige Fähigkeit sich über die Erkenntnis seiner eigenen Minderwertigkeit zu erheben, die Gewalt gegen andere war. Niemand würde ihnen je erzählen, wie sehr man über sie lachte und sie verachtete, ich auch nicht. Die Islamisten sind eine Form ihrer.

Im Buch Untergrundkrieger von Murakami geht es um die Folgen des Terrors der Ōm=Sekte in Tōkyō Anfang der Neunziger. Das Schicksal der Opfer hat mich tief bewegt, doch der Teil über die Täter ließ mich äußerst unbefriedigt. Das Buch gibt einem keine Antworten auf die Frage, wie man Menschen von so etwas abhalten konnte, es lässt einen genauso hilflos zurück, wie man es aufschlug, eigentlich sogar noch etwas hilfloser. Tatsächlich waren es auch Japaner, die aus einer Mischung von fehlgeleiteter internationaler Solidarität und traditionellem Selbstopferkult den ersten Selbstmordanschlag in Israel ausführten. Die Drei schossen Anfang der Siebziger auf einem israelischen Flughafen wild in die Menge, im Wissen, dass sie dafür von den Sicherheitsleuten getötet werden würden, und ermordeten sechsundzwanzig Menschen. Verschiedene Palästinensergruppen kopierten die Strategie und so wurde sie in Verbindung mit einem pervertierten Paradiesglauben zum Kennzeichen des politischen Islam.

 

7Enka ist eine traditionelle Musikform, die, ursprünglich offen gesellschaftliche Missstände anklagend, in der Zeit des Militarismus durch kitschige Texte versteckte Gesellschaftskritik leistete.

8Der Begriff Islamfaschismus soll nicht, wie mir vorgeworfen wurde, den Islam als solchen mit faschistischer Ideologie gleichsetzen, sondern nur die Fälle kennzeichnen, in denen er als solche gebraucht wird.

 

 

 

 

Tempel 13

 

Naoko hatte mich gefragt, warum ich mich entschieden hatte, den Achtundachzigtempelweg zu laufen. Ich hatte ihr geantwortet, dass es für alles unendlich viele Ursachen und gleichzeitig keine gäbe und im Prinzip sieht das auch so aus für die Frage, warum ich mich entschieden habe, im Winter zu laufen. Eine dieser unendlichen Nichtigkeiten ist Kodsure Ōkami,9 diese Film= beziehungsweise Fernsehserie um einen wandernden Verstoßenen ist, um ihr eine raue, trockene Atmosphäre zu verleihen, im Winter gedreht worden. Ich hab die coole Hauptfigur, Ogami, dafür geliebt, wie sie mit grimmiger Miene durch das kalte Land zieht. Langsam stellt sich mit den dunkel glühenden graubraunen Bäumen, dem ewig pfeifenden Wind, den weiten Feldern trockener, ausgebleichter Flussbettkiesel mit dem Schilfdickicht in hellgrauer Winterfärbung zu ihren Seiten und dem knarrenden Krächzen der Krähen, den Herrschern des Winters, auch bei mir die Ōkami=Stimmung ein. Kommt ihr Yagyū!

 

9Kodsure Ōkami, „Der das Kind mitschleppende Wolf“, ist eine Samurai=Serie, in der der Protagonist Itto Ogami mit seinem kleinen Sohn Daigoro durch Japan zieht und dafür kämpft seine Ehre wiederherzustellen.

 

 

 

 

Tempel 14

 

Ja, ich wollte immer Ogami sein. Umso mehr hat es mich damals gewurmt, als eine Freundin durch meine Sachen stöberte, etwas was ich hasse, einen Kinderausweis hervorzog und beim Anblick des Fotos spontan ausrief „Daigoro!“ Es ist zum Mäusemelken – eine Umschreibung, die mir gerade einfällt, da ich hier am Vierzehn von einer liebesbedürftigen Katze beklettert werde, die sich auch für die Abdrücke auf dem Papier verantwortlich zeichnet und versucht mich am Schreiben zu hindern [Katzenpfotenspuren in wirklichkeitsgetreuer Größe grau quer über die Seite hinter den Text legen] – aber es lässt sich nicht ändern. Ich wollte immer „kakkoī“, das heißt sinngemäß „cool“, sein, doch ich wurde von der holden Weiblichkeit immer nur mit einem „suteki“, in etwa „schick“, bedacht.. Ja, mit ihr hatte es irgendwann einen großen Streit gegeben. Vor zwei Jahren hab ich sie zufällig auf einem U=Bahnhof wiedergetroffen. Man möchte meinen, dass die Zeit alle Wunden heilt, doch auch nach zehn Jahren starrte sie mich nur geschockt und überfordert an und ich starrte wohl genauso zurück. Wir hätten das beide damals anders zu Ende bringen sollen, doch wir waren jung..

Mit Vierzehn hat man das Bergland hinter sich gelassen. Seit dem Berg hinter Tempel Zwölf ging es stetig bergab während die Temperaturen stetig stiegen.

 

 

 

 

Tempel 15

 

..hat einen kleinen kalten Bach hinter sich. Ein Segen für die geschundenen Füße. Eine nette Dame schenkt mir einen Beutel Süßigkeiten als Osettai. Ja, ein bisschen wünsche ich mir Naoko zurück. Sie läuft, wie es viele machen, wegen der Arbeit den Weg immer in Teilen, was hieß, dass sie mich wohl nicht mehr einholen würde. Aber sie lebte ja in Ehime, in der Nähe des Einundsechzig. „Ruf mich an wenn du dort bist“, ihre Worte wandern mir durch den Kopf.

 

 

 

 

Tempel 16

 

..ist der bisher hässlichste.

 

Gelegentlich gibt es kleine, kostenlose Schlafmöglichkeiten für Pilger entlang des Weges. In einer von ihnen erwache ich mit den wunderbaren Klängen der Koto10 und dem Rauschen des Verkehrs der Stadt Tokushima im Hintergrund. Die Kotoklänge kommen vom Wetterkanal im Fernsehen. Es gibt Regen. Auch wenn der Winter die trockenste Jahreszeit Japans ist, bis auf den Norden, wo sich die Götter um die Wette pudern und auch den Menschen vom weißen Gold mehr als reichlich lassen, ist der Winter hier nach berliner Maßstäben nicht trocken. Trockenheit ist grundsätzlich die Abwesenheit von Feuchte und existiert damit nur als Ideal wie Kälte als Abwesenheit von Wärme – Japan. Meine Nase läuft. Ich glaube, ich saß gestern etwas zu lange auf kalten Steinen. Außerdem ist am rechten Fuß die Haut zwischen dem letzten und vorletzten Zehn eingerissen. Ich darf problemlos noch einen Tag bleiben. Danke!

Der Besitzer ist eine lustige Type. Er besteht darauf mich zum nächsten Schrein zu fahren und mich die Neujahrsrituale zu lehren. Er zählt dort auch zahlreiche Einzelheiten der japanischen Pflanzenwelt auf, die mich weniger interessiert, patzt dafür aber bei den Kofun=Gräbern und der rekonstruierten Yayoi=Siedlung, wo er Kofun, Yayoi und Dshōmon11 durcheinanderbringt.

Ältere Menschen genießen in Japan Narrenfreiheit. Als wir danach Kaffee trinken forderte er nicht nur einen jungen Bankangestellten zum Schwanzvergleich auf, da die Unterhaltung im lokalen Dialekt geführt worden war, habe ich keine Ahnung, wie sich das Thema angebahnt hatte, er blättert auch ungeniert in einem Pornoheft, die liegen in allen japanischen Cafes aus, und referiert mit dem Kellner über die Vorzüge der verschiedenen Mädchen. Das ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Jedes Mal, wenn ich von einem Japaner jenseits der Vierzig in ein Cafe mitgenommen werde, beginnt er mit dem Kellner über die Mädchen in den Pornoheften zu debattieren. Ich bin mir nicht sicher, ob es zu egozentrisch gedacht ist, wenn ich annehme, dass sie mir die Leistungsstärke japanischer Frauen demonstrieren wollen, bei einem vielleicht gegenüber vollbusigen blonden Europäerinnen empfundenen Minderwertigkeitskomplex oder ob es einfach normal in Japan ist, sich im Cafe über Frauen in Pornoheften zu unterhalten. Es scheint dabei keine Frage des Charakters zu sein, denn egal ob es sich um den letzten Macho handelt, er hier hat seine Frau mit „Oi, Shinbun!“, also „Ey, [hol mir die] Zeitung“, angeredet, oder er zuhause eher unter ihrer Fuchtel steht, im Cafe sind sie alle gleich. Es ist wohl eine Frage der Einstellung, wie Herr Aufziehvogel Frauen mit sechs Fingern an der Hand akzeptabel findet, Frauen mit vier Brüsten aber nicht: Aus japanischer Sicht bin ich wohl einfach nur verklemmt. Ich muss an Horst Krügers Schilderung schwedischer Sexshops denken, in der auf so wunderbare Weise aus jeder Zeile seine eigene Überforderung triefte – ja, das ist es: Überforderung.

Das andere im anderen als anderes. Was wir wahrnehmen ist immer von uns selbst getrennt, denn wir können uns nicht selbst wahrnehmen ohne uns selbst zu verleugnen, was wir sind können wir nicht wissen, das ist die große Grenze, die uns auf ewig von uns selbst trennt. Der Versuch sich selbst zu analysieren bedeutet sich scheibchenweise zu verstümmeln, sein eigenes Selbst Stück für Stück zu töten, es ärmer machen, es seiner Vielfalt zu berauben – sich ärmer zu machen, sich seiner Vielfalt zu berauben. ..Und sind wir nicht alle ein bisschen tokushima=pornoopa?

 

10Die Koto ist eine dreizehnsaitige Zither.

11Kofun, Yayoi und Dshōmon sind frühe Zeitabschnitte der japanischen Entwicklungsgeschichte, auf die später noch ausführlicher eingegangen wird.

 

 

 

 

Tempel 17

 

Es ist früher Morgen als ich Siebzehn erreiche. Die Sonne hat es noch nicht so ganz über den Horizont geschafft. Tokushima=Stadt ist allem voran eine japanische Stadt. Das europäische Konzept der identitätsstiftenden geschlossenen Siedlung, das sich aus den mittelalterlichen Festen heraus entwickelt hat, lässt sich auf sie nicht anwenden. Japanische Städte sehen eher so aus, als hätte ein Kind seine Spielzeugkiste aus Wut und Trotz mit Wucht auf dem Boden ausgekippt. Es gibt ein irgendwie verdichtetes Zentrum, aber nach außen franst das Gebilde ohne Gnade aus. Der heutige Tag ist eine Prüfung. Japanische Ausfallstraßen sind der Gegenpol zu den Berghängen: einfach zu laufen aber dafür eine Beleidigung für das Auge.

Außer dem Dsuigandshi, einem Tempel im Momoyama=Stil, der aber nichts mit unseren achtundachtzig zu tun hat und einer anderen buddhistischen Schule angehört, und den leckeren Tokushima=Ramen gibt es auch noch die Überreste einer alten Burg im Stadtzentrum, die von der Mēdshi=Regierung geschliffen worden war. Es wird zum Rechtfertigen der landesweiten Feudalburgenvernichtung oft die militärische Absicherung des neuen Regimes angeführt, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Tokugawa=Regierung abgelöst hatte. Doch ist das wenig stichhaltig, denn die Anlagen waren schon bei der Errichtung ihrem Wesen nach Schlösser und ihre Gräben und Mauern trugen eher symbolischen Charakter. Den Waffen der Mēdshi=Zeit hatten diese Bauwerke nichts entgegenzusetzen. Warum also dieses Zerstören? In Japan überlebten die Vernichtungswut ganze zwölf Burgen. Das halbfeudale Vorgängerregime war nicht direkt vom aufstrebenden Bürgertum gestürzt worden, sondern brach unter dem Druck verschiedener Lokalherrscher zusammen. Dieses Chaos machten sich dann Vertreter des sich in den Städten entwickelten Bürgertum zunutze und rissen die Macht an sich. Das Zerstören der Burgen entsprach keiner Notwendigkeit, sondern war Ausdruck des Zentralismus der neuen Herrscherclique. War Japan bis dahin ein Bund sprachlich und kulturell eigenständiger Länder, versuchte die neue Regierung alles, um aus dieser heterogenen Masse eine homogene Einheit zu formen und ihr Machtmonopol unangreifbar zu machen. Dazu gehörte, neben dem Raub ihrer Identität, die symbolische Erniedrigung der von Tōkyō unterworfenen Gebiete mit dem brutalen Vernichten ihrer Kulturdenkmäler. Man kann Parallelen zu Frankreich ziehen, wo ebenfalls das ganze Land seiner Sprachen und seiner Kulturen durch die pariser Eliten beraubt wurde und zu einem riesigen Vorort verkam.

Mit Tokushima=Stadt verlasse ich das Einzugsgebiet des Yoshino und mit Siebzehn schließe ich das „Yoshino=U“, das halbkreisförmige Umwandern des Yoshinotals ab. Viele Pilger laufen nur diese Strecke, sie gilt als der älteste und eigentliche Teil des Pilgerwegs, vor allem die Strecke von Tempel Eins zu Tempel Zehn. Die Bauern dankten auf ihr den Ahnen und den Göttern für die Ernte.

Die ältesten Zeugnisse eines ganz Shikoku umfassenden Pilgerwegs stammen aus dem zwölften Jahrhundert und basieren auf der Ringstraße um Shikoku, die die Randgebiete, „Hentshi“, erschloss, von der sich auch der Begriff Henro ableitet, der Sowohl den Pilgerweg, den Pilger als auch das Pilgern an sich in Shikoku bezeichnet. Die Tempel dienten traditionell der überschaubaren Anzahl an Reisenden als Unterkunft und so entstand das Nützliche aus dem Notwendigen.

Mit der Edo=Zeit, einem Übergangsstadium vom Feudalismus zum Kapitalismus, wurde das Reisen durch das gut ausgebaute Straßennetz immer einfacher, gleichzeitig wurde die Bewegungsfreiheit der Bauern so sehr eingeschränkt, dass Pilgern praktisch den einzigen Grund bildete, für den sie ihren Heimatort verlassen durften. Es war meist das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie ihr Dorf überhaupt verließen.

Es ist warm. Ich laufe im Hemd unter der Sonne. An der Ausfallstraße stehen zahlreiche Polizisten und Menschen mit Winkelementen. Irgendwann kommt mir ein Lautsprecherwagen entgegen, der das jetzt folgende ankündigt, indem er die Gegend mit der Indianerjonesmelodie beschallt: Sieben Schülerinnen im Mittelstufenalter rennen gefolgt von jeweils einem Geländewagen der Streitkräfte die Straße lang. Sie sind durchnummeriert und laufen in der Reihenfolge ihrer Zahlen. Die sie begleitenden Fahrzeuge tragen die gleichen Nummern wie sie. Ein Wettbewerb im eigentlichen Sinne scheint es also nicht zu sein, aber für schlichtes Training ist der Aufwand doch zu groß. Unschlüssig sehe ich das Schauspiel an mir vorbeiziehen.

Ich schreibe das in einem kleinen Cafe, das von einem liebenswürdigen Ehepaar mit gepflegten grauen Haaren betrieben wird. Sie verkaufen hier taiwanesisches Essen, weil sie China so lieben, wie sie sagen. Warum preisen sie es dann nicht als chinesisches Essen an? Ich stelle die Frage nicht, es würde sie nur in Verlegenheit bringen und ich kenne die Antwort: Sie würden es dann wohl nicht verkaufen können. China ist das Feindbild schlechthin im heutigen Japan.

Abends sitze ich zwischen Palmen am Meer. Links von mir dümpeln zwei Schiffe der Küstenwache quietschend an der Mole. Ich liebe das Meer. Der Geruch. Der Klang. Die Wellen. Der Wind. Ach, wenn ich reich wäre und hinziehen könnte wo ich wollte, dann wüsste ich noch nicht in welche Region der Welt es mich endgültig verschlagen würde, aber ich weiß, es wäre in Hör= und Riechweite des Meeres. Die meisten Menschen, die am Meer leben, behandeln es recht stiefmütterlich. Sie scheinen gar nicht zu wissen, was sie an diesem Schatz haben, so wie man manchmal den Wert einer Freundin erst erkennt, wenn man sie vergrault hat. Das Meer lässt sich nicht vergraulen. Es ist so groß und unfassbar. Eine selbstbewusste kilometertiefe schwarze Masse in der Nacht. Ein friedlicher Ozean.

Der kulturelle Einfluss Chinas auf Japan ist allumfassend und für China war Japan später das leuchtende Vorbild einer asiatischen Nation, die sich dem Zugriff der Kolonialmächte entziehen konnte. Es folgte ein wirrer Krieg kopfloser japanischer Militärs mit viel zu vielen toten Chinesen, der in der ersten Etappe wohl als Abschreckung gedacht war, auf Chinesisch sagt man „das Huhn schlachten um den Affen zu schrecken“, China war das Huhn und die Mächte in Übersee waren die Affen, aber schnell in seiner Zielsetzung außer Kontrolle geriet und nur durch die totale Niederlage Japans beendet werden konnte. Chinas Ansprüche auf die Diaojü= beziehungsweise Senkakufelsen heute sind nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber Japan hat Angst einen Präzedenzfall zu schaffen, der dazu führt, dass die chinesische Armee, einmal blutgeleckt, das gleiche mit Japan tut, was Japan mit China tat.

Die japanisch=chinesische Geschichte ist eine Geschichte gegenseitiger Hassliebe. Sie gleicht einem Paar, das eine Zeit lang in meinem Hinterhof gehaust hat. Jeden Abend haben sie sich stundenlang angeschrien um anschließend bis zur Besinnungslosigkeit zu poppen. Bei allen Kabbeleien in diesem seltsamen Kalten Krieg, China ist der wichtigste Außenhandelspartner Japans und Japan ist der zweitwichtigste Außenhandelspartner Chinas, was die Medien beider Länder aber nicht abhält, sich gegenseitig zu verteufeln, die chinesischen folgen dabei einer groben Holzhammermethodik, wogegen die japanischen sich etwas geschickter das Gewand des kritischen Journalismus geben, der tatsächlich sich aber nur gegen China und nie gegen Japan selbst richtet. Fernsehsendern, die regierungskritisch berichten, droht man in Japan offen mit dem Entzug der Sendelizenz, was immer wieder zur Entlassung scharfzüngiger Moderatoren führt, in China ist Kritik an der Regierung über die Mattscheibe völlig undenkbar. Bürgerbewegungen im eigenen Land kommen bei beiden nicht ins Fernsehen.

Ja.. China und Japan gleichen einander, auch wenn keiner der beiden den Vergleich schätzt, in ihrer Staatsstruktur mehr als irgendeinem anderen Land der Erde. Es sind beides Einparteienstaaten (mit kleinen zugelassenen Zierparteien im Orbit) mit einem zentralisierten Bildungssystem, die, dem konfuzianischen Beamtenideal folgend, von einer allmächtigen Verwaltung beherrscht werden, die in Japan fast untrennbar mit der Staatspartei verwachsen ist, in China durch die Partei selbst verkörpert wird. Die Regierungen sind gegenüber dem Verwaltungsapparat machtlos – selbst die Wirtschaft verfügt nur über begrenzten Einfluss.

Osettai=Bilanz des Tages: dreimal Süßigkeiten und einmal Kaffee. Karies ist wohl die größte Bedrohung des Pilgers.

 

Der „Fahnenberg“. Ein Feudalherr hat in irgendeiner Mittelalterschlacht hier eine weiße Fahne gehisst. Gestern Abend war für mich hier ebenfalls Schluss. Verstochen wache ich auf. Womit ich im Januar überhaupt nicht gerechnet habe sind Mücken.

 

 

 

 

Tempel 18

 

Was für ein Gegensatz zur Großstraße gestern. Nach Achtzehn laufe ich durch einen märchenhaften Tunnel in einem haushohen Bambuswald. Sprachlos setze ich bedächtig einen Fuß vor den anderen. Ich halte Andacht. Es ist eine Ehre.

Danach folgt eine enge und unübersichtliche Straße, die keine Bürgersteige hat und die von der örtlichen Bevölkerung als Rennstrecke missbraucht wird. Das Schöne und das Schreckliche liegen in Japan oft eng beieinander. Nach einer Kurve werde ich von Bauarbeitern zum Frühstück eingeladen. Es gibt Tee und Süßigkeiten. Die Mär der gesunden japanischen Ernährung zerfällt, sobald man einmal das Land betreten hat, da mag die Regierung auch noch so viel Geld in ihre Die=Welt=soll=am=japanischen=Essen=gesunden=Kampagnen stecken. Sie arbeiten an einer Autobahn.

 

 

 

 

Tempel 19

 

Was Japan wirklich braucht sind Fußwege und Blitzer, keine Autobahnen. Irgendwie den Tag auf der Straße überlebt. Ich wusste, früher oder später kommt die Sinnfrage, jetzt kommt sie: Warum? Füße tun weh. Autos stressen. Müde. Wolken verdecken die Sonne. Manchmal muss man die Sinnfrage töten, erschlagen, doch mir fehlt die Kraft dazu. Sie ist wie eine Fliege, die einen belauert und nervt und nicht verschwindet.

Eine entgegenkommende Pilgergruppe schenkt mir superleckere Kekse, die „Hamakadse“, also „Strandwind“, heißen. Sie sind hauchdünn, gar nicht süß und schmecken und schmecken. Ein Moment völligen Friedens im Wald unterhalb von Zwanzig. Kein Geräusch. Nur ich selbst. Schlafe auf der Panoramaterasse eines geschlossenen Cafes. Glück braucht keinen Sinn.

 

Düsenjäger durchbrechen die Schallmauer. In Korea habe ich mich schon immer gefragt, ob die das nicht auch irgendwo fern überm Meer mache könnten – beide Staaten leiden daran ja nun wirklich keinen Mangel. Umso mehr genieße ich jetzt die Stille. Aufstieg durch Nacht und Dämmerung.

 

 

 

 

Tempel 20

 

Abstieg in der Morgensonne. Ein steiler Weg. Junger Bambus wiegt sich hin und her. Eine Welt verschiedenster zarter Hellgrüntöne.

Nichts steht auffälliger für die Landflucht als die leeren Schulen. In Japan wurden nie nennenswerte Wohnungsbauprogramme für die Bevölkerung aufgelegt, mit öffentlichen Gebäuden ging man dafür umso großzügiger um und so stehen jetzt in Mitten der niedrigen Holzhütten der Japaner auf dem Land leerstehende, geräumige, architektonisch durchaus ansprechende, weiße Klötze herum wie weiße Elefanten in einer Horde brauner Mungos. Sie sind wohl die Inspirationsquelle der Bügeleisenfabrik in FLCL.12

Nach der Rast an der Schule geht es vorbei an dem skurrilen Schrein einer neuzeitlichen Shintō=Sekte, dessen schrille Farbe abblättert und dessen Garten völlig zugewuchert ist. Die Sekte scheint pleite gegangen zu sein. Es folgt eine schmale unendlich lange Betonbrücke. Kämpfe gegen meine Höhenangst.. Irgendwann auf der anderen Seite. Innerlich tot. In Japan ist alles etwas enger. Das gilt auch für die Brücken. Es kommt ein kleines, zugewachsenes Tal. Wenn ich davon rede, dass in Japan alles einen Tick kleiner ist, so meine ich die Spurweite der Züge, die Wohnungen, die Sitze, Essensportionen und vieles andere. Die Straße durch das Tal ist gerade einmal einen guten Meter breit, dennoch führen auf ihr parallele Autospuren bis zu ihrem Ende. Diese Miniaturtendenz trägt zum Märchenlandgefühl der satten, feuchten Natur bei. Ich wäre nicht überrascht, wenn mir plötzlich eine Arbeitsbrigade Zwerge oder eine Fee entgegenkäme.

 

12FLCL ist eine legendäre Comicreihe über eine von einer Bügeleisenfabrik beherrschte Kleinstadt.

 

 

 

 

Tempel 21

 

Die letzte Bergwand für heute bezwungen. Einundzwanzig ist einer der wenigen Tempel, die in den Schriften Kōbōs tatsächlich erwähnt werden und sehr beliebt. Und auch an Geld scheint es hier nicht zu mangeln; alles ist frisch renoviert, umgeben von einer aufwendigen Gartenanlage mit Tierbesatz und für die faulen gibt es sogar eine eigene Seilbahn ins Tal. Ein buddhistischer Vergnügungspark. Was für ein Gegensatz zu Zwanzig.

Eine ältere Dame fragt mich, ob ich mich verlaufen habe, da ich den Weg doch schon gestern gegangen sei. Bin verunsichert. Weiß nicht was ich sagen soll. Ich war hier noch nie. Grübelnd gehe ich weiter.

Bei Asebi mache ich in einer Hütte rast. Zwei nette, gutaussehende Frauen machen Pause nach der Rückfahrt von einem Ausflug. Sie arbeiten in einer Bank und sind vom Typ, der mich quasi adoptiert und luxuriös neu eingekleidet hätte, wäre ich ein Charakter in einem Buch Murakamis. Ich bin es aber nicht und so bleibt es beim Smalltalk. Ich hätte es wohl auch nicht zu schätzen gewusst. Von den Markennamen, die es Murakami liebt seitenweise aufzuzählen, kannte ich die wenigsten. Wenn ich auf das Jahrzehnt zurückblicke, in dem ich geboren wurde, dann denke ich an Punk, Nofuture und Rüstungswettlauf. Murakamis Achtziger dagegen spielen in einer konsumvernarrten, betäubt=reflexionslosen Gegenwelt, von deren Existenz ich erst durch ihn erfuhr.

Seit zwei Tagen ist der Himmel grau. Die Wolken lassen keine Sonne durch. In Berlin kann diese Wetterlage im Winter wochenlang anhalten und zusammen mit den kurzen Tagen einem ernsthaft aufs Gemüt schlagen. Auch davor wollte ich eigentlich fliehen. Als ich den Zweiundzwanzig zu Gesicht bekomme, ist es bereits stockdunkel. In Erlösermanier leuchtet er angestrahlt in die Nacht hinaus.

 

 

 

 

Tempel 22

 

Die Wintersonne strahlt. Ein scharfer Nordwind bläst. Die Wipfel der langen Büschelgräser wiegen sich hin und her. Mit ernster Miene schreite ich fort – Ogami ist wieder unterwegs.

Es wurde heute ein sehr entspannter Weg. Bis zur Bundesstraße Fünfundfünfzig gab es so gut wie keinen Verkehr und auf ihr kam nach einem Kilometer das fertige Autobahnteilstück und ab da hatte ich auch die Bundesstraße für mich. Das ist normalerweise nicht so. Autobahnen sind in Japan gebührenpflichtig, sodass die Meisten auf die Bundesstraßen ausweichen, wenn eine gut ausgebaute, wie diese, parallel läuft, doch die Betreiberfirmen lassen die Menschen die fertigen Abschnitte kostenlos nutzen, gewissermaßen zum Eingewöhnen, bis sie ans Netz angeschlossen sind, dann wird Geld verlangt, ähnlich den Probeabos der Zeitungen. Einen Kilometer weiter stand ich vor der Entscheidung links Richtung Meer abzubiegen, der Vorteil wäre hier vor allem das Meer, aber ich entschied mich für den Weg geradeaus. Es gibt keine monokausalen Ereignisse und so ist, neben dem Genuss eine so breite Straße für sich zu haben, spätestens mit dem Anschluss des Autobahnteilstücks wird das nie wieder möglich sein, auch mein Hunger ein Grund. Laut Karte befindet sich in dieser Richtung in drei Kilometer Entfernung ein Restaurant. Richtung Meer sind es fünf, über den Berg. Seit dem Morgen hatte ich nichts mehr gegessen. Es hatte keinen Supermarkt und kein Restaurant auf dem Weg gegeben.. Ich hätte es mir denken können, doch ich hatte es mir nicht gedacht: Alle Bundesstraßenrestaurants lagen verlassen am Straßenrand. Pleite gegangen. Eines der geschlossenen Geisterhäuser hat die Form eines großen Schiffes, gestrandet im Nirgendwo. Es fuhr hier ja auch niemand mehr lang. Die Kundschaft wird wiederkommen sobald die Autobahn fertig ist und Gebühren kostet, aber wie sollen die Kleinunternehmer die Zeit überbrücken? Diese sinnlosen Infrastrukturprojekte richten oft mehr Schaden an, als sie wirtschaftlichen Nutzen bringen. Zugewuchert klagen die leeren Scheiben der leeren Läden ihr Leid auf die leere Straße. Alle bis auf einen kurz vor Dreiundzwanzig – es ging bereits dem Abend entgegen. Der Besitzer las gerade einen Roman und schreckte völlig überrascht hoch, als ich hereinkam. Er hatte auch nur ein Gericht im Angebot: Karēraisu.13 Nun denn, Karēraisu soll es sein!

 

13Karēraisu steht für „Curryrice“, hat mit Curry aber recht wenig gemein und ähnelt eher einem milden Gulasch.

 

 

 

 

Tempel 23

 

Am Meer sitzen. Vor mir das sanfte Rauschen der Wellen des Stillen Ozeans. Kieselstrand. Sonne. Wind. Ich liebe die See. Ich liebe den Pazifik. Was für eine ungeheure Wassermasse. Sprachlos sitze ich auf großen Baumstämmen. Treibgut.

Früh morgens war ich beim Tempel gewesen, wo bereits großer Betrieb herrschte, dann war ich meinem Weg weiter eine Panoramastraße gelaufen. Die vielen Palmen ließen mich an Malta und Kreta Kano denken. Ich hatte als Kind mal in einem Bildband mit Palmen, Siebzigerjahreautos und Frauen mit Vinylhüten geblättert und diese Assoziation hat sich einfach festgesetzt. Als ich die Aufziehvogelaufzeichnungen zum ersten Mal las, musste ich bei den beiden Charakteren sofort an Palmen und Siebzigerjahreautos denken. Es gab nie ein anderes Palmen=Schlüsselerlebnis, das diese Information überschreiben hätte können.

Der Weg bog etwa auf der Hälfte der Strecke nach Mugi zur Küste hinunter von der Sanrain=Panoramastraße ab, ab da versperrten Erdrutsche den Weg, aber mit etwas klettern habe ich es geschafft: Ich saß am Meer..

Schmerz ist immer eine sehr intensive Erfahrung. Alles wird egal. Es gibt nur noch den Schmerz. Ich war bis zum Bangai=Tempel Vier14 gelaufen, da man hier umsonst übernachten konnte, das ist, wenn man ein Zelt hat, nichts besonderes, aber ich hatte gehofft hier auch eine Dusche vorzufinden. Nun, ich hoffte vergeblich. Ich will nicht undankbar erscheinen, das Zimmer war sauber und die Tatami noch relativ neu. Doch der Schmerz. Der Schmerz in den Füßen macht alles zu Lug und Trug und Schein.

 

Es war eine kalte Nacht. Morgens am Strand mit einer warmen Dose Kakao in der Sonne sitzen. Die Getränkeautomaten sind ein Segen. Früher wurde in ihnen alles gekühlt und ab einem bestimmten Zeitpunkt alles gewärmt, selbst das Mineralwasser. Inzwischen wird nur noch knapp die Hälfte der Getränke im Winter gewärmt. Ohne die Getränkeautomaten als zuverlässigen Energielieferanten hätte ich wohl manche Strecke nicht geschafft. Zu meiner Überraschung gibt es nämlich in Shikoku tatsächlich Gegenden ohne Konbini, die kleinen Bequemlichkeitsspätkaufsupermärkte, die sonst wie die Pocken das Antlitz Japans überziehen. Glück ist ein warmer Kakao.

Laufe an Fischerdörfern vorbei und aus einer Schule dröhnt ein Orchester. Vor allem die Tuba ist sehr dominant. Muss an den Film „Swing Girls“ denken. Ich stell mir vor, wie die Truppe da drin übt. Manchmal gibt es Filme, die sind untrennbar mit einem Mädchen verbunden. Sie hat den Film geliebt und mich, als ich auf die Frage, welches der Mädchen ich am süßesten fand, mit „die mit der Brille“ antwortete, als „ettshi“, also „pervers“ bezeichnet. Ettshi, der englischen Aussprache des Buchstabens H folgend, wird, vom Anfangsbuchstaben in der lateinischen Umschrift abgeleitet, als Synonym für das japanische Wort „hentai“, also „pervers“, gebraucht und war zwischen uns zum geflügelten Wort geworden, da unsere Vorlieben doch manchmal voneinander abwichen und beim jeweils andern einer Gewöhnungszeit bedurften. ..Eigentlich war die dicke Schlagzeugerin auch sehr süß gewesen, aber jede Antwort, außer der Hauptdarstellerin, mit der sie sich voll identifizierte, wäre wohl eine falsche, also perverse Antwort gewesen.

Ein Mensch mit US=Migrationshintergrund hat sich mal darüber beschwert, dass die Japaner für negative Dinge am liebsten ausländische Begriffe benutzen statt japanische, als wenn diese Dinge erst durchs Ausland zu ihnen gekommen seien. Neben dem Ettshi ist auch das Rēpu auffällig, das als Lesung des Kandshikomposita15, also der Sinnschriftzeichen, für Vergewaltigung benutzt wird und dessen neuartige Aussprache sich vom englischen „Rape“ ableitet. Das Kandshikomposita selbst ist wesentlich älter. Tatsächlich finden sich sinnlose Anglizismen aber überall in der Sprache vom „Raisu“ für Reis (von „Rice“) bis hin zu Lesung „Kosumo“ (von „Cosmo“) für das Kandshikomposita für Weltraum. Englisch gilt immer noch als angesagt und deswegen ist es auch schwierig für englische Fremdwörter in Murakamitexten auch im Deutschen englisch Fremdwörter zu benutzen, da ihre Konnotation dort eine völlig andere ist. Im Deutschen benutzt man englische Fremdwörter oft ironisch und sie verbreiten sonst, besonders wenn sie gehäuft auftreten, die Aura des halbgebildeten Tölpels, der es nicht versteht, sich besser auszudrücken. Es ist nicht so, dass es keinen Antiamerikanismus in Japan gäbe, doch ist er viel schwächer als in Europa. Aber auch noch ein anderes Problem tut sich bei der Übertragung von Murakamitexten in andere Sprachen auf, das der Bedeutungsverschiebung übernommener Fremdwörter. Während „Affäre“ zum Beispiel im Deutschen in der Regel lediglich eine kurzzeitige sexuelle Zusammenkunft darstellt, bedeutet dieser Begriff im Englischen immer, dass eine oder beide beteiligten Personen dies hinter dem Rücken ihrer „eigentlichen“ Partner getan haben, im Französischen aber lediglich „Angelegenheit“. Weiter Beispiele wären „Mail“, „Rendezvous“ oder „Datsche“. Auch in Murakamitexten gibt es diese Bedeutungsverschiebungen bei übernommenen Fremdwörtern und gerade wegen des starken Gebrauchs englischer Fremdwörter in Murakamis Texten besteht die ständige Gefahr direkter und damit falscher Übertragungen. Wenn Ōe, auf ihn geh ich später noch ausführlich ein, beklagt, dass man Murakamis Schriften problemlos ins Englische übersetzen kann, so hat er unrecht.

Ich erreiche das Nasa=Bad. Hier wurde keine us=amerikanische Weltraumtechnologie eingebaut, oder doch? Allein im heißen Wasser blicke ich hinab aufs Meer. Vom Berg aus betrachtet scheint es die kleine Landzunge zu überragen, als wenn eine riesige Welle angerollt käme. Die Erdkrümmung macht den Effekt.. Die Wahrscheinlichkeit auf dem Pilgerweg von einem Auto erfasst zu werden ist aber weitaus größer als die Gefahren durch Tsunamis.

Nach dem Nasa=Bad gehts frisch und erholt weiter. Kinder beklettern ein großes Schiffsmodell und die Eltern hocken unter einem Baum und scheinen sich zu freuen, dass die Kinder sich freuen. Spacelabs fallen auf Inseln. Nudelsuppen mampfen. Es geht voran.

Erschöpfung. Eine Möwenbrücke. Es wird dunkel. Suche nach einem Zeltplatz.

 

14Bangai=Tempel sind Tempel entlang des Weges, die zwar auch Kōbōs Shingon=Schule angehören, aber es nicht in die Achtundachtzigerliste geschafft haben.

15Kandshi ist der Name der aus China übernommenen Sinnschriftzeichen Japans. Nicht zu verwechseln mit den beiden Lautschriftsystemen Hiragana und Katakana.

 

 

 

 

Nachts ist es kälter als draußen

 

Ein kleiner Exkurs zu den Übernachtungsmöglichkeiten. Es gibt zahlreche Hütten und kostenlose Übernachtungsangebote für Pilger durch Tempel und Privatpersonen. Ihre Anzahl ändert sich ständig und sollte zeitnah vor Reisantritt geprüft werden. Auch gibt es sie nicht überall und ist man in ihnen oft dem Terror des gemeinen Krawallschnarchers ausgesetzt. Deswegen hier ein paar Alternativen..

Die Bahnhöfe. In den kleinen Bahnhofshallen auf dem Land kann man zwischen dem letzten und dem ersten Zug problemlos schlafen. Windgeschützt. Trocken. Sie sind allerdings oft sehr schmutzig und die Klos teilweise abstoßend, doch besser als nichts, wenn die eigenen Kräfte die Suche nach etwas anderem nicht mehr zulassen. Achtet aber auf die Fahrpläne. Auch wenn ihr keine japanischen Schriftzeichen beherrscht, könnt ihr an der Tabelle ablesen wie viele Züge an= und abfahren, dementsprechend ruhig oder eben auch nicht wird eure Nacht werden. An keinem der Bahnhöfe im Verwaltungsbezirk Takamatsu kann das Übernachten empfohlen werden.

Parkhütten. Die meisten japanischen Grünanlagen, seien sie auch noch so klein, sind mit überdachten Hütten versehen. Die Dächer taugen wohl wunderbar als Sonnenschutz, aber bereits bei nur schwachem Wind wird der Regen in die wandlosen Unterschlupfe hineingetragen, bei Schnee könnte man seinen Schlafsack auch genauso gut auf einer Parkbank ausrollen.

Die Klos. Es gibt eine Unzahl öffentlicher Bedürfnisanstalten in Japan, sie wurden mir von mehreren Leuten zum Übernachten empfohlen. In ihnen ist man wohl wunderbar vor jedweder Witterung geschützt. Ja.. Es eine Frage der Überwindung. Ich habe es nicht getan.

Die Shintō=Schreine. Manche von ihnen haben ausladende Holzdächer und eignen sich auch mit ihren Holzterrassen wunderbar zum Übernachten. Das waren die schönsten Nächte auf dem Weg. Allerdings eben nur manche. Findet man einen solchen sollte man die Möglichkeit nutzen.

Zelten. Nachts am Strand zu zelten ist großartig. Im Rauschen der Wellen einzuschlafen ist durch nichts zu schlagen. Aber Vorsicht mit der Flut! Zelte am besten erst hinter der Grasnarbe aufschlagen oder es kann nass werden. In der Regel wird man aber Wach, wenn die ersten Wellen einen erreichen. Es besteht also keine Lebensgefahr, sollte man mal zu nah am Wasser sein Zelt aufgeschlagen haben, es ist nur unangenehm. Vor abgeernteten Reisfeldern ist immer abzuraten. So verlockend sie auch daliegen, so sind sie auch lange nach dem Ablassen des Wassers noch sehr feucht und auch bei dickem Zeltboden wird es eine kalte Nacht werden. Beim Zelten sollte man grundsätzlich die hohe Luftfeuchtigkeit in Japan beachten. Das heißt, der Schlafsack muss innen trocken bleiben, auch wenn er durch Tautropfen vom Zeltdach außen klatschnass ist. Alles was keine Feuchtigkeit verträgt, also zum Beispiel Arzneipulver, Brausepulver, Kaffeepulver, Bücher, Unterlagen und so weiter, sollte nochmal zusätzlich durch einen Gefrierbeutel geschützt werden. Selbst wenn man vorhat die Bücher eh nach dem Lesen wegzuwerfen, lassen sie sich doch im feuchten Zustand weit schlechter lesen. Generell gilt es beim Reisen nur Bücher mitzunehmen, die auch kaputt gehen dürfen. Die Erstausgabe von Ernst Ottwalt wäre einfach zu schade.

Die japanische Natur ist extrem. Wenn eine Betonfläche nicht genutzt wird, wuchert sie einfach zu und schwuppdiwupp hat sich eine vier Zentimeter dicke Humusschicht auf ihr gebildet, die sie völlig überdeckt. Es ist frustrierend zu versuchen, auf solchen Flächen Heringe einzuschlagen. Gerade die einladensten Flächen sind in Japan daher mit Vorsicht zu genießen. Am besten einen Hering in der Tasche haben und probeweise versuchen ihn einzuschlagen, geht er an drei Stellen nicht in die Erde, so hat man es mal wieder mit einem überwucherten Parkplatz oder den Fundamenten eines Abrisshauses zu tun und kann sich das Zeltauspacken sparen.

Das gegenteilige Problem hat man auf Baustellen, deren Bausande viel zu weich sind, als dass die Heringe Halt finden. Da geeignete Flächen in Japan sowieso rar sind kann das abendliche Suchen im abgekämpften Zustand Nerven kosten. Ansonsten gelten die Regeln des gesunden Menschenverstandes: Kein Feuer im Zelt. Und wenn es draußen zu sehr regnet, dann muss man halt kalt zu Abend essen.

Ohne Dach über dem Kopf kann es aber leider sehr feucht werden, leider oft auch dann, wenn der klare Sternenhimmel scheinbar das Gegenteil verspricht.

Mögliche Gefahren. Später im Buch kommt ein Kanadier vor, sein Stock war etwas angekokelt weil ihm beim Zelten ein Rudel Wildschweine umstellt hat, die er vertrieb, indem er ein Synthetik=T=Shirt um seinen Stab wickelte und ihn als Fackel nutzte. Wildschweine sind die größte, weil eigentlich einzige „natürliche“ Gefahr auf dem Weg. Ich bin aber keinem einzigen begegnet. Das einzige wilde Schwein, das mir je unterkam war eine Wildsau, die mir an der Krummen Lanke vors Fahrrad lief. Das schmerzhafte war – für mich – nur der Aufprall auf dem Boden. Das Viech selbst verschwand quiekend im Gestrüpp. Die allgegenwärtigen Wildschweinwarnschilder deuten aber doch darauf hin, dass der Kanadier nicht als einziger mit ihnen Bekanntschaft machte. Es gilt, falls man ein Rudel mit Frischlingen trifft, nie die Schweine direkt ansehen, ihnen aber auch nicht den Rücken zuwenden und langsam sich rückwärts entfernen. Das bringt ein Minimum an Provokation bei einem Maximum an Angst. Natürlich kann man es auch so wie der Kanadier machen.

Wenn die Bullen kommen, sollte man sich dumm stellen. Im Gegensatz zur BRD wird das hier nicht als Provokation, sondern als Kooperationswillen interpretiert und so sollte man sich überrascht geben, wenn man von der Streife darauf hingewiesen wird, dass Wildzelten verboten ist: „Ach, wirklich? Das wusste ich ja gar nicht.“ „Dann ist ja gut, dass ich sie unterrichtet habe.“ „Ja, vielen Dank.“ Dadurch, dass man sich dumm stellt ordnet man sich unter und zeigt dem Höherstehenden gegenüber kindliche Pietät im konfuzianischen Sinne. In der Regel endet das alles auch mit der Personalienfeststellung vor Ort und dem Hinweis, dass man doch bitte ein Hotel aufsuchen solle. Er ist kein Vollidiot, er weiß, dass du nicht zelten würdest, wenn du die Möglichkeit hättest jede Nacht in einer Herberge zu schlafen, aber er wurde nun mal von irgendeinem Anwohner gerufen und macht seine Arbeit. Packe deinen Kram zusammen und zieh weiter, dann ist er zufrieden und kann dich in Ruhe lassen. Nach zwei Kilometern baust du das Zelt wieder auf.

Es ist in Japan äußerst wichtig, dass alle Seiten ihr Gesicht waren und solange man sich an die Regeln hält machen die Spielchen sogar manchmal Spaß. Ich war die ersten Male in Japan auch immer wieder geschockt von dem Dauergelüge in der japanischen Kultur und manchmal fällt es mir auch heute noch schwer ruhig zu bleiben, wenn mir absolut offensichtlich und dreist ins Gesicht gelogen wird und der Lügende dabei nicht den kleinsten Funken Scham aufzubringen scheint, aber das hat auch manchmal gute Seiten und die sollte man nutzen. Wer einem ins Gesicht lügt in Japan tut das in der Regel auch um dir das Gesicht zu waren. Man gewöhnt sich an die Lügenkultur und man sollte versuchen sie zum eigenen Vorteil zu nutzen, aus mir selbst heraus bejahen kann ich sie aber auch nach all den Jahren noch nicht – ich bin kein Japaner.

Allgemein und in allen Situationen gilt: Egal wie schikanös es euch erscheinen mag, bleibt immer freundlich, egal was euch passiert. Das kostet oft Überwindung, macht sich aber langfristig immer bezahlt. Man muss keine schauspielerischen Höchstleistungen erbringen, gerade wenn das Gegenüber merkt, dass man sich mühe gibt, wird es dies umso mehr zu würdigen wissen.

Außer Wildschweinen und Bullen gibt es auch noch den Wels, das Tier, das in der japanischen Mythologie für die Erdbeben verantwortlich ist.16 Erdbeben sind eine häufige Erscheinung und nur weil es mal ein bisschen wackelt besteht kein Grund aus dem Haus zu rennen. Alles in Japan ist auf Erdbeben ausgelegt. Sollte es tatsächlich heftiger werden begebt euch in die Raummitte und, so vorhanden, unter den Tisch. Bei der ersten sich bietenden Wackelpause geht man dann auf die Straße und entfernt sich von den Häusern, um nicht von Dachziegeln erschlagen zu werden.

Seid ihr draußen weit weg aller Häuser, besteht kein Grund zu Vorsichtsmaßnahmen. Setzt euch einfach hin, wenn die Stöße zu stark werden, so werdet ihr nicht umgeworfen.

Tsunami sind sehr selten. An der Pazifikseite Shikokus gilt trotzdem: Sollte es eine Lautsprecherdurchsage geben und ihr versteht sie nicht, aber alle verlassen auf einmal den Strand oder ihr seid allein am Strand und es hat vorher ein Erdbeben gegeben und es folgt eine sich wiederholende Durchsage oder die Dauerdurchsage will auch nach fünfzehn Minuten nicht aufhören, denn geht zum nächsten Hügel und wartet da ne Weile. Die Dauerdurchsage wird weitergehen bis Entwarnung gegeben wird.

Japan ist ein sehr, sehr sicheres Land. Auch Frauen können hier problemlos alleine reisen und zelten.

Ich würde euch gerne noch irgendwas raten, was euch Sicherheit beim Latschen am Straßenrand verschafft, aber außer Beten fällt mir da auch nichts ein..

 

16Wohl weil die Tiere auf die vor Erdstößen auftretenden elektromagnetischen Felder äußerst sensibel reagieren und verrücktspielen.

 

 

 

 

In der Morgensonne an einem Getränkeautomaten auf einer Bank. Ich habe den Verwaltungsbezirk Tokushima hinter mir gelassen. Zeit eine erste Bilanz zu ziehen.

Ein mich überraschendes Erlebnis: Die Frau von der Unterkunft bei Zweiundzwanzig. Nachdem man eine Stunde Kartoffeln sortiert hat darf man in die versüffte Unterkunft, wo es keine Seife und kein Klopapier gibt. Sehr erstaunlich, da es genau dieses Zeug ist, das Reisende gerne überall liegenlassen. Ich hab noch keine Jugendherberge erlebt, die nicht vor Duschgels und ähnlichen Kram übergequollen wäre. Als ich mir die Udon=Packung machen will, die ich von der Frau als „Osettai“ bekommen hatte, muss ich feststellen, dass sich keine Kartusche im Gasherd befindet. Die Gasleitung des anderen Herdes wurde gekappt. Als ich der Frau das sage, bietet sie mir an, eine neue Kartusche bei ihr zu kaufen und da wird mir klar, warum der übliche Kram fehlt: Sie sammelt ihn ein. Sie sammelt ihn ein, damit die Leute sich in ihrem Laden eindecken. Ich gebe ihr die Udon=Packung zurück und sie sieht mich mit großen Augen an. Aus ihrer Sicht bin ich wohl undankbar. Was an ihrer Tour prinzipiell falsch ist, versteht sie wohl nicht. Dass man für die Dusche bezahlen musste war in Ordnung, immerhin gab es eine, aber wenn sie will, dass man in ihrem Laden einkauft, dann soll sie es im Vornherein sagen und nicht so hinterrücks abziehen.

Ein seltsames Erlebnis: Der Typ, der mir, ungefragt, erzählt hat, dass er die germanische Rasse für die intelligenteste der Welt hält. War ihm klar, was diese Aussage in letzter Konsequenz für ihn selbst bedeutete? Ja.. Wenn ich über Sonderlinge, wie ihn, schreibe, bekomme ich oft zu hören, was Japan denn für ein Freakreich sein müsse. Das ist es nicht. Es macht nur wesentlich mehr Spaß über die Abgedrehten zu schreiben als über die Normalos. Es ist ja auch nicht so, dass an Freaks, auch wenn es im Moment einer weniger ist, in Berlin ein ernster Mangel herrschen würde. Es gibt aber natürlich die Fälle der kulturbedingten Sonderbarkeiten, wie Brasilianer, die beim Duschen pinkeln oder Völker, die sich Teile ihrer Fortpflanzungsorgane tätowieren oder entfernen letztendlich sind wir wohl alle Freaks und damit schrecklich normal.

Eine Herausforderung: Der Tunnel hinter Mugi, kurz vor Bangai Vier. Bis dahin hatten alle Tunnel einen Bürgersteig oder waren kaum befahren. Dieser Tunnel war anders. Wenn ich nicht völlig kaputt gewesen wäre, wäre ich wohl in ihm verrückt geworden.

Ein schönes Erlebnis: Sitzen am Pazifik.

Kōtshi. Komme was da wolle. In Kannoura findet am Strand ein kleines Matsuri, ein Dorffest statt. Man hat aus den traditionellen Neujahrsdekorationen an den Haustüren, ähnlich den Tannenzweigen zu Weihnachten in Deutschland, die die Götter zu Neujahr mit an den Familientisch einladen sollen, hohe Maibäume gebastelt, die, wie mir gesagt wird, am Fünfzehnten angezündet und die Götter damit feierlich wieder in die Berge verabschiedet werden. In seinem Ursprung handelt es sich beim japanischen Neujahr um ein ähnliches Frühlings= und Fruchtbarkeitsfest wie Ostern oder die Maifeiern, doch verschob sich Neujahr durch die Einführung des westlichen Kalenders. Die Feuer am Strand müssen schön sein, doch kann ich nicht bis zum Fünfzehnten bleiben.

Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich tagsüber im Hemd unterwegs bin. Es ist Winter. Vielen Tunneln an der Küstenstraße kann man entgehen, indem man kleine Umwege läuft, das ist dann meistens die alte Route. Auch vor dem ersten Tunnel hinter Kannoura befindet sich so ein Abzweig und tatsächlich scheint er, laut Karte, nach dem Tunnel wieder auf die Hauptstrecke zu führen. Scheinbar.. Marx sprach davon, dass wenn Schein und Wesen identisch wären, man keine Wissenschaft bräuchte, kurz: ich musste feststellen, dass beide Strecken zwar recht nah wieder zusammenführen, aber durch ungefähr zweihundert Meter Höhenunterschied voneinander getrennt wurden. Die Straße steigt auch noch weiter an. Zahlreiche Abzweige führen durch die Orangenplantagen talwärts, doch es sind alles Sackgassen. Wer kühn meint durch die lichten Plantagen querfeldein laufen zu können, wird seiner Tollkühnheit belehrt: die Plantagen nutzen das Mikroklima einer bestimmten Höhe, unterhalb beginnt die undurchdringliche japanische Wildnis und man darf sich seinen Weg zurück erklettern. Das Wesen dieser Klettertour, die Bedeutung für den Menschen, mich, ist, dass der materielle Faktor Hang und Vegetation und der Schein der Plan, auf dem das Land zum Schein plan ist, ist. Ich hoffe, ich konnte mit diesem zerklüfteten Horrorsatz die Anstrengungen, die ich hinter mir habe, veranschaulichen. Die Freude im Gesicht der Bauern auf ihren kleinen Raupenfahrzeugen, als sie mein fassungsloses Gesicht bei der Nachricht, dass ich den Hang zuerst wieder zu erklettern habe um dann wieder hinten hinunter zurück zur Tunneleinfahrt zu laufen, sehen, ist unendlich. Manchmal ist auch Schadenfreude ansteckend und als ich über mich selbst lachen muss schenkt mir eine Bäuerin noch sechs Orangen als Osettai. Die Plantagen sind durchzogen von einem Netz aus kleinen Einschienenbahnen zum Abtransport der Ernte. Die gibt es auch in anderen Teilen des Landes, doch noch nie habe ich ein so großes Netz gesehen. Als ich mich den steilen Berg wieder hochgekämpft hatte, ist mir klar, dass man von niemandem erwarten kann, die Ernte den Weg zu schleppen.

Von hier oben hat man einen wunderbaren Ausblick aufs Meer. Sechs Schiffe am Horizont. Es wirkt als ob sie genau den Kamm entlangführen, als wenn dort die Kante läge, hinter der die Figuren wie beim Puppentheater hin und her geschoben werden.

Als ich über den Weg zurück unten am Strand angelangt war, war klar, dass ich heute nicht mehr weit kommen würde. Lesend verbrachte ich den Tag in der Sonne und beobachtete frustrierte Surfer, die bäuchlings auf ihren Brettern im Wasser trieben und auf Wellen warteten, die nicht kommen wollten. Eins ließ sich schon mal über Kōtshi sagen: die Orangen waren weit besser als in Tokushima. Am Ende landete ich nicht weit vom Strand in einem Tsūyadō, einer der kostenlosen Tempelunterkünfte für Pilger eines weiteren Bangai in Tōyō. Das Tempelgelände sieht aus wie der vollgemüllte Vorgarten eines schrulligen Sammlers. Zwischen den obligatorischen Heiligen stehen Froschskulpturen aus Kinderserien, Spielzeugschildkröten, Konzernmaskottchen und alle möglichen anderen Figuren und Krimskrams, den andere vermutlich aussortiert haben oder hätten. Dazwischen auf einem Gartenstuhl der Mönch, der hier lebt und ebenso schrullig ist, wie sein Garten. Ich darf hier nicht nur kostenlos übernachten, sondern auch duschen, wäschewaschen und zu meinem Glück hat er sogar einen Trockner. Natürlich geht diesem Tempel eine größere Spende zu.

 

Aufbruch im Morgengrauen. Die Strecke ab Tōyō hat etwas sehr meditatives. Links der Straße der Ozean. Rechts der Straße der Berghang. Am Himmel dicke, tiefhängende Wolken, die meiner sonnengegerbten Haut Erholung verschaffen. Der Hang verschwindet in den Wolken, sodass ich mich fühle wie in einer riesigen Schachtel. Der Tiger, der in seinem Käfig seine Runden dreht. So geht es Kilometer für Kilometer geradeaus.

Hinzu kommt, dass ich seit gestern nichts richtiges mehr gegessen habe. Die einzige Möglichkeit morgens etwas zu Essen zu bekommen ist in Japan der Konbini, doch beim letzten Konbini gestern war das Dach eingefallen. Auch die Eisenbahnstrecke, die mich seit Tokushima=Stadt begleitete, verschwand gestern. Ich nähere mich dem Ende der Welt und singe im Takt meiner Schritte abwechselnd „Huka=Tschaka=Töff“ von Eisenpimmel und „Das Lied der Partei“ von Fürnberg. Nach der Psychoanalyselehre singt der, der nachts singt um seine Angst vor der Nacht zu verdrängen, warum singt der, der tagsüber singt? Und muss man nachts das Singen einstellen um sich zu beweisen, dass man keine Angst hat? Ist dann nicht der, der nachts nicht singt, der eigentlich ängstliche? Ich hatte keine Freudianer als Freunde, die ich fragen konnte, denn alle, die ich in meinem Leben getroffen hatte, waren Vertreter eines arroganten Machtmenschentypus, der mir sehr unsympathisch ist. Was nicht heißen soll, dass alle Anhänger der Freudlehre Arschlöcher sind, nur dass ich bisher niemanden getroffen hatte, der es nicht war.

Manchmal gibt es solche Landschaften, die, in scheinbarer Perfektion, nicht von dieser Welt zu sein scheinen, die wirken als entsprängen sie einer errechneten Simulation, einem algorithmischen Traum. Der Weg zum Kap unterhalb der Steilküste hatte diesen Moment der Unwahrheit. Nun war er wieder da – der Zweifel an der Echtheit, die Straße war einfach zu sauber ..und zu neu ..und zu leer, die Wälder waren einfach zu geschlossen und zu grün und zu gleichmäßig und die Berge waren einfach zu glatt und zu regelmäßig gestaffelt und zu gleichmäßig hoch. Ja und der Himmel und die Wolken.. Konnten denn Wolkenschatten wirklich so scharfkantig über den Boden ziehen? Als wenn die Wolken selbst nur Abbilder der hellen und dunklen Kuhflecken wären, die den Erdboden überzogen. Durchzogen. Durchwanderten.

Der Mann mit dem dunkelgrauen Rollkoffer. Er kam aus der Ferne. Ein dunkler Punkt, der immer größer wurde, aber dann auch nicht viel größer. Es war ein kleiner rundlicher Mann, der bereits den größten Teil seiner Haare verloren hatte und eine altmodische Brille trug. Freudig fragte er mich, ob ich auch pilgern würde und strahlte noch mehr, als ich es bejate. Er erzählte, er sei in Kōtshi=Stadt gestartet und laufe jetzt den Weg gegen den Uhrzeigersinn. Ein Teufel, denke ich, die Hörner würden auch eigentlich ganz gut auf seinen kahlen Schädel passen. Ich kucke seinen Koffer an und frage, ob der das denn mitmachen würde. „Klar“, sagt er, „den habe ich auch schon in Spanien benutzt.“ Seit ihn die Marine in den Ruhestand versetzte, laufe er die Pilgerwege der Welt ab. Ich wünsche ihm viel Glück und meine, dass man sich ja dann auf der anderen Seite der Insel nochmal begegnet, glaube aber nicht wirklich, dass sein Koffer noch lange durchhält. „Ja“, sagt er mit entschlossenem Blick aufs Meer, „ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!“, zieht mit einem energischen Griff an seinem Koffer und geht mit strammen Schritten los. Das Schrammen des schleifenden Koffers wird langsam hinter mir leiser.

Ich komme nach Sakihama und spüre die Zivilisation. Drei Supermärkte, drei Restaurants, zwei Kneipen, ein Getränkemarkt und ein Elektrofachgeschäft. Sakihama – eine Stadt von Welt. Was Sakihama nicht hat, das braucht der Mensch nicht.

Hinter drei Felsen, die sich vom Berg ins Meer hinein abspreizen stelle ich mein Zelt zwischen mannshohen Gräsern auf, direkt hinter dem Tsunami=Schutzwall. Ein weiterer Pilger kommt dazu, beglückwünscht mich zu der guten Stelle und bedauert selbst kein Zelt dabeizuhaben. Dafür muss er es auch nicht schleppen. So praktisch es auch ist, in den Füßen spürt man abends die zusätzlichen eineinhalb Kilo schon. Nachts höre ich die Brandung. Ich bin glücklich. Die Psychoanalytiker würden jetzt sagen, ich sage ich sei glücklich, da ich nicht glücklich bin, müsste ich jetzt sagen, ich bin unglücklich um mein Glück auszudrücken, ähnlich einem Kretaner, der lügen müsste um die Wahrheit zu sagen? Aber er kann es ja nicht, denn er ist ein Lügner. Man kann den Projektionen der anderen nicht entgehen – der Aufziehvogel ruft.

 

Mit den Füßen an der grauen Wolkendecke klebend blicke ich auf die graue See in alle Ewigkeit. Aufwachen. Meeresrauschen. Der Regen prasselt aufs Zelt. Warten. Irgendwann hört er auf. Heute ist ein Ärzte=Tag. Wahlwiese geht mir „Der Infant“ oder „Der Käfer“ durch den Kopf. „..doch Schaf zu sein wär mir ne Qual, denn Schafe brauchen einen Schäfer. Ich glaub ich werd ein Wal. Hauptsache ist ich werd kein Käfer!“ Die Gegend wirbt mit ihren Walsafaris und tatsächlich dümpelt auch nach zwei Kilometern ein aufgedunsener toter Wal an den Felsen. Das Vieh stinkt erbärmlich. Ein Mann ist zu ihm heruntergeklettert und schießt erst ein Selfie mit sich und dem kleinbusgroßen Kadaver und tritt dann näher heran um dessen Geschlechtsorgan ausgiebig unter die Linse zu nehmen. Umweltschutz ist in Japan so eine Sache. Japan ist eines der wenigen Länder, in denen Walfleisch noch gegessen werden kann und man muss der Wahrheit halber sagen, dass sich die Bestände seit Beendigung des kommerziellen Walfangs mehr als verzehnfacht haben. Wale sind nicht mehr vom Aussterben bedroht. Ob man ihnen nicht noch ein bisschen mehr Erholung gönnen sollte sei dahingestellt. Wir erleben nur gerade das größte Artensterben der Menschengeschichte. Es gibt wichtigeres zu tun als Wale zu schützen. Zum Beispiel könnten die Japaner aufhören andauernd überall ihre Motoren laufen zu lassen. Es ergibt bereits Sinn ihn vor einer roten Ampel abzustellen, vor dem Gang zum Klo oder in den Supermarkt sowieso. Viele argumentieren, dass die Autobatterie leer gehen könnte, wenn man die Klimaanlage ohne Motor laufen ließe, aber selbst im japanischen Hochsommer sollten zehn Minuten ohne Klimaanlage zu ertragen sein. Auch problematisch ist das Verbrennen von Müll, was man auf dem Land oft sieht oder dass Müll generell einfach irgendwo in die Landschaft geworfen oder dass Giftmüll meistens im Pazifik verklappt wird.

Die Berge, diese glatte Masse, diese tiefgrüne Wand aus Gelee. Götterspeise gleich. Das Meer zu meiner Linken eine blaue Masse, auf die die grüne mit einem Förmchen aufgesetzt wurde. Die Felsklumpen, die wild um das Kap Muroto herumliegen, wirken deshalb völlig deplatziert. Man kann sich nicht vorstellen, dass je etwas aus dem kompakten grünen Block herausgebrochen sein könnte. Ich bin am Ende der Welt. Die Stadt als das in sich gefangene Selbst, das nicht ausbrechen kann ohne sich selbst zu negieren, das Murakami in seinem Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt beschreibt, lebt von ihrer Mauer, die den Erzähler einschließt, sie ist hart, undurchlässig und unerbittlich und gleicht, auch wenn sie sich oberflächlich betrachtet grundlegend zu unterscheiden scheinen, ihrem Wesen nach dem Meer.

Hinter diesem ewigen Nichts soll das Totenreich liegen, in dem die Hidshiri herrschen und aus dem einst die Götter den Menschen die Ackerfrüchte brachten. Das Sterben als Dank an das Gedeihen – früher wurden die Toten in kleinen Schiffen hinausgeschickt und geschluckt von der Leere. Kōbō soll hier auf diesem spitzen Zipfel Land, diesem trotzig hinausragenden Vorposten der Menschenwelt, lange meditiert haben. Drachen und Ungeheuer krochen aus dem Wasser und griffen ihn an, doch er besiegte sie alle mit dem Licht eines Sternes, den er verschluckt hatte und dessen Strahlen er ihnen godzillagleich entgegenspie. Seine Höhle ist geschlossen. Aus „Sicherheitsgründen“. Die flüssige Mauer, die einem hier fast völlig zu umschließen scheint, wird auch seine Phantasie angeregt haben. Hat auch er in seinem Innern die Bibliothekarin getroffen?

 

 

 

 

Tempel 24

 

Nach Vierundzwanzig kommt eine Herberge. Ich brauche eine Dusche und ein richtiges Dach über dem Kopf wär auch nicht falsch. Die junge Frau am Eingang sieht mich mit großen Augen an und fragt: „Heute?“ Ich unterdrücke den Drang „Nein, gestern“ zu antworten und sage so freundlich wie möglich „Ja“, aber der ironischen Schlag in meinem Lächeln ist wohl unverkennbar. Sie läuft knallrot an und sagt, sie müsse mal fragen. Sie geht nach hinten und kommt nach gefühlten drei Sekunden wieder. Heute ginge leider nicht. Möglich, dass sie hinten nur einmal um den Tisch gelaufen ist. Japanern ist so etwas zuzutrauen. Ich murmle ein „Sumimasen“ und ziehe weiter. Sie läuft mir hinterher und bietet mir an, andere Herbergen anzurufen. Sie ist ein lieber Mensch – oder sollte man lieber sagen „eine liebe Japanerin“? Ich finde was Besseres auf eigene Faust.

Die Schwestern aus Murakamis Der 1973=Flipper („1973Nennopinbōru“) – ich finde sie in der Herberge – die ich finde – die sie betreiben. Erschöpft. Sie sind ganz aus dem Häuschen, als sie mich sehen und tanzen wild um mich herum und erinnern in ihrer Art und ihren wild in alle Richtung stehenden Haaren an Charaktere aus Anime=Filmen. Als ich meine Schuhe ausziehe hält die eine sich mit der Rechten die Nase zu, tanzt auf den Zehenspitzen und ruft mit übertrieben verzogenem Gesicht „Gestank! Gestank!“, während sie so tut, als ob sie sich mit den gespreizten Fingern der Linken Luft zu fächert. Die andere nimmt mich derweil am Handgelenk, schleift mich zur Waschmaschine und sagt: „Ausziehen!“ Als ich die Socken hineingeworfen habe, sagt sie: „Alles!“ Als ich bei der Unterhose zögere verdreht sie die Augen. Ja, aber wir sind ja alle erwachsen. Dann schnappt mich die erste am Handgelenk und schleppt mich, über Entmündigung in Japan sprach ich bereits, zum Bad, erklärt mir die Funktionen und lässt mich allein. Als ich in mein Zimmer komme steht das Essen bereit und im Fernsehen läuft Sumō. Ach, Japan..

 

 

 

 

Tempel 25

 

..ist der Schifffahrt gewidmet. Ein großes Steuerrad hängt am Tor. Es ist ein Egotronic=Tag.17 „Nichts Richtiges gelernt und geistig arm. Können nur dünne Bretter bohren und Trittbrettfahrn. Die Erfahrung zeigt: Das Leben ist tödlich und Audiolith macht das Unmögliche möglich“, geht mir durch den Kopf. Viele der Männer, die in Japan alleine pilgern, leben in Obdachlosigkeit. Seit der Spekulationsblase Ende der Achtziger und der damit einhergehenden Explosion der Bodensteuer wurde sie zum Massenphänomen. Die Obdachlosensiedlungen am Kaiserpalast in Tōkyō, die die Kontraste der japanischen Gesellschaft nur allzu augenfällig werden ließen, wurden Anfang des neuen Jahrtausends wieder geräumt, aber die grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche sind geblieben.

Eine Frau, die in Japan in finanzielle Schwierigkeiten gerät, kann jederzeit zu ihren Eltern zurück. Der Mann kann das nicht, er würde sein Gesicht verlieren. Wenn die Familie zerbricht, und die Arbeitslosigkeit des Mannes führt in Japan fast immer zur Scheidung, dann ist es die Schuld des Mannes, er hat die Familie zu ernähren. Die Frau kann sich jederzeit auf eine bequeme Opferrolle zurückziehen. Da das Sozialsystem in Japan ein schlechter Witz ist, bleibt ihm die Wahl zwischen Obdachlosigkeit und Selbstmord. Sie stehen damit in einer langen Tradition von Ausgestoßenen, die bei den Menschen anfängt, die früher wegen ansteckenden Krankheiten, wie Lepra, oder als „von Tiergeistern Besessene“, wie Epileptiker, aus ihren Dörfern verbannt wurden und denen nichts anderes übrig blieb als zu pilgern. Diese „Bettelpilger“ überwinterten schon damals bei ihrem ewigen Rundweg am liebsten in Kōtshi, der wärmsten Region des Weges, und folglich entwickelte man hier auch die strengsten Pilgerauflagen, die oft in Gängelung und Schikane ausarteten. Heute betteln die Obdachlosen nur noch selten. Das bisschen Sozialhilfe, das man ihnen gewährt, reicht, sich zumindest nicht auf diese Art entwürdigen zu müssen. Und Kōtshi lässt diese Menschen gewähren.

Ich treffe sie auf dem Weg und bin gespannt auf ihre Lebensgeschichten, muss mich aber im Zaum halten, dann es ist äußerst unhöflich hier, jemanden nach einem Unglück oder einer Krankheit zu fragen. Dem Karma=Prinzip nach würde man ihnen damit einen Vorwurf machen. Die meisten haben ihr Leben lang gejobbt und sind dann längere Zeit krank gewesen und bei der Entlassung aus dem Krankenhaus steht man dann da ohne Geld und ohne Wohnung. Oder die Firma ging pleite. Die japanische Industrie baut auf ein Netz von Zulieferern, die man, wenn man sie nicht mehr braucht, vor die Hunde gehen lässt. Was macht man dann? Man packt sein Hab und Gut und zieht durchs Land und wenn man das nicht mehr kann gehts in den Pappkarton unter die Brücke. Wie wusste schon die gute Luxemburg: „Die Freiheit im Kapitalismus, ist die Freiheit unter Brücken zu schlafen und um Essen zu betteln.“18 Das ist so verbreitet, dass ein Pilger mich besorgt fragte, ob ich vorhabe mich umzubringen – warum sollte man auch sonst pilgern, wenn man nicht obdachlos ist.. Einer, den ich an einem Schrein treffe, führt dieses Leben seit er mit sechsundvierzig entlassen wurde. Er ist jetzt Siebenundsechzig. Ich habe Respekt vor diesen Menschen.

Renne der Sonne hinterher.

 

17Eine süddeutsche Elektrogruppe.

18(Zitat nachsehen)

 

 

 

 

Tempel 26

 

Die Osettaidürre wird durch eine Flut beendet. Nacheinander bekomme ich eine Tüte Süßigkeiten, eine Tüte Kekse, zwei Mandarinen und einen gebratenen Hähnchenschenkel. Die Hähnchenschenkelfrau, die mich zuerst mit kritischem Blick fragte wo ich herkäme und sich riesig freute, als ich „aus Deutschland“ antworte, meinte darauf, ich solle kurz warten, lief ins Haus und kam mit dem Schenkel wieder. Hätte ich nichts bekommen, wenn ich gesagt hätte „aus Holland“? Oder hätte ich gar einen ganzen Goldbroiler bekommen, wenn ich gesagt hätte „aus Dänemark“?

Komme nach Kiragawa. Der kleine Ort hat viele alte Häuser, die in Japan leider sonst weitgehend abgerissen sind, Denkmalschutz gibt es praktisch nicht in Japan, und die dem Ort eine besondere Stimmung geben. Mit etwas Fantasie könnte man sich in ein Dshidaigeki19 hineinträumen.. Ogami ist unterwegs! ..Einzig es fehlen die Menschen. Es gibt mehrere Supermärkte und in einem arbeitet ein supernettes Mädchen – klein, dick und süß – mit einem hinreißenden Lächeln. Am liebsten würde ich sie nach ihrer Telefonnummer fragen, doch ich kann dem Ort nicht das letzte gebärfähige Weibchen entnehmen. Dann stürbe die Population ja aus! ..Es war Adorno, der von der hoffnungslosen Liebe als einem Ausdruck der Entfremdung und Heimatlosigkeit sprach, also einem inneren Sehnen nach dem Sinn, einem Endbestimmungsort beim gleiten durch die inneren Erlebnislandschaften: Als ich weitergehe bleiben meine Gedanken bei ihr.

 

Als ich diesen Morgen den Strand lang gehe, ich summte gerade „Herzilein“ (zu meiner Ehrrettung möchte ich betonen, dass ich dabei an die Leningrad Cowboys und nicht an Wildecker Herzbuben dachte, aber das würde wohl jeder von sich behaupten), passiert das unmögliche. Habe ich bisher meinen Wanderstab als leicht und stabil gepriesen, preise ich ihn jetzt nur noch als leicht. Mein Alter Ego, Kōbō Daishi, brach entzwei! Als gebrochener Mann begleitet er mich nun festgeschnallt an meinem Rucksack. Keine zwei Meter weiter finde ich einen annehmbaren Ersatz, einen Bambusstock von perfekter Länge. Der Teufel hat seine Finger im Spiel. Repräsentierte der erste Stab Kōbō, das Gute, ist dieser nun sein böses Gegenstück. Ich träufele ein bisschen Salzwasser über ihn und taufe ihn Wario.

Noch etwas anderes passiert heute Morgen: ich treffe meinen mehrmals angekündigten Doppelgänger. Er schläft in einem Zelt bei einem Schrein. Auf dem Zelt prangert dick und fett „Doppelgänger“. Bin versucht ihn zu wecken, aber in irgendeinem Sciencefiction hatte ich gesehen, dass wenn man sein Gegenstück trifft, schwarze Löcher entstünden. Ich lasse ihn also lieber in Ruhe. Ich muss auch dafür sorgen, dass Kōbō und Wario sich nicht berühren.

Japan wirkt oft wie eine Satire auf George Orwell. Es sind vor allem die comichaften Frauenstimmen aus Getränkeautomaten, Zuglautsprechern, automatischen Türen, Klospülungen und so weiter und so fort, die das Individuum auf Schritt und Tritt leiten und fremdbestimmen. Außerdem gibt es überall im Land festinstallierte öffentliche Lautsprecher, die jeden Quadratmeter des Inselreichs beschallen können. Zunächst sind diese Investitionen in einem Land mit so zahlreichen natürlichen Herausforderungen wie Tsunami, Erdbeben, Vulkanen, Taifunen, dem Monsun und Erdrutschen durchaus sinnvoll, aber stehen die Dinger erst mal, so werden sie auch für vieles andere benutzt, wie dem Ankündigen von Dorffesten, Baustellen, Benefizveranstaltungen, dem Aufruf Verwandten zu Neujahr Postkarten zu schreiben, sich vor diesen oder jenen wilden Tieren in acht zu nehmen, etcetera. Im Vorort von Tōkyō, in dem ich eine Zeit lang lebte, gab es spätnachmittags die Durchsage: „Es ist siebzehn Uhr. Holen Sie ihre Kinder von der Straße. Für eine sichere Stadt.“ Ich fragte mich jedes Mal, ob es denn wirklich die Kinder seien, die die Stadt unsicher machten und nicht die Autofahrer und die Päderasten? Als ich den Berg des Siebenundzwanzig emporsteige überfällt mich folgende Durchsage: „Wir haben alle heute lang gearbeitet. Lasst uns aufhören. Wir machen jetzt ein bisschen Gymnastik, dann könnt ihr zu Abend essen.“ Japan, das ist Stalin auf LSD. Es gibt jeden Morgen und jeden Abend Gymnastiksendungen im japanischen Fernsehen, wobei jede Bewegung mit einem bestimmten Ächzton begleitet wird. Was jetzt über die blechernen Plärrröhren folgte, war kein Anleiten zu bestimmten Übungen, nein, sondern nur die Ächztöne dazu, die wohl jeder Japaner so verinnerlicht hat, dass er die Übungen dazu ganz von alleine ausführen kann. Japan, das ist Stalin auf LSD.

 

19Dshidaigeki heißen die Samuraifilme, die zwar nicht immer stilsicher, aber äußerst beliebt sind.

 

 

 

 

Tempel 27

 

In Aki gibt es eine langweilige Uhr. Sie soll den Bauern früher auf den Feldern die Zeit angezeigt haben, doch auch dieses Wissen macht sie nicht interessanter. Bereue den Umweg gegangen zu sein. Vor dem Bahnhof steht eine bunte Comicstatur eines tanzenden Mädchens mit einem kugelrunden Kopf auf einem kleinen Körper. Sie heißt Utako, das „Mädchen der Märchen“. Wie hieß es noch in Kawabatas Der erste Schnee auf dem Fudshi: „Hätte es keinen Krieg gegeben, Utako, wären wir die ganze Zeit bis heute zusammengeblieben.“20 ..Im Restaurant daneben gibt es ein leckeres Gericht mit kleinen Fischen in einem Reistopf. Dazu Tofu mit einer fantastischen Soße. Das Soßenrezept will der beleibte Koch mir aber nicht verraten. Bin froh das Restaurant entdeckt zu haben, denn ansonsten ist heute nicht mein Tag. Mein linker Fuß tut weh. Schraube mein Wegziel stufenweise zurück. Irgendwann mummele ich mich in einer Holzhütte am Strand in meinen Schlafsack. Strand, Meer und Himmel verschmelzen in der schwarzen Nacht zu einer geschlossenen Masse. Sacke hinab in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

Morgens stehe ich mit der Sechsuhrmelodie aus den Lautsprechern auf. Der Weg verläuft auf einer alten Eisenbahntrasse, die durch eine neue, ein paar Meter weiter, ersetzt wurde. Bis auf den Shinkansen und einer Hand voll U=Bahn= und S=Bahnlinien in den Ballungsräumen besteht das ganze Eisenbahnstreckennetz Japans aus Schmalspurtrassen. Die sind in einem bergigen Land durchaus von Vorteil, da man mit ihnen wesentlich engere Kurven bauen kann. Die zahlreichen engen Kurven führen aber auch dazu, dass die Regionalzüge in Japan unglaublich langsam sind. Hinzu kommt, dass ein Großteil des Streckennetzes einspurig ist. Einspurig! Und ich rede nicht nur von Strecken a la Wittstock=Pritzwalk, sondern auch von wichtigen Lebenslinien wie Takamatsu=Tokushima. Auch auf ihnen müssen die Züge an den Ausweichstellen aufeinander warten. In einem Entwicklungsland würde man den Mangel an Investitionsmitteln verstehen, einer Industrienation ist er unwürdig. Hier hat man nun die Strecke aufwendig begradigt, zweigleisig ausgebaut aber nicht.

Der Bau der Shinkansenstrecken hat eine Unmenge Kapital verschlungen, dass die japanische Staatsbahn unrentabel machte, bis auf die Strecke Tōkyō=Ōsaka ist keine der Hochgeschwindigkeitsstrecken rentabel, und gleichzeitig kaum Mittel für das übrige Netz ließ. Das Allheilmittel hieß Ende der achtziger Jahre Privatisierung. Mit der Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur war das Ende der Wirtschaftsräume außerhalb der bereits bestehenden Zentren besiegelt, da die Gütertransportkapazitäten zu ihrer Entwicklung nicht ausreichten und zu ihrem Ausbau nun das Kapital fehlte. Das alles ist kein Produkt planerischer Unzulänglichkeiten, die Ballung der Wirtschaft ist mit ihren Synergieeffekten durchaus gewollt. Man will so aus einem Minimum an Infrastrukturinvestitionen ein Maximum an Mehrwert pressen: Das Megazentrum Tōkyō.

Die Lebensqualität bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Die Hausbesitzer treiben dort, wie überall, die Mieten genauso schamlos in das Maximum, das sie verlangen können. Das führt zu winzigen Wohnungen zu astronomischen Mondpreisen. Der Großteil der Bevölkerung muss sich dort in völlig überfüllten Zügen, auch hier gilt die Maximierung des Mehrwertes, aus den Randgebieten mit den irgendwie erschwinglichen Unterkünften in die Innenstadt zur Arbeit quälen. Die japanische Unterschicht wird dabei nicht nur durch ihre eigentlich unzumutbaren Arbeitswege diskriminiert, zusätzlich hat der ärmste Teil der Bevölkerung auch noch den größten Teil der Fahrtkosten zu schultern.

Oft wurden die profitablen privaten S=Bahnlinien der Ballungsräume als scheinbaren Beweis der Überlegenheit der Privatwirtschaft angeführt und der Fakt, dass diese keine teuren Hochgeschwindigkeitsstrecken unterhalten musste und sich ihr Netz auf die Ballungsräume beschränkte, einfach ignoriert. Auch sind die privaten S=Bahnkonzerne weit verflochten und besitzen Kaufhäuser, Supermarktketten, Immobilienfirmen und zahlreiche andere Geschäftsfelder, in denen sie sich die Kundschaft zuschiebt, wogegen die Staatsbahn den Privatbetrieben die Kundschaft frei Haus lieferte. Unter der ideologischen Apostrophierung der Freiheit und der Verteufelung der politischen Einflussnahme wurde die Privatisierung durchgedrückt, doch wie soll eine Gesellschaft sich selbstbestimmt entwickeln, wenn man ihre sämtliche Werkzeuge dazu raubt? Das Ziel der Liberalen ist klar: die totale Unterwerfung des Menschen unter das Diktat der Besitzenden. Die ländlichen Gebiete sterben derweil einen langsamen Tod.

In Akaoka komme ich an einem kleinen Paradies vorbei, einem bis an die Decke zugepackten Trödelladen. Hier gibt es alles, was die Leute in ihrem Leben aussortiert haben oder dessen Besitzer das Zeitliche segneten. Die Besitzerin ist begeistert von meiner Begeisterung. Ich sage ihr ganz direkt, dass ich keine Möglichkeit habe irgendetwas mitzunehmen, was ihrer Freude keinen Abbruch tut. Werde zu ihrem Mann zum Teetrinken in die Ecke gesetzt und gemeinsam philosophieren wir über die verschiedenen Stücke, auf die unsere Blicke fallen.

Als ich weiterziehe erscheint, auf einem Berg über den Feldern thronend, eine Burg. Keine Burg japanischer Art, eine europäische Burg, wie sie auch am Rhein stehen könnte. Wenn, ja, wenn sie nicht von Sendemasten überragt würde, könnte man für einen Moment vergessen, dass man in Japan ist – Japaner sind im Verbinden des Schönen mit dem Hässlichen so schmerz= wie skrupellos. Japaner lieben das Rheintal. Wenn es sie nach Berlin verschlägt sind sie immer ganz enttäuscht, dass es dort keine Fachwerkhäuser und Burgen gibt. Ein Deutscher ist man dann, wenn man nicht nur blond, blauäugig und über zwei Meter groß ist, man muss dazu auch noch in Lederhosen einen Mercedes brezelkauend über die Autobahn vorbei an Neuschwanstein zu seinem Fachwerkeigenheim fahren, um dort von einem Schäferhund und einer Frau mit großen Brüsten mit Bier und Würsten empfangen zu werden. Erfüllt man dieses Klischee nicht, ist die Enttäuschung riesengroß. Andersrum ist das natürlich genauso. Wenn die Deutschen an „japanisches Design“ denken, dann denken sie an Dsengärten und minimalistisch gestaltete Sushiläden. Wie geschockt sind viele von ihnen, wenn sie nach Japan kommen und feststellen müssen, dass die meisten Dsentempel in Protz und Kitsch selbst katholischen Kirchen in nichts nachstehen und dass die meisten Restaurants in Japan sehr rustikal gestaltet sind. Ja, kein Reisebuch, das ohne Gēshafoto auskommt und trotzdem habe ich es geschafft, in all den Jahren keiner einzigen über den Weg zu laufen. Sicher, wenn man sich in einschlägigen Vierteln Kyōtos herumtreibt, wird man schon irgendwann einer über den Weg laufen, zum alltäglichen Straßenbild Japans gehören sie aber nicht. Auch dem in Deutschland verbreiteten Bild des Japaners als technikbesessenen Freak steht eine Wirklichkeit entgegen, in der viele Japaner nicht mal einen Computer besitzen..

Die Knoblauchfelder um mich verströmen einen starken, würzigen, leckeren Duft. Sollte ich mir wegen der Burg da oben doch Sorgen machen?

 

20(Zitat nachsehen)

 

 

 

 

Tempel 28

 

..liegt knapp unterhalb der verwunschenen Burg. Die Herberge ist ausgebucht. Also Zelt. Leider keine schützenden Knoblauchfelder in der Weltnacht.

 

Morgens zur Ryūgandō=Höhle. Im Kopf die Sehnsucht nach der Novalis=Welt des kalten blauen Lichts der Leuchtpilze. Glitschige Stege, die Anziehungskraft der blauen Blume tief in der Grotte. Es ist doch alles ganz anders.. hell ausgeleuchtet und so übergesichert, wie es eben nur Japaner vermögen. Wenn sie könnten, dann überzögen sie wohl ganz Japan mit Schaumstoff.

Als ich von der Höhle zum Neunundzwanzig trotte kommt mir ein Holländer auf seinem Fahrrad entgegen. Er ist die gesamte Strecke durch Europa, Mittelasien, China bis hierher gefahren. Sein Ziel: einmal um die Welt. Er erkennt mich auch gleich als Pilger und gibt mir – ungefragt – zahlreiche Ratschläge. Bin von der Redeflut etwas überfordert, was nicht weiter schlimm ist, da alles, was ich sagen könnte wohl nur seinem Redefluss stauen und stören würde. Manchmal mag ich es zugelabert zu werden, so kann man seine sozialen Bedürfnisse ohne eigenen Aufwand befriedigen. Irgendwann hält er inne. Er hat mich etwas gefragt, auf das er tatsächlich eine Antwort erwartet. Als ich mit halboffenen Mund nichts so richtig herausbringe, fährt er lachend fort, die Frage sei nicht ernst gemeint gewesen, nur früher gingen alte Menschen den Weg um ihren Verwandten nicht mehr zur Last zu fallen. „Er war eine sozial akzeptierte Form des Suizids. Der Weg führt immer im Kreis. Er hat kein Ziel, außer dem Tod.“ Er hatte mich gefragt, ob ich sterben wolle. War seine Strecke um die Welt nicht auch ein Weg im Kreis? Hatte er vor zu sterben? Ehe ich es schaffe zu fragen hat er sich schon wieder auf sein Fahrrad geschwungen und ist auf und davon.

 

 

 

 

Tempel 29

 

Kurz hinter Neunundzwanzig rast ein Kleinbus auf mich zu, hält quietschend einen Meter vor mir und ein ebenso quietschfideler Rentner springt heraus und eine etwas verlegene Enkelin klettert hinterher. Sie übersetzt alles, was er sagt ungefragt ins Englische, was gut ist, denn ich verstehe nichts von dem, was er sagt. Er spricht doch starken Dialekt. Er hat in jungen Jahren auch den Weg erwandert und erzählt von seinen Erinnerungen an seine schrecklichen Fußschmerzen. Ich trinke den Kaffee, den ich von ihm als Osettai erhalte und erzähle ihm von meinem Fußschmerzen jetzt, über die er sich kindisch freut. Er wirkt doch in seiner Dreistigkeit sympathisch und ich versuche ihm ein Kompliment zu machen, indem ich ihn frage, ob er außer seiner „Tochter“ noch Kinder habe. Dies ist auf zwei Arten falsch: erstens darf man auf dem Rundweg nicht lügen und zweitens stellt sich heraus, dass seine „Enkelin“ tatsächlich seine Tochter ist! Ähnlich der Frage, ob man lügt, wenn eine als richtig angenommene Aussage sich als falsch entpuppt: Lügt man, wenn eine als falsch angenommene Aussage sich als richtig entpuppt? Der Materialist würde sagen, die Fakten und nicht die Absicht geben den Ausschlag, also man Lügt im Fall Eins und man lügt nicht im Fall Zwei. Der Idealist würde die Sache vom Willen her aufrollen, also man Lügt im Fall Zwei und nicht im Fall Eins.

Wenig später läuft mir eine Frau schreiend hinterher. Bin zunächst etwas verunsichert, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe, doch sie hat einen Multivitaminsaft als Osettai für mich. Wege schlängeln sich durch abgeerntete Felder. Ich sitze auf einem Flussdamm in der Sonne. Eine Pilgergruppe von dreißig bis vierzig Leuten zieht an mir vorbei.

 

 

 

 

Tempel 30

 

..liegt bereits im Stadtgebiet Kōtshis. Eine andere Pilgerin begleitet mich eine Weile, doch sie ist viel schneller als ich. Irgendwann bitte ich sie allein vorzugehen, ich will mich nicht hetzen lassen, was sie dann auch direkt freudig annimmt. Sie war es wohl auch Leid auf mich zu warten. Vor dem Berg mit Einunddreißig kreuzt man eine der beiden urtümlichen Straßenbahnlinien Kōtshis. Auf dem Berg gibt es eine Aussichtsplattform, von der aus einem die ganze Stadt zu Füßen liegt.

 

 

 

 

Tempel 31

 

Treffe die gleiche Buspilgergruppe, die ich seit Siebenundzwanzig immer wieder sah, auch am Einunddreißig. Eine Frau kommt und fragt mich: „Du läufst das doch nicht alles zu Fuß, oder?“ Als ich antworte, „Doch, ich laufe das alles zu Fuß“, verzerrt sich ihr Gesicht zu einer wütenden Grimasse und sagt laut „Das kann nicht sein, du lügst!“, dreht sich um und geht weg. Ist es denn meine Schuld, dass ihre Busgruppe so lahm ist? Ich laufe ja nun wirklich nicht schnell! Ich habe mir immer die Frage gestellt, warum Leute, die einem nicht glauben wollen, mit einem reden. Was haben sie davon? Ich erinnere mich an eine Amokfahrerin in Berlin, die, nachdem sie mich hupend geschnitten hatte, in einem psychopathenfreundlichen Ton aus dem Auto heraus fragte, warum ich nicht den Fahrradweg nähme. Ich erklärte ihr daraufhin gelassen, dass es kein Fahrradweg sei, sondern nur ein Fahrradangebotsstreifen und ich ihn nicht benutzen muss, worauf sie schrie „Das glaube ich nicht!“ und mit heulendem Motor davonfuhr.

Entschluss – Ich bleibe mehrere Tage in Kōtshi=Stadt. Die Füße schmerzen. Es regnet. Ich muss ein paar Sachen erledigen. Und wenn ich weiterliefe, würde ich wohl früher oder später von den Trödelbuspilgern erschlagen werden.

Nudelsuppen, Kimtschi und Bier. Ich dusche in der Herberge, gehe zum Supermarkt und kaufe ein. In meiner Zeit in Hiroshima habe ich mich nur so ernährt. Zur Melodie von Capumcap von Nightmare on Wax ging mir auf dem Weg zurück, wie damals schon, ein „In einem Supermarkt – einem Supermarkt – einem Supermarkt – einem Super – kaufe ich Kimtschi und Bier – kaufe Kimtschi und Bier – kaufe Kimtschi und Bier – kaufe Kimtschi – in einem Supermarkt..“ durch den Kopf. Capumcap und Hiroshima, das war für mich eins.

Eine Gruppe US=Amerikaner sitzt im Speisesaal der Herberge und tauscht Reiseerfahrungen aus. Setze mich dazu. Der Fette mit dem Kruzifix um den Hals erzählt Geschichten über Indonesien und lacht als einziger über sie. „Habt ihr in letzter Zeit Foreign Affairs gelesen?“ und ohne eine Antwort abzuwarten fährt er fort „Es gab eine Hausdurchsuchung in einem Puff in Jakarta! In jedem Raum war ein Mädchen, außer einem: dort fanden sie einen Orangutan! Mit Makeup!“ Er lacht laut auf, alle anderen bleiben ruhig. Dann fragt der Dünne mit dem weißen T=Schirt und der noch weißeren, ungesund wirkenden Haut mit den vielen roten Punkten lächelnd, ob der Orangutan denn rasiert gewesen wäre. Ich starre ihn an. Dann nehme ich einen Schluck Bier um meinen offenen Mund zu verdecken. Was ist das für eine Frage? Und was ist die Antwort auf die Antwort? „Wie, der Orangutan war unrasiert? Also dann auf keinen Fall!“? ..? Die beiden unterhalten sich weiter. „Ich denke, du verpasst den Punkt“, sagt das schwarze Mädchen im gelben T=Shirt, „du musst das von einem feministischen Blickpunkt aus sehen! Wie fühlen sich die Mädchen, die den ganzen Tag für Kunden warten während beim Orangutan nebenan die Post abgeht? Ist das nicht diskriminierend?“ Wie kommt sie darauf, dass er beliebter wäre als die Indonesierinnen? „Ich hasse Superioristen wie dich!“, wirft das fette weiße Mädchen, dessen Haut noch hässlicher als die des Dünnen ist, ein, „Du denkst, dass du etwas besseres bist, nur weil du ein Mensch bist! Ich hasse Speziezisten wie dich! Du kümmerst dich überhaupt nicht um Tierrechte, oder?”, schrie sie, „Orangutans haben das gleiche Recht gevögelt zu werden wie Indonesier!“, dann steht sie auf, wirft ihren Stuhl um und verlässt stampfend den Raum. „Ich entschuldige mich für sie“, sagt der Fette mit dem Kruzifix, „sie ist immer so emotional. Aber worüber reden wir überhaupt? Wenn der Orangutan einwilligt, welches Recht haben wir dann über eine fremde Kultur zu urteilen?“ Bisher hat überhaupt noch niemand irgendetwas über die Kultur Indonesiens gesagt. Und er war es doch, der mit dem ganzen Thema angefangen hat. „Wir sollten unsere Köpfe von rassistischen Vorurteilen befreien“, sagt der Dünne mit der ungesunden Haut, „solange wir es noch nicht mit einem Affen getan haben, wie können wir da urteilen?“ „Richtig“, sagt der Fette, „aber ich habe eine andere Geschichte für euch: ich war in einer dieser heißen Quellen und in der Dusche hat einer gewichst! Und niemanden schien es zu kümmern! Und als ich ihn danach wiedersah, hat er mich gegrüßt, als wenn nichts gewesen wäre!“ „Vielleicht war er behindert“, sagt der Dünne. „Ja“, sagt das schwarze Mädchen, „als Christen müssen wir unseren Nächsten helfen. Ich habe oft Freiwilligenarbeit in der Tagesbetreuung von Behinderten während der Oberschule gemacht und man gewöhnt sich daran. Sie sind wie du und ich.“ Später hatte ich schmutzige Träume in der Nacht. Das schwarze Mädchen kam auch in ihnen vor.

 

Am nächsten Tag reisen sie ab. Ich freue mich, die Herberge für mich allein zu haben. Der Besitzer aber sagt, dass ich morgen leider raus müsse, man sei ausgebucht. Es ist offensichtlich eine Ausrede, doch den wahren Grund aus Japanern herauszukitzeln ist praktisch unmöglich, haben sie erst mal eine Lüge rausgehauen. Ich habe es schon oft genug versucht. Sie haben das Gefühl, das Gesicht zu verlieren, ändern sie eine einmal eingenommene Position und bleiben deswegen stur bei ihr, egal wie widersinnig sie ist. Durch das Lügen an und für sich verliert man in Ostasien nicht das Gesicht, selbst wenn alle wissen, dass es eine Lüge ist, erst das An= und Aussprechen des Offensichtlichen führt zum Gesichtsverlust. Das ist gewöhnungsbedürftig, kann aber auch, im Umgang mit Ordnungshütern zum Beispiel, die einem aus dem Zelt scheuchen, zum eigenen Vorteil oder zumindest zur Schadensbegrenzung genutzt werden..

Als ich die Frau des Herbergenbesitzers frage, sagt sie mir, dass morgen Bauarbeiter kämen. Die Tochter erzählt mir dagegen später überglücklich, dass sie morgen zusammen Schifahren gehen. Das ist der Grund. Und das ist ja auch ein guter, nachvollziehbarer Grund, aber warum ihn nicht gleich sagen?

Schlendere durch die Stadt. Es gibt eine Burg, einen gelungener Bahnhof mit einem weiten, hellen Vorplatz. Die Straßenbahn. Diese ratternden Ungetüme tun seit Urzeiten hier unverwüstlich ihren Dienst und bilden das Rückgrat des städtischen Lebens. Auf dem großen Platz steht eine große Samurai=Statur Ryōmas, dem Yurukyara, in etwa „Stadtmaskottchen“, Kōtshis. Setze mich daneben. Die weite Freiheit ist ein Genuss nach der bedrückenden Enge der japanischen Stadt. Durchatmen. Sonne. Licht. Ein tiefes graues Rauschen innerer Ruhe durchfließt mich. Der Bahnhof ist der schönste Flecken in Kōtshi=Stadt.

 

Beim Frühstück die kalten Finger an einer warmen Schale Nudelsuppe wärmen. Sehen wie ihre Schwaden durch das durchs Fenster einfallende Morgenlicht ziehen. Glück.

Gehe zur nächsten Herberge. Die Besitzerin fragt mich, woher ich käme. Sage es ihr. „Ah, ok“, sagt sie mit strahlendem Lächeln, „wenn du Italiener oder Spanier gewesen wärst, hätte ich gesagt, wir sind ausgebucht.“ Mache mir Nudeln mit Tomatensoße zu Mittag. Ja, die Beliebtheit Italiens und seiner Küche ist schon groß auf der Welt und wird wohl an Größe nur von der Unbeliebtheit der Italiener übertroffen. Spanier sind wohl, leider, nur unbeliebt.

 

Mache mir Nudeln mit Tomatensoße zum Frühstück. Verzichte aber auf die Oper dazu. Bei aller Liebe zu Murakami, sein Musikgeschmack ist doch grottenschlecht. Egal was er an „Musik“ aufzählt, es ist immer eine Zumutung. Lasse den Vormittag verstreichen und beobachte das trockene Winterlicht hinter den Milchglasscheiben der Küche.

Die Nachbarin schaut herein. Ein bisschen Wo=kommst=du=her=was=machst=du=hier=Smalltalk, dann schlägt Kana, so heißt sie, vor, mit ihr zu kommen, sie wolle mir die Stadt zeigen. In der Innenstadt von Kōtshi, gleich bei der Burg, gibt es eine riesige alte Markthalle, angefüllt mit vielen kleinen Fressständen. Kana sucht zahlreiche Leckereien zusammen und dann setzten wir uns an einen kleinen Tisch in einer Ecke des Gewühls und trinken mit einer eigenwilligen Limonade gemixten Tshūhai, den uns ein Inder gebracht hatte und essen von den verschiedenen Tellerchen. Kana erzählt, dass sie für ihr Leben gern Briefe schreibe, dass es ihr schon seit dem Unterricht in klassischem Japanisch an einer Privatschule in Kōbe riesigen Spaß gemacht habe, aus dem altjapanischen Stil mit all seinen ausdifferenzierten Ausdrucksformen und dem lebendigen Wortschatz der modernen Umgangssprache neue Hybriden zu erschaffen und dass sie nun seit dreißig Jahren Tag für Tag fünf bis sechs Briefe versende. Schräg gegenüber werden Wackelkopf=Ryōma und anderer Ryōma=Nippes verkauft. Zwei Jungs haben sich jeweils eine Schnapsflasche in Ryōmaform gegriffen und spielen Samurai. Wem sie denn schreibe, frage ich. „Och, allen möglichen Leuten“, sagt sie und zögert leicht, auf den Tisch mit dem halbvollen Glas Tshūhai blickend. In Erwartung einer wildromantischen Liebesgeschichte hake ich nochmal nach. „Natürlich“, sagt sie, „sollte man niemanden, den man kennt, so viele Briefe schreiben. Die Menschen sind misstrauisch und früher oder später macht es ihnen Angst und sie holen die Polizei.“ Ich kann sie verstehen. Ich würde wohl genauso handeln. „Meistens klicke ich mit geschlossenen Augen auf eine Internetkarte und an die Adresse des nächsten Eigenheims schicke ich dann den Brief. Dort gibt es dann eh nur einen Briefkasten und wenn man die Namensschriftzeichen nur schlampig genug hinrotzt, den Rest aber einigermaßen leserlich lässt, wird der Postbote ihn auf jeden Fall einwerfen. Den Absender picke ich mir ebenso von der Karte.“ Was sie denn dort schreiben würde, frage ich, innerlich nachgrübelnd, wie viele kaputte Ehen sie mit solchen Aktionen schon auf dem Gewissen hatte. „Ach, meist darüber, was ich so gegessen habe, über das Wetter und solche Dinge. Der Inhalt ist egal – was mich interessiert ist das Erschaffen eines neuen Stils, der in die Welt hinausgreifen wird. Und es freut mich, mir vorzustellen, dass die Leute den Absendern antworten und so überall neue Freundschaften entstehen!“ So konnte man es natürlich auch sehen..

Abends kocht sie eine Art Udon=Eintopf und wir sitzen noch lange da und unterhalten uns über Disney=Filme. Sie ist ein großer Fan davon und kann etliche so unterhaltsam und lustig schildern, dass man seine eigene bisherige Abneigung gegen Musical glatt vergisst, ja, wider besseren Wissens Disney=Musical zu mögen bereit ist. „Was machst du morgen?“, fragt sie unvermittelt und als ich „noch nichts“ antwortete, sagt sie, „Dann lass uns zum Jägerfest fahren!“

 

Das Jägerfest war ein Traum. Nachdem sich Kanas Wagen röhrend und blökend durch die Berge im Norden gekämpft hatte, kamen wir auf verschlungenen und abenteuerlichen Pfaden an. Es gab traumhaft leckere Wildschweinwürste und in mir kam die Sehnsucht nach Deutschland auf.. Würste. Bier. Brot. Bei meinen Reisen musste ich immer wieder feststellen: ich liebe die Welt, aber ich bin kein Kosmopolit. Von Seneca stammt das Zitat „Denn was liegt daran, ob mir der Bissen Brot fehlt, da ich die Freiheit habe, zu sterben, wann ich will?“21 Doch so einfach Seneca es sich hier macht, ist es nicht. Natürlich stirbt man nicht im wörtlichen Sinne ohne Brot oder Bier oder Würste, doch kann man es wirklich Leben nennen? In einem hungert das Herz, egal wie viele andere leckere Sachen man isst, nach richtigem Brot, nach richtigem Bier und nach richtigen Würsten, egal wie lange man in Japan ist. Das Suchtgedächtnis bleibt aktiv.

Abends sehen wir noch irgendeine Liebesschnulze. Natürlich heißt sie anders, aber ich gebe ihr jetzt mal den Titel „Bratwurst zum Frühstück“. Ach, Braaatwurst.. Wenn es tatsächlich eine Frau gibt, lieber Murakami, die man mehr lieben kann als Bratwurst oder Bier oder Brot, warum bin ich ihr dann noch nicht begegnet? Bratwurst.

 

Das Suchtgedächtnis bleibt aktiv. Manchmal gibt es Mädchen, die docken sich an und passen. Die Versatzstücke stimmen einfach so und wenn man sie verliert probiert man Mädchen um Mädchen, doch mit keiner ist es wie mit ihr. Hat man das Biermädchen verloren und findet man das Wurstmädchen, dann sollte man bei ihr bleiben, denn wer weiß, wann man das Brotmädchen findet.

Vor vielen Jahren hatte ich das Biermädchen leichtfertig verloren, mich selbst gehasst dafür, wie gedankenlos ich sie liegen ließ und heute sollte ich das Wurstmädchen genauso leichtfertig verlieren. Ach, ich bin ein Idiot.

Als ich aufstand und in die Gemeinschaftsküche kam, frühstückten Kana und Haruna gerade. Haruna. Die froschartigen Augen waren als Ecksteine an den linken und rechten Horizonten ihres globushaften Vollmondgesichts gesetzt. Eine breite, aber nicht lange Nase lag im Mittelpunkt dieses kleinen Planeten, ein roter, sonnenverbrannter Vulkan. Der Froscheindruck wurde noch unterstrichen durch ein latentes Schielen. Ich verliebte mich auf einen Schlag über beide Ohren, als sie mich anlächelte. „Guten Morgen“, sagte ich und sie lief knallrot an, als wenn ein Blitzschlag alle Wälder dieser kleinen Welt in Brand gesetzt hätte. Kanas Stimmung fiel schlagartig in den Minusbereich. „Guten Morgen“, sagte sie, „Wo kommst du her?“ Ich sagte es ihr. „Ah, dann isst du gerne Hamburger!“ Nein. Der Mexikaner heißt zwar Mexikaner, aber kein Mexikaner trinkt Korn mit Tomatensaft, Korea heißt auch Korea, aber einen Koreaner, der Wein mit Cola trinkt, ist mir noch nicht untergekommen und wenn es auch Automechaniker geben mag, die Bier mit Cola trinken, so gibt es doch mindestens ebenso viele, die auf Diesel gerne verzichten und ihr Bier ungepanscht zu sich nehmen. Genauso ist es doch beleidigend mir zu unterstellen, dass ich Hamburger äße. Der Gedanke an das Brakwasser, das man zu sich nehmen müsste, nähme man den Begriff Alsterwasser allzu wörtlich, drängte sich auf. Aber Haruna war einfach zu süß, so sagte ich, ich äße gerne Hamburger.

Wir gingen zu dritt auf den Wochenmarkt. Haruna hatte einen Bärenhunger. Wir liefen über den Markt und aßen hier was und aßen dort was und Haruna aß von allem zwei Drittel während Kana und ich uns mit dem restlichen Drittel begnügten. Kanas gelegentlicher Vorschlag, doch die Reste dieses oder jenes Gerichts einzupacken und mitzunehmen, scheiterten an den Einwänden Harunas, die mit einer erschlagenden Begeisterung „Wir schaffen das! Wir schaffen das!“ ausrief, was bedeutete, dass sie allein die Reste aufaß. So schröpfte uns Haruna auf unserem Bummel durch die Stadt, aber ich war nicht böse auf sie. Ihre naive Freude und ihr kindlicher Egozentrismus waren einfach zu niedlich. Es war als kaufte man etwas seiner kleinen Schwester.

Als wir zurück zur Herberge kamen verschwand Kana plötzlich. Haruna war als Erstes durch die Tür gegangen, ich war ihr gefolgt und Kana war hinter mir gewesen. Als ich mir die Schuhe auszog war sie weg. Ich schlüpfte wieder in die Schuhe und ging vor die Tür. Keine Spur von Kana. Sie musste bereits in ihre Wohnung zwei Häuser weiter entschwunden sein. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Was sollte ich tun? Zu ihr gehen und mich entschuldigen? Sie würde alles abstreiten. Vielleicht weinte sie jetzt auch. Stellte ich sie nicht bloß, wenn ich zu ihr ging? Eigentlich hatte ich nichts verwerfliches getan.. Trotzdem fühlte ich mich scheiße. Ich ging wieder rein.

Haruna war völlig aufgelöst. Was war mit Kana? Wieso war sie weg? Was war passiert? Das war alles nicht gespielt, sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, was in Kana vorging. Ich tröstete sie, aber konnte es ihr unmöglich erklären. Was hätte ich sagen sollen? Wir haben Glück im Glück und den Schlafsaal die Nacht für uns allein – es ist das Unglück im Unglück: Ich habe mein Wurstmädchen endgültig verloren.

 

Es tut gut wieder unterwegs zu sein. So sehr mir Kōtshi=Stadt, die mit ihren lieben, sie bevölkernden Wesen einer Erzählung Tendrjakows entstiegen zu sein schien, auch gefiel, mich unsteten Wanderer zieht es weiter. Über die Straßenbahngleise. Über den Fluss. Über den Tempelberg. Das brennende Fernweh, die Suche nach dem eigenen Traumbild, sie, diese Sehnsucht, ist dazu vorbestimmt, immer wieder von Neuem aufs Neue ihren Ort zu ändern, es gleicht einem melancholischen Durst, der sich nie stillen lässt. Er treibt einen. Weiter.

 

21Seneca Vom Glückseeligen Leben, Alfred=Kröner=Verlag, Stuttgart 1978, S.46

 

 

 

 

Tempel 31b

 

Das ewige Umwälzen der Zeit. Die große Shikoku=Uhr mit ihren achtundachtzig Stunden dreht sich wieder. Die Zeit wird Wirklichkeit, wenn man sie mit den eigenen Füßen erläuft. Ich hätte mich gerne mit Kana ausgesprochen, aber solange sie ihre Wut nicht in Worte fasste, würde alles was ich hätte sagen können, falsch klingen. Genauso schön wie es ist, anderen Menschen wichtig zu sein, genauso belastend ist es auch, zu wissen diese Menschen verletzt zu haben. Bekomme eine Flasche Gerstentee als Osettai. Ich hätte mich gerne von Haruna heute Morgen verabschiedet, aber sie schlief tief und fest. Der Weg konnte nicht mehr warten. Der Stillstand stieß mich ab, hinaus. In Kyōto hatte ich einmal eine Waliserin kennengelernt. Wir hatten mehrere Tage einen verrückten Kreuzzug der puren Unvernunft quer durch die Stadt gemacht und ich hatte ihr fest versprochen, am letzten Morgen mit ihr zusammen zu frühstücken. Doch an dem Morgen war ich so müde, dass ich, als sie mich wachrüttelte, ihr nur „viel Glück“ wünschte, mich wieder umdrehte und weiterschleif. Das war wohl heute die ausgleichende Gerechtigkeit.

 

 

 

 

Tempel 32

 

Die Figur eines Henro=Dachses begeistert mich. Von all den „Supertieren“ Japans, Tieren denen in der japanischen Volksmythologie besondere Fähigkeiten zugesprochen werden, liebe ich den Dachs, den entspannten Lebemann, am meisten. Ihm wird nachgesagt, viel zu feiern, zu fressen, zu saufen und unübertrefflich faul zu sein – eine sympathische Type. Oft stehen deswegen Dachsfiguren vor Kneipen oder manchmal auch in Vorgärten. Der Pilgerdachs bin ich – ich bin der Pilgerdachs!

Aus einem Auto heraus kriege ich eine Tüte Süßigkeiten als Osettai. In einem Laden, in dem ich Getränke kaufe, bekomme ich noch eine kleine Sushi=Platte als Osettai dazu! Die Leute sind so lieb! Esse das Sushi während ich auf eine kleine Hafenfähre warte.

Hier an der Urado=Bucht soll einst ein Hidshiri gesessen haben, der den Leuten aufgrund von Wasserfarbe und Wellenform das Wetter weissagte. Der Name Hidshiri, „der, der um die Sonne weiß“, deutet auch darauf hin, dass es einst die Aufgabe des Hidshiri vor allem in der Zeitmessung und damit in der Witterungsvorhersage lag. Der Stand der Sonne bestimmt die Jahreszeit und damit die Aussaatzeitpunkte und Priester, die ihr Amt von der Fähigkeit ableiteten, diese Zeitpunkte zu bestimmen, gab es auf der ganzen Welt. Die Witterungsgötter waren immer die mächtigsten in sesshaften Gesellschaften und es ist kein Zufall, dass von allen Göttern der Wettergott Jehowa zum Chefboss gemacht wurde, als man am Toten Meer von den Ägyptern die Eingottlehre übernahm. Mit Wellenbeobachtungen lassen sich bestimmt in einem gewissen Rahmen Wettervorhersagen treffen, nicht zuletzt den Fischern dürfte das geholfen haben. Tauche ein Stück Maguro in die Sojasoße.

 

 

 

 

Tempel 33

 

Der Himmel zieht zu. Es sieht nach Schneewolken aus. Der Winter ist die trockenste Jahreszeit Shikokus und die Temperaturen fallen selten unter die Nullgradmarke – was aber keine Garantie gegen Schnee ist. Es kann schneien. Vielleicht ist es besser den Teufel nicht an die Wand zu malen. Eine lustige ältere Frau gibt mir zahlreiche Tipps mit auf den Weg, von denen ich leider nur die Hälfte verstehe; sie hat fast keine Zähne mehr im Mund. Ja, mit der Gesundheitsversorgung in Japan ist das so eine Sache. Aber auch hier muss man sich in Erinnerung rufen, wie schlecht man in Deutschland von vielen Ärzten untersucht und behandelt wird, wenn man nicht privatversichert ist. Auch in Japan gibt es diese Zweiklassenmedizin. Die Frau will mich gar nicht mehr fortlassen. Ein superunterhaltsamer und offener Mensch, doch ich muss weiter. Ich will weiter.

Beobachte wie ein Coca=Cola=Automat von einem Mann mit Schnupfen befüllt wird: er nimmt jeweils eine Flasche, hält inne, niest einmal kräftig und stellt dann die so getaufte Flasche in den Automaten.

 

 

 

 

Tempel 34

 

Ich lasse zum ersten Mal Wario irgendwo liegen. Das ist deswegen erwähnenswert, da ich Kōbō andauernd irgendwo liegen ließ. Die Wegstrecke, die ich wegen Kōbō zusätzlich zurücklegen musste, summiert sich zu etlichen Kilometern. Wario kommt mit dem heutigen Tag auf vierzig Meter. Ich denke über den Grund nach. Murakami hat im dritten Teil der Aufziehvogelaufzeichnungen Kasahara den Grund als solchen völlig negieren lassen, indem sie die eigene Verantwortung über die Negation der materiellen Zwangsläufigkeiten negiert (und damit die Folgen des eigenen Willens), nicht, wie es ein Materialist tun würde, über die Negation des Willens.

Ein verführerisches, träumerhaftes Denken, das ein anderer Weg ist sich vor der Totalität der unendlichen materiellen Faktoren zu ergeben. Im Endeffekt spielt es nämlich keine Rolle, ob man den Grund warum Wario so selten vergessen wird nicht erfassen kann oder ob es, wie Murakami sagt, keinen Grund gibt. Die beiden Annahmen lassen sich weder beweisen noch widerlegen. Bei Murakami dient die Negation der Verantwortung dazu, das Hacken von Zimts Rechner von der Aura des Bösen zu befreien, dazu als Hauptcharakter weiterhin einen Helden zu haben, bei mir dazu meine eigene Vergesslichkeit zu erklären, beziehungsweise zu rechtfertigen.

Doch ohne Kasaharas Motorradmanöver kein Sommer im Garten, ohne Sommer im Garten kein Treffen mit dem Aufziehvogel, ohne Treffen mit dem Aufziehvogel kein Brunnen und so weiter.

Der Gegensatz von Gut und Böse ist in den Aufziehvogelaufzeichnungen allgegenwärtig, aber wenn man tatsächlich nach harten Fakten sucht, die die Wario=Fraktion, Wataya und Ushikawa, böse machen und den kōbōgleichen Ich=Erzähler gut, dann finden wir erstaunlich wenig. Ushikawa hat seine Kinder misshandelt, ist aber selbst gleichzeitig Opfer, da er selbst von anderen misshandelt wurde. Wataya hat in die Unterwäsche seiner Schwester gewichst und sonst eigentlich nichts verbrochen. Man könnte Wataya als Vertreter der herrschenden Klasse Japans betrachten, „der Scheißaffen der Scheißinsel“, aber dann ergibt sich automatisch die Frage, was ihn eigentlich von Muskat unterscheidet. Beide sind zu ihrem Reichtum durch ein vergleichbares Maß an Arbeit gelangt, was nicht heißen soll, dass die Leute, die arm geblieben sind grundsätzlich weniger gearbeitet hätten, ganz im Gegenteil, die Frage ist, warum Muskats Erfolg „gerecht“ ist und warum Wataya mit dem Tod gestraft wird.

Laufe an Einfamilienhäusern vorbei. Die Durchschnittsmenschen in Durchschnittshäusern, die der Aufziehvogel scheinbar beneidet, da sie sich nicht mit Frauen herumzuschlagen haben, die ihnen Klamotten und Uhren kaufen.. Hinter diesem vorgeblich begehrlichen Blick zurück auf die eigene Vergangenheit im dritten Teil der Aufziehvogelaufzeichnungen verbirgt sich auch ein eitles Kokettieren mit dem eigenen Erreichten, das wir in vielen Geschichten Murakamis finden. Murakami ist niemand, der sich mit hungernden Bauern oder kämpfenden Arbeitern gemein machen würde und wenn er sein Missfallen ausdrückt darüber, dass Kumikos Vater Japan als Klassengesellschaft charakterisiert, in der nur der Stärkste überlebt, so richtet sich das Unbehagen weniger gegen das von ihm immer als vorherbestimmt gezeichnete Wohlstandsgefälle, seine Ablehnung trifft den Versuch, daran willentlich etwas zu ändern, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. So ist auch der Krieg nichts, für das sich Japan in irgendeiner Weise zu verantworten hat, das U=Boot, das ihr Schiff versenken will, könnte nach Muskat überall auftauchen, jederzeit.

Der Aufziehvogel weiß, dass er für seinen Reichtum nicht gearbeitet hat, er glaubt ihn durch eine höhere Ordnung zugeteilt bekommen, daher muss auch die Person, die dem Aufziehvogel das für ihn Widerwärtige unterstellt – für seinen Wohlstand gearbeitet zu haben –, eine äußerst abstoßende sein: es ist Ushikawa.

Ich konnte mir nicht helfen, desto abstoßender Murakami Ushikawa beschrieb, desto fanatischer Murakami sich auch später in 1q84 in seinen Hasstiraden22 steigerte, desto sympathischer wurde Toshiharu Ushikawa, wie wir dort seinen vollen Namen erfahren, mir. Als er dann Ushikawa umbringen ließ, empfand ich nur noch Hass. Hass auf Tamaru.

Abends ins Onsen. Dann ins Zelt.

 

Früh am Morgen. Als ich das Zelt zusammenpacke, kommt eine Gruppe Grundschüler vorbei und schaut mich mit großen Augen an. Verbeuge mich und wünsche lächelnd einen guten Morgen. Sie verbeugen sich und grüßen zurück, dann gehen sie mit verwunderten Gesichtern weiter.

Das Gebiet, durch das ich laufe, ist dieses für Japan typische Zwischending aus Stadt und Land. Felder und Gewächshäuser durchsetzt mit kleinen Werkhallen und Einfamilienhäusern, als wenn sich dieser Landstrich einfach nicht entscheiden konnte. Bei zahlreichen anderen Schulkindern löse ich ein ebenso großes Erstaunen aus. Ein Kind wäre, als es mich anstarrend über die Straße lief, fast von einem Auto erfasst worden. Setze mich in eine Ecke und trinke einen warmen Kakao aus dem Automaten. In einer Viertelstunde werden die Kinder alle in den Klassen sein. Dann kann ich weiter, ohne irgendwelche kleinen Seelen auf dem Gewissen zu haben.

Eine lange Brücke. Ewig lang. Ich muss aufs Klo. Ich komme zu einer Toilette und will hinein, da sagt der davorstehende Mann: „Besetzt!“ „Warten Sie?“, frage ich und er antwortet: „Ja.“ Irgendwann kommen Geräusche aus der Kabuff und der Mann geht in den Waschraum vor der Toilette. Dann kommt ein anderer Mann mit einer sehr sehr alten Dame heraus, der er vermutlich geholfen hat. Warte darauf, dass der, der jetzt drauf ist endlich fertig wird und das Warten wird immer unangenehmer. Irgendwann kommt mir der Gedanke, dass es sich vielleicht um denselben Typen gehandelt hat, doch ich tue es als Wunschdenken ab. „Du könntest ja einfach mal klopfen!“, sage ich zu mir selbst, doch bringe ich es nicht fertig, den Mann zu hetzen, nachdem er selbst so diszipliniert gewartet hat. Irgendwann geht es nicht mehr und siehe da: die Toilette ist leer! Er sagte ja auch nur, dass er warte, davon, dass er selbst aufs Klo wolle, war nie die Rede..

Ich hatte schon immer Probleme Gesichter auseinanderzuhalten. Vielleicht ist das einer der Gründe warum mir Asiaten zunächst so sympathisch waren, war einer von ihnen dabei, konnte man wenigstens ihn vom Rest unterscheiden. Dieser Vorteil verschwindet aber sobald man in Asien ist. Er wandelt sich sogar ins Gegenteil, da hier nun alle nicht nur die gleichen Gesichter haben, sondern auch noch die gleichen Frisuren, die gleiche Haarfarbe und die gleichen Klamotten! Als ich in Korea arbeitete, stellte sich nach einem Monat heraus, dass einer der Kollegen aus vieren bestand.

 

22Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.577

 

 

 

 

Tempel 35

 

Manchmal blutet mir das Herz, wenn ich den Niedergang der japanischen Kleinstädte sehe. Die ganzen verrammelten Läden und Häuser.. Wenn ich Läden sehe, in denen noch etwas verkauft wird, die aber offenkundig zu wenig abwerfen, um das Haus in Stand zu halten, dann möchte ich immer aus reinem Mitleid irgendwas kaufen. Aber ich muss auch selbst haushalten. Manchmal frage ich mich, ob diese Menschen sich von den Texten Murakamis und den darin zur Schau getragenen Konsumverheißungen verarscht vorkommen. Wahrscheinlich nicht. Es ist ein bisschen wie mit den Fußballspielern: ihre Gier ist, entgegen manch anderer gesellschaftlicher Gruppen, sozial akzeptiert und Murakami sorgt mit seinen Sprachausschmückungen dafür, dass die, von denen er es will, akzeptiert reich werden und nur denen, von denen er es nicht will, ein nicht zu akzeptierender Reichtum zufällt.

Drei Nudelsuppen esse ich in der Stadt. Ich wusste, dass ich auf dem Weg abnehmen würde, doch hatte ich die zwei Löcher Spiel, die ich am Gürtel hatte, für ausreichend gehalten. Falsch. Die Hose rutscht. Ich muss mehr Essen. Sitze am Fluss in der Sonne und lese.

Es folgt ein langer Tunnel. Laut Plan zweigt davor rechts ein Weg über den Berg ab, doch da ist nur Dickicht. Es gibt oft solche Wege, die es nicht gibt. Sie sind gestrichelte Linien auf den japanischen Karten. Erinnerungen. Wenn sich niemand die Mühe macht, sie alle paar Monate freizuschneiden, verschwinden sie einfach, werden geschluckt und leben nur noch auf dem Papier fort. Der Tunnel hat einen Fußweg. Die LKW brausen im fahlen Licht an einem vorbei und ein Ende ist nicht in Sicht. Ganz von selbst kommt mir die Melodie aus Kusturicas „Underground“ in den Sinn. Die Szene, als der ertrunkene Sohn und seine Braut den Grund der Donau entlangtauchen. Es würde mich nicht weiter wundern, wenn aus einem der Lastwagen plötzlich habgierige VN=Soldaten sprängen und hundert Euro für die Mitnahme verlangten.

Hinter dem Tunnel liegt das Hafennest der unbegrenzten Möglichkeiten, hier liegt Usa. Wortspiele sind in Japan ähnlich beliebt wie in Deutschland, so schrieb Endō in Eine Klinik in Tokio über Seife, die in der Nachkriegszeit als „Made in USA“ verscherbelt wurde und auch sonst scheint niemand an diesem Assoziationssprung vorbeizukommen, zieht er durch diesen Ort. Zeit über das gespannte Verhältnis Japans zu der Großmacht auf der anderen Seite des Ozeans zu nachzudenken, das von zwei Plätzen geprägt ist: Hawaii und Hiroshima.

Ein Kommilitone, mit dem ich mich mal über die Rolle der USA in Japan unterhalten habe, sagte „die [USA] liegen da ja auch gleich“. Nicht ganz. Der Stille Ozean ist ein riesiges Gewässer, von Tōkyō nach Los Angeles ist es Pi mal Daumen genausoweit wie nach Berlin. Hawaii war nur einer dieser abgeschiedenen pazifischen Flecken im Nichts. Ein Staat auf dem halben Wege zwischen Asien und Amerika, der der US=Invasion Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit einem mehrjährigen Partisanenkrieg begegnete, aber letztlich fiel. Japan, das mit Hawaii eine lose Verbindung gepflegt hatte, protestierte, war aber außerstande gegen die USA etwas auszurichten und annektierte wenig später selbst Korea, das sich, ähnlich wie Hawaii, noch auf dem Sprung von der Sklavenhaltegesellschaft zum Feudalismus befand. Im Katsura=Taft=Abkommen 1905 erkannten schließlich beide Mächte die Eroberungen des jeweils anderen an und bestätigten dies noch einmal im Lansing=Ishii=Abkommen 1917. Es herrschte Burgfrieden bis Anfang der Vierziger.

Es ist schwer zu sagen, in wieweit die damalige Emanzipationspropaganda Japans gegen den „westlichen“ Kolonialismus ernst zu nehmen ist. Oft wird von einer asiatischen Monroe=Doktrin gesprochen, also Asien den Asiaten statt Amerika den Amerikanern. Und genauso wie Amerika den Amerikanern Lateinamerika den USA bedeutete, bedeutete Asien den Asiaten Ostasien dem Japanischen Reich. Das Gut=Böse=Schema, das sich auf den europäischen Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs leicht ziehen lässt, lässt sich in der Form auf diesen Konflikt nicht übertragen. Japan war zwar ein faschistischer Staat, doch es gab keine Nürnberger Gesetze. Tatsächlich waren es die US=Amerikaner und Engländer, die die rassistische Seite in dem Konflikt stellten und auf die Japaner mit Begriffen wie „Monkey Men“ oder „Subhuman“ bezugnahmen. Es waren britische Kolonialisten wie Cecil Rhodes, die davon sprachen, dass Gott die englische Rasse dazu schuf, die Welt zu unterwerfen oder US=Präsidenten wie Taft, die verkündeten, dass der Tag nicht mehr fern sei, da am Nord= wie am Südpol US=Fahnen flatterten und alles dazwischen „uns“ gehöre dank „unserer“ rassischen Überlegenheit, ja, und es waren englische Gesellschaftsklubs, die in Schanghai das Schild „Für Hunde und Chinesen verboten“ führten.

Die Japaner gefielen sich in der Rolle der Befreier, als die sie in vielen vormals westlichen Kolonien, die sie einnahmen, zunächst auch begrüßt wurden und riefen in ihrer Propaganda auch die Schwarzen in den USA zum gemeinsamen Kampf gegen die weißen Kolonialisten auf und tatsächlich hatte es, nachdem bekannt wurde, dass die US=Pazifikflotte in Hawaii versenkt wurde, in den Gettos von Los Angeles und New Orleans auch spontane Freudenfeiern gegeben – bis heute in den USA ein absolutes Tabuthema –, die aber weniger auf einen japanischen Einfluss auf die diskriminierten Bevölkerungsteile im us=amerikanischen Apartheitssystem zurückzuführen waren, sondern wohl dem Fakt geschuldet, dass mit der Marine ausgerechnet der Teil der Streitkräfte von einer „farbigen“ Macht getroffen wurde, der sich bis dahin geweigert hatte, auch nur einen einzigen Nichtweißen bei sich aufzunehmen. Es war Bukowski, der die Frage stellte, warum denn ein Schwarzer für das System sterben sollte, im Zweifelsfalle ginge es ihm doch unter den Japanern besser.

Die „Befreiten“ in Asien bekamen allerdings schnell zu spüren, dass die sie befreienden Mitasiaten, sie noch weit brutaler ausbeuteten, als die vertriebenen Weißen.

Das Eingreifen der Sowjetunion beendete schließlich den Krieg. Hiroshima hat nichts zur Kapitulationsentscheidung Japans beigetragen, die Schäden waren zunächst tatsächlich geringer als in den konventionell ausgebombten Städten. Aber von japanischer Seite wird heute rund um Hiroshima ein Kult zelebriert, der vor allem dem Zweck dient, die eigenen Taten im Krieg zu überdecken. Der Opfermythos wurde auch in anderen Teilen der Welt allzu gerne zum Rechtfertigen des eigenen Antiamerikanismus und als Agitationsbasis gegen das atomare Wettrüsten übernommen und von der Sowjetunion finanziell unterstützt. Das Interesse der Sowjetunion war es, mit den Millionen, die sie in die Friedensbewegungen weltweit steckte, den Rüstungsdruck durch die Amerikaner, der sie am Ende in die Knie zwang, zu lindern und der Antrieb von Aktivisten wie Petra Kelley, die den Begriff „Bombenholocaust“ schuf und damit, ob gewollt oder ungewollt, auch deutsche Verbrechen relativierte, war fraglos die ehrliche Angst vor einem atomaren Weltkrieg. Doch die Japaner fühlten sich in ihrer Opferrolle durch den weltweiten Widerhall nur bestätigt und so kam es bis heute zu keiner Aufarbeitung der eigenen Kriegsgeschichte.

In Hiroshima steht ein ansprechend gestalteter Gedenkpark mit einem architektonisch herausragenden Gebäude, dessen Inhalt umso katastrophaler ist: Es ist das Gedenkmuseum. Kann man sich vorstellen ein Museum zu eröffnen, in dem es um eine ausgebombte Stadt geht, ohne den Krieg zu erwähnen, in dessen Rahmen sie ausgebombt wurde? In Japan hat man die Quadratur des Kreises geschafft – der Krieg kommt hier nicht vor. Kein Wort über China, Vietnam, Indonesien, die alle Opfer zwischen einer und zweiundzwanzig Millionen Menschen zu beklagen hatten.

Man kann Parallelen zu Dresden ziehen, wo die deutsche Rechte sich immer wieder im selbstgerechten Opferkult gefällt und entgegen aller Fakten den Mythos einer unschuldigen Stadt beschwört. Ähnliches geschieht auch mit Hiroshima, das in Wirklichkeit, wie Dresden, ein Hauptfrontversorgungsdrehpunkt der Armee mit zahlreichen kriegswichtigen Fabriken war.

Bei vielen US=Amerikanern herrscht der Trotz vor. Ihre Historiker gefallen sich in zynischen Konstrukten, nach denen Hiroshima Japan vor einer sowjetischen Invasion bewahrt habe. Die Ausgebombten haben den USA gefälligst dankbar zu sein. Eine serbische Schriftstellerin, ich erinnere mich leider nicht mehr an ihren Namen, sagte nach dem elften September: „Wir wissen wie es ist, wenn Flugzeuge kommen und alles kaputt machen. Aber die Amerikaner verstehen das nicht.“

Die USA sind heute Projektionsfläche der ihrer Eliten müden Japaner. Bei Murakamis ersten Werken finden wir das in einer Schwemme an us=amerikanischer Konsumgütern und Autoren. Es ist immer auch eine Absage an das eigene Establishment. Wenn man sich an den Strand zu den Surfern setzt, können sie einem alle Disneyfilme auswendig aufsagen, aber von Kōbō Daishi haben viele noch nie gehört.

Die Ablehnung der Eliten bei Murakami findet aus einem dumpfen unreflektierten Gefühl heraus statt, das zugeschüttete Meer wird in Wilde Schafsjagd betrauert, das dazugehörige Wirtschaftssystem nicht, sein Partner und bester Freund, der sich am System stößt und im Alkohol endet, wird sogar als Verlierer verspottet, von dem sich Murakami einfach so trennt, nachdem er ihm nicht mehr nützlich ist. Auch in Naokos Lächeln haben wir diese us=amerikanischen Ausstattungsgegenstände in Verbindung mit einer dumpfen Vergangenheitsverklärung und nicht zuletzt in den Aufziehvogelaufzeichnungen.

Ähnlich der Vergangenheitsverklärung in Endōs Eine Klinik in Tokio sind die Rückblicke in Murakamis späteren Werken außer der Absage an die Nachkriegseliten und der Einparteienherrschaft der LDP auch eine Suche nach Individualität, dem eigenen selbst, und mit der Individualität nach Identität, nach Bindung, Gleichheit und Halt. Murakami sucht sein Heil zunächst im „westlichen“ Konsum, der ihm und vielen anderen Menschen aber keinen Halt bieten kann, wie er in Untergrundkrieger herausarbeitet. Denn was ist das denn, „der Westen“? Wenn in Berlin von „Mitteleuropa“ gesprochen wird, dann meint man Deutschland, die Schweiz und Österreich. Wenn in den USA von „dem Westen“ gesprochen wird meint man ebenfalls vor allem sich selbst. Das wird auch indirekt zugegeben, wenn ihre Historiker die preußisch beeinflusste Mēdshi=Verfassung des Vorkriegsjapans als „Abfall vom Westen“ bezeichnen. Die Kultur der USA und die Identität ihrer Bürger basieren auf drei Säulen: Konsum, Nationalismus und Religion. Da die letzten beiden nicht in Frage kommen, wurde nur der Konsum als Kulturgut „des Westens“ in Japan übernommen.

Kafka am Strand ist zwar keine Kehrtwendung aber doch einen Kurswechsel. Die Zahl japanischer Kulturreferenzen hält sich hier mit den „westlichen“ die Waage und erst bei 1q84 dominieren klar die japanischen Konsumgüter. Eine Art Rückbesinnung, die aber nicht mit einer Kritik des Konsums einhergeht, der Konsum wird vielmehr national aufgeladen, indirekt eine Gemeinschaft apostrophiert, die über den „westlichen“ Konsum zuerst negiert worden war, es ist die Erkenntnis, dass die Negation der Gemeinschaft oder des Althergebrachten an sich kein eigenständiges Ich erzeugt, sondern eben nur eines, das sich über seine Antihaltung definiert, um aus Senecas Vom Glückseligen Leben zu zitieren: „Für einen, der nicht weiß, nach welchem Hafen er steuern will, gibt es keinen günstigen Wind.“23 Die Gemeinschaft bleibt aber abstrakt, zu groß ist die Angst Murakamis vor den anderen Menschen, vor Verantwortung und Vertrauen. Lieber bindet sich das entfremdete Individuum an die Idee eines Staates als an eine echte Gruppe.

Möwen schweben über den vertäuten Fischerbooten, als ich ihnen meine abendliche Bentōschachtel mampfend bei schaukeln zusehe. In Usa gibt es eine kleine, ehemalige, etwas schmuddelige Bushaltestelle, in der man übernachten kann. Im Netz stand „kurz vor der Brücke“.. Nun gut, „vor der Brücke“ hängt natürlich davon ab, aus welcher Richtung man kommt und der Begriff „kurz“ ist auch dehnbar. Aber schlussendlich finde ich sie.

 

Als ich aufwache stehen eine Kanne Kaffee, mehrere Mandarinen und zwei Toast vor mir. Danke! Das Glück, das die kleinen Liebenswürdigkeiten erzeugen.. Es ist unendlich mehr Wert als der Preis der Dinge, die man erhält. Die Liebe des Menschen zum Menschen ist nicht messbar.

Die Brücke ist ein Grauen. Nicht nur ist das Geländer viel zu niedrig, damit sie nicht brechen beim nächsten Erdbeben, sind die meisten Brücken in Japan so gebaut, dass sie schwingen können. Was sie auch tun. Bei jedem Auto. Wanke weiter. Schritt für Schritt. Über den Abgrund.

Als ich am Meer auf einem Betonsockel sitze erschallt der Ruf „Osettai!“ und ich werde von einer Schachtel Hope=Zigaretten am Kopf getroffen. Das Auto fährt ohne zu halten weiter. Man muss wohl zur Arbeit. Als Nichtraucher dienen die Zigaretten den nächsten Dshidsō als Räucherstäbchenersatz.

 

23Seneca Vom Glückseligen Leben, Alfred=Kröner=Verlag, Stuttgard 1978, S.235

 

 

 

 

Tempel 36

 

Nach Sechsunddreißig sitze ich auf einem Berg und schaue aufs Meer. In einem weiten Bogen ziehen sich die Berge Kōtshis in tiefem Blau in die Ferne hinaus, bis sie weit draußen bei Muroto vom Wassern geschluckt werden.

Die Strecke ähnelt der Strecke hinter Dreiundzwanzig. Hoch oben an den Bergen schlängelt sich eine Panoramastraße den Stillen Ozean entlang. Steht man unten am Strand, sieht man nicht weit. Gerade mal fünf Kilometer. Erst oben auf den Bergen erschließt sich die Allgewalt dieser riesigen Wasser in ihrer uferlosen Ewigkeit und macht einen stumm.

Ein Aussichtspunkt. Viele Katzen. Kein Getränkeautomat. Doch die Dshidsō schicken mir Rettung: zwei Frauen, die gerade selbst die Pilgerfahrt machen. Mit dem Auto. Eine von ihnen zum sechsunddreißigsten Mal. Sie versorgen mich mit leckeren selbstgemachten Onigiri24 und heißem Tee. Eine von ihnen betreibt eine Herberge kurz vor Ashidsuri. Verspreche dort vorbeizukommen.

 

Morgens erwache ich unter einer dünnen Schneeschicht in einer Hütte. Das doofe am Schnee ist seine Leichtigkeit. Der Wind, der die ganze Nacht tobte, blies ihn überallhin. Die Kälte macht die Finger klamm. Schreibe später weiter.

Der Wind und der Schnee wollen heute nicht aufhören. Es ist nicht eigentlich kalt. Der Schnee schmilzt sobald er mit etwas in Berührung kommt und der Wind trocknet alles sofort weg. Der Wind ist der strenge strafende Tod, der einen durchpeitscht und jede Wärme aus der mehrschichtigen Kleidung saugt. Ich bin auf dem Weg in ein kleines abgelegenes Onsen in den Bergen. Das dunkle Grünbraun der Berge verwandelt sich mit dem Weißschleier in ein undefinierbares Anthrazit. Fühle mich ein bisschen an meine Zeit in Korea erinnert.. Die kalten grauen Berge und der beißende, immerzürnende Nordwind, der gnadenlos tagein tagaus pfiff – die rachsüchtige Seele des koreanischen Winters. Nur, dass die Pflanzendichte dort weit dünner war.

Das warme Wasser wirkt Wunder. Im Sommer habe ich mich oft erwischt, wie ich hochnäsig auf den japanischen Onsenkult hinabblickte. Ungläubigkeit macht sich breit, wenn einem Japaner – ohne mit der Wimper zu zucken – erzählen, es sei angenehm, bei achtunddreißig Grad Lufttemperatur in vierundvierzig Grad heißem Wasser zu baden. Doch nach dem Morgen im Wind ist es das Bestmögliche, was man machen kann.

Auf dem Weg nach Ōma, ich versuche mich gerade an einem Wortspiel, lasse es aber wegen zu großer Flachheit dann doch, begegnet mir ein Schild, auf dem ein halbaufgetauchter Schwimmsaurier mit Filzhut mit einem Fisch flirtet. Auf dem aus dem Wasser ragenden Buckel des Sauriers sitzt ein Frosch und schaut den Betrachter an. Was will uns dieses Schild sagen? Richtig geraten: dass in hundert Metern eine Baustelle kommt. Was die drei Viecher damit zu tun haben? Ich weiß es nicht. Warum der Schwimmsaurier einen Filzhut auf hat? Ich weiß es nicht. Was der Frosch auf dem Rücken des Schwimmsauriers macht? Ich weiß es nicht. Wie der Frosch im Salzwasser überleben will, wenn der Saurier taucht? Jetzt hör auf innere Stimme! Wir haben es mit Japanern zu tun. Akzeptier es einfach.

Am Ortseingang von Ōma stehen auf der Fensterbank einer öffentlichen Toilette zwei Dosen Bier in einer Tüte. Die hat wohl jemand bei seiner gestrigen Sauftour vergessen. Auch wenn der Besitzer sich sicherlich nicht mehr an sie erinnert – man könnte sie als Zeichen des Schicksals, als eine Form höherer Fügung, ja, als die Bierdosen Gottes betrachten –, es ist einfach noch zu früh und um das zusätzliche Kilo zu schleppen reicht die Verlockung dann doch nicht aus. Die Frau, die den Waschsalon im Ort betreibt, schenkt mir als Osettai einen Kaffee und eine Tüte getrockneten Oktopus, eine traditionelle Knabberei zum Bier. Ōma will mich unbedingt besoffen machen. Doch der Oktopus schmeckt auch so sehr gut, wenn auch etwas trocken.

Sitze am Fenster, esse Nudelsuppe und sehe dem dünnen Schnee beim fallen zu. Er scheint die heulenden Windböen grafisch untermalen zu wollen, so wie man früher Mp3s auf dem Rechner visualisiert hat. Irgendwann macht der Laden zu.

 

Morgens eingeschneit im Zelt. Ich sitze fest. Das Licht.. wabernder Schein einer kalten Glut. Gestern war ich noch eine Weile durchs Schneegestöber gezogen. Wario war in Samuraiart in den Bauchgurt des Rucksacks gesteckt worden, sodass ich die Ärmel ineinander schieben konnte. So ging es. So ging ich. Ogami war wieder unterwegs. Irgendwann bemerkte ich, dass der Schnee begann liegenzubleiben. Es war höchste Eisenbahn, das Zelt aufzustellen. Und nun liege ich hier und warte, dass es taut. Ich habe durchaus mit ein paar kalten Nächten gerechnet, aber die beiden südlichen Kaps auf Shikoku gelten bereits als Subtropen und ich liege hier am Meer im rauschen des Kuroshio, des „Schwarzen Stroms“, der warmes Wasser direkt vom Äquator nach Japan pumpt.

Um mich herum taut alles. Das heißt, dass man mit jedem Schritt in fünf Zentimeter Schnee tritt, der bei der Berührung unvermittelt schmilzt und einem als Eiswasser in die Schuhe läuft und so sind meine Schuhe nach zehn Metern pitschnass. Aber es geht. Durchs Laufen wird einem warm und bald auch das Wasser in den Schuhen.

Ein kalter, klarer Wintertag. Die Sonne scheint bleich und weiß auf mich nieder, als ich am Meer entlanglaufe. Eine schmale Straße schlängelt sich durch Kaskaden die Klippe entlang.

Nachmittags mache ich an einem verlassenen Surfercafe rast, wo ein abgemagerter Surferkater von mir gestreichelt werden will. Er wirkt sehr angeschlagen. Lang wird ers wohl nicht mehr machen. Der Himmel ist wieder voller Wolken. Angst überkommt mich, dass es heute Nacht wieder schneit. Der kleine schmutzige Kater schnurrt. Manchmal beneide ich Katzen um ihr Leben – selbst wenn es kein langes ist. Kure ist nicht weit. Von da an ginge es wieder in die Berge. Beschließe das Wetter heute Nacht abzuwarten. Mit den nassen Füßen war die Strecke heute eh mehr als genug. Der schmutzige Kater putzt sich ausführlich. Nenne ihn Noboru Wataya. Es fängt wieder das Schneien an. Wie gerne säße ich jetzt mit einem Bier in Kasaharas hochsommerlichen Garten. Die Regenzeit wäre gerade vorbei, alles Chlorophyll leuchtete um die Wette und es wäre warm.. Schlafe unter dem Cafevordach. Mehrere Male schrecke ich nachts die Katze, die sich an meinen Schlafsack schmiegt, auf, als ich mich umdrehe.

 

Morgens mit dem ersten Schimmer am Horizont ziehe ich los. Meine Karte erweist sich mal wieder als abgrundtief schlecht. Es fehlen nicht nur zahlreiche Straßen, es sind auch viele falsch eingezeichnet und eine Straße ist drin, die es nicht gibt. Sich selbst zu loben stinkt, aber ich habe mich daran gewöhnt, besser in Orientierung zu sein als die Menschen, die mich umgeben. Es gibt ja auch Dinge, in denen ich schlecht bin, Kopfrechnen zum Beispiel. Aber genauso frustrierend, wie es für einen Mathematiker wäre, auf meine Kopfrechenkünste angewiesen zu sein, ist es für mich, auf Karten angewiesen zu sein, deren Zeichner keinen Schimmer von den Verhältnissen vor Ort haben. Die nichtexistente Straße würde – theoretisch – parallel zur den Berg erklimmenden und gemeingefährlichen Bundesstraße verlaufen und mir so den matschigen und immer noch verschneiten Waldweg ersparen. Einzig sie gibt es nicht. Also durch den Eismatsch. Ich stand vor der Wahl nach Shikoku oder nach Timor zu fliegen. Zweifel nagen an mir, ob ich mich wirklich richtig entschieden hab.

Der Berg ist geschafft. Der Schnee ist geschmolzen. Rechts kommt ein großer Udonladen mit einer Riesenportionen Udon für vierhundertachtzig Yen. Genau das Richtige. Warm und satt. Die Dshidsō meinen es gut mit mir. Gestärkt breche ich auf. Alle Zweifel sind verflogen. Hatte ich Zweifel? Shikoku ich liebe dich!

Bei Kageno nehme ich einen kleinen Umweg über ein Nebental zum Shimanto. Der ländliche Frieden. Die Krähen verwandeln ihn in eine Friedhofsruhe. In innerer Stille wandere ich weiter. Es wird wärmer. Morgen ist der Winter wieder vorbei.

Der Shimanto. Ein breites, grünes, fruchtbares Tal. Die Sonne scheint. Sitze am Fluss und lese. Glück.

Komme abends nach Kubokawa. Hier hatten die Menschen 1981 den Bau eines AKWs verhindert. Das einzige Kernkraftwerk, das auf Shikoku in Betrieb genommen wurde, steht drüben in Ehime inzwischen ebenfalls still. Die Bevölkerung Japans hat durchaus die Möglichkeiten solche Projekte zu verhindern und zu stoppen, doch sie macht leider viel zu selten Gebrauch von ihrer Macht, da ihr von kleinauf die konfuzianische Elitenideologie eingetrichtert wurde, sodass sie irgendwann selbst zu glauben begann, die Mächtigen wüssten alles besser. Angesichts dieser Gehirnwäsche gleicht der Erfolg der Kubokawaer einem Wunder.25

 

24Gefüllte Reisbällchen. Vergleichbar mit der belegte Stulle.

25(Ampo 1981 13/1 s36) (Zitat Nachsehen)

 

 

 

 

Tempel 37

 

Auf dem Weg zum Kappamuseum. Kappa sind kleine grüne Flussungeheuer, die mit Vorliebe Kinder und Pferde in den Abgrund reißen und Gurken und alles was grün ist lieben. Es ist ein Umweg. Oder ist es ein Abweg? Gestern Abend war es, als das Böse von mir Besitz ergriff. Ich war in einer Herberge abgestiegen, doch bereute ich diese Entscheidung schon bald, da das schnarchende Schwein nebenan mir jeden Schlaf raubte und in mir, alles Gutmenschengedöns über den Haufen werfend, bald der Ruf nach dem Schlachtermesser erklang, das dem Gegrunze ein Ende bereiten würde. Innerlich die Klingen wetzend sah ich, dass auf dem Mülleimer im Klo „Vario“ stand. Mein Stock wies mir den Weg. Nun wandere ich den Shimanto entlang und singe „Praise the Lord and pass the Amunition“. Ogami auf dem Weg der Hölle.

Würge das Schaumstoffweißbrot, das ich Vortags gekauft habe, herunter. Es gibt wenig Essen in Japan, das außerhalb des Kühlschranks nennenswerte Haltbarkeit besitzt, so bleiben, außer dem Schaumstoffweiß„brot“, nur die Optionen Schokolade oder Chips. Wer es nicht schafft, in sich morgens Schokolade oder Chips reinzustopfen, dem bleibt nur dieses „Brot“. Wenn der Ekel zu groß ist, kann man die vier Zentimeter dicken Scheiben auf Pillengröße zusammendrücken und sie als Ganzes schlucken und so seinen morgendlichen Leidensweg verkürzen. Pilgern bedeutet immer auch sich überwinden. Nach drei dieser heruntergewürgten Pillen, mehr enthält eine Packung „Brot“ in Japan nicht, stellt sich die Frage, wohin mit der Verpackung?

Das Osteuropainstitut der FU hatte einen mit einem äußerst großzügigen Einwurfschlitz direkt neben drei in Farbe und Form zueinander völlig unterschiedlichen Mülleimern platzierten Briefkasten, der mit dem Zettel versehen war, „Dies ist ein Briefkasten! Kein Mülleimer!“,26 den ich leider erst nach der Entsorgung des Döners, der entgegen meines Wunsches mit Kräutersoße statt mit scharfer Soße ausgewischt worden war, zur Kenntnis nahm. Die ersten versuchsweise aufgestellten Mülleimer in Tōkyō sollen wieder abgeschraubt worden sein, weil die Leute, trotz des Hinweisschildes „Das ist ein Mülleimer, kein Briefkasten“, ihre Post dort hineinwarfen. Wie viele herzzerreißende Liebesepen mögen hier ihr jähes Ende gefunden haben?

Es gibt drei Arten wie Japaner ihren Müll entsorgen: entweder sie werfen ihn in den nächsten Fluss oder in den nächsten Fahrradkorb oder sie verbrennen ihn nach Art der Takitanis im Garten. Es gibt keine Mülleimer in Japan. Auf dem Land erst recht nicht. Wie oft habe ich den Fahrradkorb an meinem Rad in Tōkyō verflucht, wenn er wieder gefüllt war mit leeren Dosen, Zeitungen und was die Leute eben sonst noch so grade loswerden wollten.

Merke, wie die dunkle Seite der Macht in mir vibriert, als ich meinen Müll in einen Fahrradkorb stecke. Wario greift nach meiner Seele.

Von der Kappahalle hatte ich mir nicht übermäßig viel versprochen. Wie oft hatte ich erlebt, dass als Museen angepriesene Orte sich als winzige Räume mit ein paar lieblos zusammengestellten Fotos entpuppten. Umso schöner wurde ich von der Kappahalle überrascht. Da, wo der Bergkamm zwischen dem Zusammenfluss zweier Bäche im Tal versinkt, steht das, in seiner Äußerlichkeit ein bisschen an das Ghiblimuseum erinnernde, geduckte Haus. Eigentlich sind es drei Häuser, viel zu anziehend um echt zu sein, wie einem Märchen entsprungen. Bewacht wird das Haus von einer Armee turnender, ballspielender, fischender hölzerner Kappa. Diese grünen Flussungeheuer beflügeln die Träume ganz Japans. Sie behausen die Flüsse, haben so manches Pferde= und Menschenleben auf dem Gewissen und treiben auch sonst allerlei Unfug.

Ich trete ein in den Tempel der grünen Kobolde und bin nach der Kasse allein in einer Welt tausender verschiedenster Nachbildungen der kleinen Flussalben. Eine Welt, die die kühnsten Räusche E.T.A. Hoffmanns übersteigt. Menschen aus ganz Japan haben ihre Tagträume zu kleinen Plastiken werden lassen und diese Wunderwerke hierher geschickt. Da gibt es verfressene Kappa, spielende Kappa, flugzeugfliegende Kappa, reitende Ritterkappa, lauernde Kappa, glückliche Kappa, badende Kappa, Kappafamilien und all dergleichen vieles vieles mehr..

Ich bin noch im Rausch als ich auf das Museum zurückblicke und mir auffällt, dass hier nirgends Müll liegt. Seit ich in das Tal der Kappahalle eingebogen war, hatte ich keinen herumliegenden Müll gesehen. Mein erster Gedanke gilt den zwei Müllverbrennungsanlagen, an denen ich in den letzten Tagen vorbeigekommen bin. Nein, nicht dass sie, wenn der Brennstoff knapp wird, ihre Azubis mit nem blauen Sack Nachschub holen schicken, sondern dass sie, als Ausgleich für die von ihnen ausgehende Luftverschmutzung, die Straßen rein halten, um sich das Wohlwollen der Anwohner zu sichern. Auch die Schilder mit moralisierenden Aufschriften wie „Wer seine Umwelt verschmutzt, verschmutz auch sein Herz!“ oder „Es ist auch deine Umwelt, verschmutze sie nicht!“ oder solche die drakonische Geldstrafen androhten (an der Strafsumme, die ich mir abgeschrieben hatte, zweifle ich im Nachhinein, hatte ich ein Komma vergessen? oder mich verschrieben?) spielen sicher eine Rolle, doch stecken hinter alledem nicht eigentlich die Kappa? Vielleicht muss man das in Japan sonst so verbreitete Müll=in=den=Fluss=werfen als rituelles Austreiben der Kappa betrachten. Hier tat man es nicht, hier lebte man im Frieden mit den Kappa. Oder waren die Kappa hier die heimlichen Herrscher?

Etwas später komme ich zu einem hässlichen Zweckbau, dessen ausladende Betonüberhänge sich aber perfekt zum Nächtigen eignen. Davor sind zahlreiche hölzerne Kampfflugzeuge, in die Kinder klettern und herumfahren können. Neben japanischen und englischen Zweiterweltkriegsmaschinen gibt es einen Doppeldecker mit Hakenkreuzemblem. „Ach, Japan“, seufzt mein hilfloses Inneres.

 

Ich habe einen seltsamen Traum: Ein Kumpel schleppt mich auf eine Hochzeit eines Bekannten von ihm, alles ist voller besoffener Russen und die Stimmung ist eher mau, dann kommt Mario Adorf dazu und mir rutscht ein wodkabedingtes „Die Japaner würden sagen: Mario Adolf“ heraus. Alles lacht, die Stimmung ist gerettet. Man stößt auf den Hitler=Stalin=Pakt und die Völkerfreundschaft an, doch dann sehe ich wie Mario Adorf weint und bekomme ein unglaublich schlechtes Gewissen und schäme mich. In dem Moment wache ich auf. Der Morgen graut. Los.

Ich liebe diese Kleinststraßen, die sich durch die abgelegenen Täler schlängeln, durch grüne Paradiese kleiner heiler Welten, in denen man sich immer auch ein bisschen in den Film Totoro versetzt vorkommt..

Das Tal hinter dem Pass ist genauso beschaulich, wie das Tal aus dem ich kam. Das dichte Grün der japanischen Bergtäler, man sieht es nicht nur, man spürt und man riecht und fühlt mit dem ganzen Körper die feuchte Kraft ihres quirligen Wesens. Dieses hat eine steile V=Form, ist aber nicht tief. Entlang eines schmalen Sträßchens drängen sich kleine Hütten und winzige Feldparzellen und wieder einmal beschleicht mich dieses Märchenlandgefühl, der Schein in eine andere Welt hinübergetreten zu sein. Leben in all diesen kleinen Häusern die Kappa? Das scheinbar Wirkliche, ist es wirklich nur Schein?

Die kleine Frau im kleinen Tal. Glühende weiße Augen in einem freundlichen, braungebrannten Gesicht eines kräftigen Mädchens. Als sie mich hereinwinkt, bin ich zunächst etwas verunsichert, doch als ich kräuterteetrinkend vor dem kleinen Ofen im Schein der lodernden Holzscheite sitze, wünsche ich mir nichts mehr, als für immer hier zu bleiben. Sie hat mich verzaubert, die kleine Hexe. Ihre Wohnung ist eine Welt der Bücher, nicht geordnet und gestapelt zu ausladenden Bücherwänden, es war eine wogende Menge, ein Meer der Bücher, das sich zu unregelmäßigen Wellenkämmen erhob oder wild zerstreut in den Flur erbrach. Sie schien sich etwas zu schämen, als ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen lasse und setzte gerade zu einer Erklärung an, doch ein ehrliches „Das ist ja wunderbar!“ brach aus mir hervor. Ich knie mich aus meinem kleinen Flecken herüber und beginne gebannt in den verschiedensten dieser tausend Verheißungen zu blättern. Ein kleines Paradies. Sie erzählt mir, dass sie Holzfällerin ist. Nein, sie fällt sie nicht mit Zaubersprüchen, „Wir haben dafür Maschinen“, sagt sie lachend, „da schaffe selbst ich mit meinen Einseinundfünfzig einen ganzen Wald.“ Stimmt, wir leben nicht mehr in der Zeit, da die Bäume einzeln aus dem Wald getragen werden müssen. Sie holt eine Ukulele hervor und fragt mich ob ich die High=Lows27 mag. „Ich liebe die High=Lows“ platzt aus mir heraus. Ein freudestrahlendes Lachen zieht sich über ihr sonnengegerbtes Gesicht. Stundenlang singen und spielen wir und haben großen Spaß. Abends am Ofen liegen. Dem Knistern des Holzes lauschen.

 

Am Morgen sitzen wir eingemummelt in Decken auf der kleinen Veranda im kleinen Tal und trinken Misosuppe. Als ich noch gedankenverloren am Schlürfen bin, holt sie die Ukulele und beginnt Nitshiyōbiyorinoshisha28 zu singen. „Schalalaala schalalalala schalalaala schalalalala..“

Weiter durch die Kappawelt. In einem Laden suche ich nach Lebensmitteln und es ist auffällig, dass, außer den üblichen Gernelenchips und Kleinkram, es an frischen Lebensmitteln, außer drei Fischen in der Tiefkühltrue, nur Gurkenrollsushi und Pferdesashimi gibt. Das verkappte Wesen, das den Verkäufer mimt, rät mir, ungefragt, eine Einheimische zu heiraten, als ich bezahle. Sie wollen mich hierbehalten!

Das Tal endet völlig unvermittelt hinter einer Kurve, hinter der der kleine Fluss und die kleine Straße in T=Form in einen großen Fluss und eine große Straße münden. Das Ganze geschieht so abrupt, dass ich mich bereits nach zehn Metern auf der neuen Straße frage, ob es die Kappawelt, die ich hinter mir ließ, wirklich gegeben hat.

Der Gesichtskreis und die ungewohnte Weite. Auf eine andere Art Trug. Es ist zu weit. Das Grün der Felder ist zu satt. Die Berge sind zu gleichmäßig. Die Wälder zu dicht. Die Flussschleifen sind zu ausladend. Die Straße ist zu neu. Zu breit. Zu leer. Die Wolken sind zu geschlossen. Ihre hellen und dunklen Flecken zu regelmäßig. Alles wirkt gemalt, klar, künstlich. Ja, selbst der eine Hund, den ich nicht sehe, bellt viel zu rhythmisch.

Durch die dicke Wolkenschicht scheint unwirklich das Licht. Jedes Zeitgefühl geht verloren. Allein zwischen den grünen Wänden wandern meine Gedanken zu Kana. Es wäre schön, wenn sie jetzt hier wäre. Wenn wir schweigend das Ganze zusammen genießen könnten. Abends finde ich eine kleine Hütte am Hang mit Sicht über den Fluss in der Schlucht. Rechts von ihr führt eine Treppe den Höhenunterschied von viereinhalb Stockwerken hinab. Sitze auf dem Kiesbett und blicke in klares Wasser und auf große bemooste Felsen.

Die Hütte bietet Schutz vor dem Regen, den die Wolken seit Tagen verkünden und der jetzt beginnt zu fallen. Der Dauerregen trommelt die Nacht unentwegt aufs Dach. Prasselt gegen die Scheiben. Rauscht im Wald. Die Feuchtigkeit kriecht die Haut hinauf, umhüllte einen. Schicht um Schicht. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die so sehr gesättigte Luft vom gasförmigen in den flüssigen Zustand kippt und ich in ihr ertrinke. Das Wirklichkeitsbewusstsein beginnt sich in Wirklichkeit und Bewusstsein zu trennen. Ich falle in einen schweren Regentraum. Haruna zieht mich durch ihr Tor in die Schwärze.

 

Morgens regnet es noch immer in gleicher Stärke. An Weiterlaufen ist nicht zu denken. Auch mittags gießt es noch in Strömen. Ich glaube, dass Mittag ist. Wirkliche Anhaltszeichen habe ich dafür nicht.

Weit unten die Wasser des Flusses. Gurgelnd. Rauschend. Tönend. Das Grün des Hanges gegenüber, ungefähr fünfzehn Meter von mir, wird durch Wolken unterschiedlicher Dichte stufenweise mit einem Grauschleier überdeckt. Bergspitzen und überhaupt alles, was weiter als vierzig Meter weg ist, ist nicht mehr zu sehen. Unter das Klopfen der Tropfen mischt sich eine innere Stille, das Einssein mit allem. Ich sitze da, genieße die feuchte Luft und meditiere.

Auch abends regnet es ohne Unterlass. Es ist kein Och=es=regnet=Regen, es ist ein Regen, für den die Götter anderswo wohl Wüsten haben entstehen lassen. Würde ich die Hütte verlassen, wäre das mein Ende. Die, die hier aus dem Vollen schöpfen, scheinen mir beweisen zu wollen, wo das satte Grün denn herkommt, das ich gestern so pries.. Doch zweifelte ich doch nie! Oh doch, ich zweifelte! Ich zweifelte am subtropischen Charakter dieses Landstrichs. Liebe Kami, ich bekenne Reue. Lasst mich weiterziehen.

Dass ich vor vierundzwanzig Stunden diese Hütte gefunden habe ist ein unheimliches Glück. Mein Zelt hätte wohl kaum dieser gilgameschgleichen Sintflut standgehalten. Die Hütte ist ein lustiges Konstrukt aus den typischen langen Milchglasfenstern der japanischen Badezimmer. Sie passen sowohl der Form nach, als auch ihrer Musterung nach nicht zueinander, stammen wohl aus verschiedenen Abrisshäusern. Bis auf die Badezimmerfenster wurde man wohl alles los, also baute man eine Hütte aus ihnen, die von einem Holzbalkenskelett zusammengehalten wird. Sie wirkt mehr wie ein Kunstobjekt, als wie das Erzeugnis überschüssiger Materialien.

Es ist kaum zu glauben, dass er es noch kann, aber der Regen wird immer heftiger. Allein der Tropfenstaub, der bei seinem Aufschlag entsteht, gleicht einem kleinen Nieselregen, der in die Hütte hinein wabert. Der Regen verschlingt jetzt alles hinter zehn Metern in seiner dunkelgrauen Masse.

Als der Regen wieder etwas schwächer wird kann ich hinunter bis zum Fluss sehen. Er ist voll. Von den Kieselfeldern, auf denen ich gestern Abend noch gesessen habe, ist nichts mehr übrig. Schäumend überschlagen sich die Fluten. Die Pause wird beendet durch eine fette undurchsichtige Wolkenanakonda, die sich aus der Ferne das Tal hochschlängelt, als hätte sie nicht die Kraft zu ihren Geschwistern über ihr aufzuschließen, ja, als wäre sie von völlig anderem Stoffe. Konnte ich zunächst auf sie hinab= und hinwegsehen, hat sie mich jetzt geschluckt. Die Sichtweite sinkt auf unter fünf Meter und der Regen legt wieder in voller Stärke los.

 

Morgens breche ich auf. Alles um mich steht im Saft und glänzt grün und satt. Ich gehe eine kleine Straße Richtung Meer entlang und suche nach einer Gelegenheit, mich einen Augenblick zu setzen, doch alles hier ist von Moos überzogen. Die Treppen. Die Wälle. Das Moos wächst sogar über die Fahrbahn, obwohl hier durchaus einige Autos fahren.

Ich komme in ein Hundedorf. In der japanischen Mythologie gibt es zahlreiche Tiere, die, unter anderem, die Gestalt von Menschen annehmen können, am beliebtesten dabei sind die Füchse und die Dachse. Die Dachse gelten als gutmütig und faul und essen und trinken gern und viel. Sie sind gesellig, trommeln auf ihren Bäuchen und singen und tanzen dazu und ahmen zur eigenen Belustigung die Menschen nach und veräppelt sie auch gern direkt. So soll zum Beispiel ein Dachs auf einer der eingleisigen Strecken einen entgegenkommenden Zug gemimt haben. Später, so heißt es, fand man einen überfahrenen Dachs, er hatte bei seinem Spaß nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen können. Diese runden Wonneproppen, deren Porzellanfiguren überall in Japan vor den Kneipen stehen, stehen für Lebensfreude, Genuss, Faulheit und Wohlstand.

Der Fuchs, auch von ihm gibt es ähnliche Geisterzuggeschichten, ist eine widersprüchlichere Gestalt. Zum einen gilt er als Diener des Fruchtbarkeitsgottes und wird als solcher auch in Schreinen in ganz Japan geehrt. Gleichzeitig ist er aber auch hinterhältig, berechnend und gerissen. So fragte ihn der Bär eines Winters, wo er denn den Fisch herhabe, den er kurz zuvor einem Menschen geklaut hatte und der Fuchs sagte, er habe einfach seinen Schwanz in ein Loch im Eis am See drüben gehalten. Der Bär tat dasselbe und sein Schwanz fror ab. Füchse mischen sich gerne unter Menschen, befallen oder verhexen sie und nutzen sie böswillig aus, sie können sich aber nicht völlig verstellen und verwandeln, so sagt man in Japan am Telefon „Moshi=moshi“, da angenommen wird, dass Füchse nur einmal „Moshi“ sagen können und es heißt, dass man Füchse mit einer toten Ratte enttarnen könne, da sie dieser nicht widerstehen könnten. Es gibt auch das Sprichwort „Sein Schwanz kuckt raus!“ im Sinne von „Jetzt zeigt er seinen wahren Charakter!“

Kaiser Dshuntoku soll 1221 verbannt worden sein, da er vom Fuchs befallen war und General Hideyoshi schrieb einen Drohbrief an die Fuchsgötter, in dem er mit dem Auslöschen aller Füchse drohte, wenn diese nicht aufhörten seine Untergebenen zu befallen. Unser Kōbō wollte Shikoku einen Gefallen tun und fing alle Füchse der Insel ein, seitdem gibt es hier keine Füchse mehr, doch als man später die Käfige öffnete, waren sie leer, nur in einem befand sich das Bild eines Hundes. Die Füchse lebten in Shikoku nun als Hunde weiter.

Das Selbst setzt sich aus einer Vielzahl von Ebenen zusammen, wie Lieblingsmusik, sexuelle Vorlieben, Haarfarbe, Krankheiten, Religion, Ernährungsgewohnheiten und so weiter und so fort. Im Prinzip lassen diese Ebenen sich beliebig oft kombinieren, sodass letztlich jeder nur sich selbst gleicht. Die Gruppe entsteht aus dem Bedürfnis heraus Gruppen zu bilden, der Mensch ist ein kollektives Wesen und die Grenze zwischen dem „Wir“ und dem „Ihr“, die Erschaffung des anderen als anderes im anderen ist die Folge dieses Bedürfnisses. So willkürlich sie im Einzelfall auch gezogen wird, die Abgrenzung einer Minderheit zu einer Mehrheit oder einer Mehrheit zu einer Minderheit erfolgt nicht aus einer zwingenden Unterschiedlichkeit heraus, sondern um des Abgrenzens selber willen. Im alten Japan war es normal, dass Menschen, die Mischehen mit Partnern aus einem anderen Landesteil eingingen aus der Familie verstoßen wurden und lange vor dem Feudalismus mit seinem Kastensystem entstanden bereits die Supertierminderheiten, wie die Fuchs= oder Hundefamilien und =dörfer, also Menschen von denen man annahm, dass sie eigentlich Vertreter bestimmter Supertiere seien.

Die Minderheiten der Supertierdörfer, die zwar im alten Japan Ausgestoßene, aber dank der ihnen zugeschriebenen Zauberkräfte auch Geachtete waren und die Minderheit der wegen ihrer Berufe Geächteten, der Gerber, der Schlachter und der Bestatter, zeigen, dass es zur Ausgrenzung keinerlei kultureller Konflikte bedarf. Abgrenzung entsteht aus dem Bedürfnis nach Gemeinsamkeit. Aber Japan verfügt auch über eine Vielzahl verschiedener Minderheiten, selbst wenn man nur die ethnischen Gruppierungsmuster wählt. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist tatsächlich höher als in China, was die japanische Bevölkerungsmehrheit nicht davon abhält, ihre bloße Existenz im Namen des Tanitsumindsokukokka, des „Einrassenstaates“, zu bestreiten und gleichzeitig über die Situation der Minderheiten in China, die über weitreichende Sonderrechte verfügen, lautstark Krokodilstränen zu verschütten.

Am Eingang des Dorfes stehen drei Menschen und ein Hund. Der Vierte hat mich wohl zu spät gesehen. Mitten im Dorf die „alte“ Dorfschule, sie wird jetzt als Gemeindezentrum genutzt, da es offenbar nicht genug Welpen gibt. Ein Bau aus den Achtzigern oder Neunzigern im japanischen Legostil der Zeit. Er zeichnet sich durch seine verspielten Klotzformen aus, die zum einen materialbedingt durch die Betonfertigteilbauweise, zum anderen erdbebenbedingt, sodass die Kanten zwischen ihnen klar zur Geltung kommen, die eine verschiedenstarke Schwingung der einzelnen Teile Erlaubt und so dem Bauwerk Stabilität verleihen, ist. Man hat aus dem Nützlichen das Schöne gemacht und auch dort, wo es nicht nötig war Türmchen, Brunnenversatzstücke, Sitzecken, Wanduhren und ähnliche Elemente damals in dazu harmonierenden Proportionen gehalten, was den Eindruck des Laufens durch eine Bauklötzchenwelt vermittelt. Ich liebe die japanische Architektur der Zeit.

Ja, für Architektur und Design bin ich immer zu haben, auch bei Fahrzeugen. Was die Leute aber daran finden, sich gegenseitig tuckernde Motoren vorzuführen, hat sich mir nie erschlossen. Nachdem ich mich in einem Onsen endlich wieder richtig reinigen konnte, suchte eine Gruppe Motorradfahrer sich den Parkplatz vor der Parktoilette, hinter der ich mein Zelt aufgeschlagen hatte, aus um sich gegenseitig ihre Motoren vorzuführen. Ich war genervt von den Idioten aber erstaunlicherweise nicht aggressiv. Wario baut massiv ab. Seit ich zurück auf dem regulären Weg bin hat der Bambusstab ganze drei Glieder verloren. Das Böse verliert mit der Entfernung zur Kappahalle seine Kraft.

 

Meine morgendlichen Onigiri mampfend blicke ich von der Brück auf die Geburtsstadt von Shūsui.29 Wer nach einem Denkmal oder gar einem Museum zu Ehren des wichtigsten Kindes dieser Insel sucht, sucht vergeblich. Er kämpfte gegen die Mēdshi=Oligarchie und den Tennō=Staat, gegen Militarismus und Expansionismus und bezahlte seinen Einsatz für das Leben, für die Menschen, mit dem Leben. Wie Sakae.30 Wie viele andere. Wie sehr wünscht man sich, dass wenn schon nicht ihrer Mitwelt dann wenigstens unserer Nachwelt die Opfer, die diese Idealisten erbracht haben nicht umsonst gewesen wären, dass aus ihrer Selbstaufopferung sich für uns ein Sinn, ein Nutzen ergibt..

Der längste Tunnel des Weges ist auch der Markstein seiner Hälfte. Ein ewiger Weg durchs fahle Dämmerlicht der Deckenleuchten, die wabernde runde Bälle ins staubige Nichts dieser Gegenwelt drücken, begleitet vom Heulen des vorbeirauschenden Verkehrs. Irgendwie gefällt es mir hier. In einer Nothaltebucht setze ich mich auf einen Betonvorsprung. Die Hälfte. Nach einer langen Nacht baden im Licht der neuen Sonne. Wie hell und grell sie scheint, man traut sich fast nicht aus dem Tunnel hinaus ins tödlichbrennende Weiß. Wie heißt es bei Murakami, „Wer sich länger im Dunkeln aufhält, empfindet die Dunkelheit als das eigentlich normale und hält im Gegenteil das Licht für fremd und unnatürlich.“31

Der Magen knurrt. Doch wieder und wieder Erlösung verkündende Schilder an der Straße führen nur zu toten Läden. Zwei mit Bohnenmuß gefüllte Brötchen als Osettai. Danke liebe Dshidsō! Ein großer Schrein mit einem weiten Vorplatz. Die Sonne blinzelt durch die hohen Bäume. Es ist ein warmer Tag. Ein lieber alter Bauer kommt und verneigt sich kurz vor dem Schrein. Ich bekomme eine Tüte Kekse als Osettai.

Erreiche die Herberge der beiden Frauen, die mich nach Sechsunddreißig mit Onigiri und Kaffee bewirtet haben. Die ältere der beiden mustert Wario mit hochgezogenen Augenbrauen und bricht ihn ohne zu fragen in der Mitte durch. Ich bekomme dafür einen neuen Wanderstock, liebevoll abgeschmirgelt und lackiert und an seinem unteren Ende mit einem Gummipfropften versehen. Wenn Kōbō die These war und Wario die Antithese, dann ist dieser Stock jetzt die Synthese. Ich taufe ihn also Hegel. Die beiden liebenswürdigen Frauen überschlagen sich mit ihrer Hilfe, doch ich bin einfach nur fix und fertig und will ins Bett.

 

Aufstehen. Frühstücken. Los. Es kommt ein langer, breiter Sandstrand mit tosenden Wellen. Vor der Sonne schützt mich eine dicke Wolkenschicht. Lange sitze ich hier und sehe aufs Meer hinaus. Nieselregen. Irgendwann stehe ich auf. Allein ziehe ich weiter.

 

26Man hat inzwischen dazugelernt und die drei unterschiedlichen Mülleimer durch drei gleichartige ausgetauscht, die das Unterscheiden zum Briefkasten wesentlich vereinfachen. Vielleicht ist dieser evolutionäre Sprung auch mit mir zuzuschreiben.

27Bekannte japanische Rockband, ähnlich den Ärzten.

28Bekanntes Lied der High=Lows.

29Kōtoku Shūsui war ein linker Aktivist, der am 24.1.1911 vom Mēdshi=Staat ermordet wurde.

30Ōsugi Sakae war ein weiterer linker Aktivist aus Shikoku. Auch er viel dem System zum Opfer.

31Haruki Murakami Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 2000, S.280

 

 

 

 

Tempel 38

 

Es heißt, am Ashidsuri=Kap wäre man dem Paradies am nächsten. Tahiti kommt mir in den Sinn. Viele Mönche sind von hier aus hinaus in die unendlichen Wasser gefahren, da irgendwo in seiner Mitte das gelobte Land liegt. Ob sie es je fanden? Zurück kamen sie nie. Ich schicke Kōbō auf die Reise.

 

Früh am Morgen gehe ich nochmal zum Kap und schicke Wario hinaus in die Wasserwüste. Auch seine beiden Stockhälften werden sofort von der Brandung geschluckt und weggetragen. „O Muße, reiß mich aus dem Tumult der Laster dieser Europäerwelt, wo Krieg und Hunger und Verfolgungsgeist, sich unaufhörlich peitschen! Lass uns fliehen, in stillen Fluren in des Eilandes Schoß, wo Liebe, Ruh und Frieden und Unschuld herrscht.“32 Die Sache mit den fernen Paradiesen, auch Japan erfüllt ja für viele diese Funktion, ist, dass sie aufhören Paradies zu sein, sobald man sie betritt. Ich werde nie nach Tahiti fahren, denn so kann ich weiterhin in Japan am Meer liegen, dem Stillen Ozean lauschen und von Tahiti träumen. Tahiti..

Erklimme den Berg. Hier besiegte Kōbō einen Schwarm arroganter und böswilliger Vogelmenschen, die Tengu.33 Es war nicht ihr erster Kampf, schon am Sechsundzwanzig waren sie aneinander geraten, aber doch wohl ihr eindrucksvollster. Große Steinquader stehen als einsame Zeugen der Entscheidungsschlacht in der Gegend herum. Es folgt ein gepflegter Stadtpark ohne Stadt. Setze mich auf die frisch gemähte Wiese und blättere in meinem Kartenbuch.

Auf der letzten Seite wurde etwas mit Kugelschreiber gekritzelt. Es ist eine Mailadresse, davor steht das Schriftzeichen „Koi“ (Liebe) und danach „Haruna“ in Katakana. So wunderbar es auch ist, ohne Handy und Internet zu sein, so sehr sehnt es mich in diesem Augenblick nach jenen Errungenschaften.

Bekomme zwei pampelmusenartige Riesenfrüchte von einem lieben Bauernpaar als Osettai. Eineinhalb Kilometer weiter nochmal zwei Mandarinen. Wer keine Zitrusfrüchte mag, der sollte nicht nach Shikoku fahren. Auch in Cafes kriegt man sie ungefragt gereicht. In einem spricht die Besitzerin stur mit mir Englisch, obwohl ich, genauso stur, beim Japanischen verharre. Bin etwas gekränkt. Viele in Japan lebende Ausländer verurteilen dieses Verhalten als rassistisch, doch entspricht es wohl eher den Wünschen, sein Schulenglisch zu trainieren und sich vor anderen mit seinen Fremdsprachenkenntnissen zu brüsten.

Schlafe in einer gnadenlos dem Wind ausgesetzten Hütte am Meer, die ich – völlig fertig – erreiche, nachdem zwei Zeltaufbauversuche am harten Boden gescheitert waren.

 

Glück. Nach dem Aufstehen finde ich tatsächlich einen Udon=Laden, der morgens schon auf hat. Den Tag mit einer großen Schale Karē=Udon beginnen. Die liebe Kellnerin, der man ansieht, dass sie auch gerne Udon isst, spricht starken Dialekt und als ihr klar wird, dass ich sie nicht verstehe, spricht sie umso lauter. Sie hält mich für schwerhörig, mein Japanisch scheint gut genug zu sein, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es an der Sprache liegen könnte. Ich bin glücklich. Die Englischaktion von gestern ist abgegolten.

Von der Küstenstraße habe ich genug. Es war verlockend das Meer entlangzuziehen, aber der Genuss hält sich im Abgasgestank und im Krach doch in Grenzen..

Ich wähle einen Weg durch die Berge. Das war die richtige Entscheidung. Alleine wandle ich auf einer verlassenen Straße durch die Natur. Stundenlang kein Auto. Absolute Ruhe. Ein großartiger Wald. Die Straße ist genauso gut ausgebaut wie die Bundesstraße, von der ich floh, aber völlig verwaist, was diesem Tag eine reine, klare Stimmung gibt. Nach Stunden erreiche ich den Berggrat. Ernste Erschöpfungszustände. Glück. Vor mir liegen mehrere grüne Wellen dichtbewaldeter Hügelketten ohne irgendein Zeichen menschlichen Eingriffs. Irgendwo hier muss die Hütte Kafkas liegen – im Rausch ziehe ich weiter, die wärmende Sonne auf der linken Backe.

Nachts schlafe ich bei einem Schrein, der ein Loch im Baumkronendach bildet, durch das man in den Sternenhimmel blickt. Allein am Grund des Brunnens. Das Stadt=Kind=Frosch=Ich wusste nichts vom weiten Meer des Alls.

 

Wieder ein Stadtpark ohne Stadt. Man gewinnt immer wieder den Eindruck, man setzt in diesem Land Bauprojekte dort um, wo eben Platz ist, ob Sporthallen oder Verkehrsinfrastruktur oder nun Parks, und nicht dort wo sie benötigt werden. Ein gewundener Stausee füllte das Tal, das der Fluss tief ins Erdreich gefressen hatte, es wirkt nun als hätte man frischen Teig in eine große Backform gegossen. Wie eine lauernde Schabe läuft man den in den Hang gehackten Weg oberhalb der melassefarbenen, geschlossenen Masse lang.

Es beginnt wieder aus vollen Kübeln zu schütten. Obwohl nach zehn Minuten ein rettender kleiner Bahnhof kommt, ist der obere Teil meines Rucksacks in der Zeit durchweicht. Blicke aus der offenen Tür in den Regen. Immer dann, wenn ich denke, jetzt hat der Regen sein Möglichstes erreicht, legt er noch einen Gang zu. Gerade als ich mich mit einem hungrigen Insbettgehen abgefunden habe, kommt eine kleine Frau hinein, legt mir einen Plastikbeutel mit sieben hausgemachten Onigiri in den Schoß, dreht sich um und geht in den Regen. Als ich ihr aus lauter Verblüffung mit etwas Zeitverzögerung ein „Vielen, vielen Dank!“ hinterherrufe, lächelte sie mir noch einmal zu und verschwindet dann im dunklen Grau.

 

32(Zitat nachsehen) Zacharia

33Tengu sind mythische Vogelmenschen, die die Bergspitzen beherrschen und mit den Menschen böswilligen Schabernack treiben.

 

 

 

 

Tempel 39

 

Liegt in einem kleinen, ruhigen Seitental, das von einer noch ungenutzten Autobahnbrücke überspannt wird. Ein Hund bellt mich halb winselnd aus dem Halbdunkel an. Bin mir nicht sicher ob er mich vertreiben oder meine Aufmerksamkeit will. Vielleicht beides.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, wie sehr ich Berge hasse? Nein? Nun, ich hasse sie über alles. Um wie viel schöner ist es da, am Meer entlangzulaufen, lieber Kōbō, eine solche Streckenführung hätte bei einem Inselrundweg sich doch geradezu zwingend aufgedrängt..

Nacht in einer sauberen Hütte versteckt zwischen Orangenhainen.

 

 

 

 

Über den Sinn

 

Der Wandel vom allwissenden Erzähler zum Ich=Erzähler begann in Deutschland mir der Erkenntnis, dass „die Wahrheit“ als solche vom Individuum nicht zu erfassen war. War Hegel noch von einer idealistisch=determinativen Zukunft ausgegangen, in der der rationale Mensch die Welt allumfassend beherrscht und selbst Teil dieser Determinante, der Welt, wird, da er über alle Erkenntnisse verfügte, die es zu erkennen gab, so setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass Erkenntnis selbst immer nur einen relativen Begriff darstellt, dass jede Lösung neue Fragen aufwirft, dass die Frage die einzige wissenschaftliche Antwort sein kann. Das ist es auch, was Wissenschaft von Empirie, die lediglich nach dem „Was“ und nie nach dem „Warum“ fragt, unterscheidet.

Die Antwort selbst bleibt in der Wissenschaft immer Konstrukt, ein Ideologem. Sie braucht, wie jedes Denken, das einen von den Grundbedürfnissen entfernt, Sprache. Diese Ideologeme tragen heuristischen Charakter, sie dienen dem Menschen und werden fallengelassen, wenn sie es nicht mehr tun. Eine Theorie, auf die sich Wissenschaftler einigen ist bestenfalls die beste Lösung, die sie zur Hand haben und damit eine gute Lösung – aber keine absolute Wahrheit, sondern eben eine relative. Kann es einen relativen Sinn geben?

Das Wesen eines materiellen Faktors ergibt sich aus seiner Bedeutung für den Menschen, der diesen ja erst durch seine Sprache eingrenzt und aus dem Gesamtganzen herauslöst. Die Unendlichkeit der Teile und die eigentliche Unteilbarkeit des Gesamtganzen machen die Sprache nicht zum rein deskriptiven, sondern auch zum normativen Werkzeug, sie beschreibt nicht nur, sie Formt. Würde man das Geformte total setzen, könnte man das Geformte als eine Art Sinn betrachten, aber nur unter der Voraussetzung, dass wir es willkürlich herausschneiden und damit seines Zusammenhangs berauben, den Sinn in Gegensatz zur Wahrheit setzen.

Das Ende des Wortes. Wenn einem die Worte fehlen, wenn sie einem ausgehen, wie wenn man kocht und feststellt, dass das Chilipulver alle ist, dann kommt das Nichts. Kommt es? Es heißt, wir dächten in Worten, also dass das, was wir denken von vornherein Worte wären, doch erwischt man sich dabei, dass man es nicht schafft manche Dinge in Worte zu fassen. Das Unsagbare. Es muss nicht spektakulär, oder auch nur besonders schön oder hässlich sein, es reicht, dass es da ist. Es ist da. Allein, man hat kein Wort dafür. Man kramt in den inneren Gewürzschränken nach Umschreibungen, nach sinnhaften Klangbildern, Klangscheiben, Klangbelag – einzig sie wollen nicht kommen. Gibt es sie, die Worte die niemand kennt? Man setzt damit voraus, dass die Worte für sich materieller Fakt sind, und das sind sie im Kopf in Form von Synapsen, aber das was wir nicht ausdrücken können, was wir höchstens umschreiben können, und oft genug nicht mal das, muss ja auch in dieser Art materieller Fakt sein, sonst wären wir ja nicht in der Lage es zu denken. Anders gefragt, wenn es alles gibt, was wir denken können, was können wir eigentlich nicht denken? Es ist diese Frage, auf die es keine Antwort gibt, die einen hilflos zurücklässt. Man blickt auf den grauen Abendozean auf graue Wellen und weiter bis zum Horizont, der aber nur grauer Horizont ist. Bei allem Sammeln von Wissen, vom Verschlingen nicht enden wollender Teigbahnen an Daten, Informationsbrötchen, Interpretationsbrote und Philosophiespagetti ist die Erkenntnis, dass alles was man erfahren, erkunden, erschließen kann doch im Meer der unendlichen Anzahl materieller Faktoren zum Nichts wird, dass man selbst nichts ist, eine totale. Das Ego sträubt sich, es will diese Erkenntnis nicht, es will sich betäuben in Teilsachverhalten. Es möchte rufen, es möchte schrein: „Ich bin! Und ich bin wichtig!“ gegen all besseres Wissen, gegen das eigenen Wissen des nicht=wissen=könnens.

Die Sprache als Überbau. Ich denke an Yanabu34 und seine Aussage, es habe früher in Japan keine Gesellschaft gegeben, weil es das Wort dafür nicht gegeben hätte. Wenn es eine Gesellschaft in Japan gegeben hätte, so meinte er, dann hätte es auch einen Begriff dafür gegeben. Der Begriff selbst ist dabei aber noch kein Nachweis des Sachverhalts, denn er kann ja auch Gedanken widerspiegeln, so würde es zumindest Thatcher mit ihrer Negation des menschlichen Gemeinwesens tun und das man keinen Begriff für einen Sachverhalt hat, heißt auch nicht, dass der Sachverhalt selber nicht existiert und auch nicht, dass man ihn nicht wahrnehmen würde. Der Sachverhalt könnte so selbstverständlich sein, dass er gerade deswegen nicht benannt wird. Im Deutschen gibt es zum Beispiel keinen Begriff für „Common Sense“, aber würde deswegen irgendjemand sich zu der Behauptung versteigen, dass es keinen „Common Sense“ gäbe? Es wirkt albern anzunehmen, es hätte im Japan vor der Mēdshizeit, also vor der sogenannten „Öffnung“ keine Gesellschaft gegeben. Dort wo Menschen zusammenleben entsteht eine Gesellschaft in Zwangsläufigkeit, auch wenn man sie nicht in Worte fasst. Eine Woche Einzelhaft hätte wohl selbst Thatcher eines Besseren belehrt.

Die Sprachschuttablage, die Müllkippe des Wortes.. Wir haben nicht die Möglichkeit all das, was wir in uns aufnehmen „durch die Kläranlagen einer Bewusstheit“35 zu filtern, auch nicht all das, was wir wieder ausscheiden. Das heißt aber nicht, dass wir diese Kläranlage nicht bis an ihre Leistungsgrenze ausreizen sollten um Blähwörter und Unworte sich nicht den Weg zum Mund bahnen zu lassen.

Es ist also unrichtig wenn Leute wie Binswanger davon sprechen, dass Denken immer ein Gespräch wäre, denn wenn das Wort Grundlage des Denkens ist, wie konnte dann das erste Wort erdacht werden? Mehr noch: Wenn Reflexion in Sprache stattfindet, wie könnte ich mir dann ihrer bewusst werden, über sie reflektieren? Das Konzept der Metasprache schiebt zwischen den Sachverhalt und der Grundfrage hier nur weitere Ebenen. Worte sind Werkzeuge des Menschen, im besten Falle stehen sie in einem wechselseitigen Verhältnis zum Bewusstsein, der „Kläranlage“, sie entwickelten sich aus Lautnachahmen und halfen dem Menschen Informationen zu strukturieren, doch Denken ist auch völlig ohne Sprache möglich, die Geisteswelt eines Taubstummen strahlt eine dem sprechenden Menschen ungeahnte Reinheit aus, gerade weil es in der Blackbox dieser lakonischen Übermenschen jene Kläranlage nicht gibt. Sprache gibt es aber ohne das Denken nicht.

Denken läuft also vom Grundsatz her in materiellen Bahnen ab und das Wesen des Wortes ist das Nachahmen. Und auch der Taubstumme kann sich über Handzeichen ausdrücken und denken. Sicher ist es ihm sogar voll und ganz möglich genauso wie in Klangspache zu reflektieren und zu abstrahieren und ein Klärwerk gleichen Umfangs zu errichten. Mir ging es mit der Erschaffung des lakonischen Übermenschens mehr um das Herausstreichen des wortlosen Ichs als darum taubstumme Menschen in irgendeiner Form zu diskriminieren. Angeblich sollen ja zwei Drittel des Austauschs, auch des sprechenden Menschens, aus Körpersprache, Betonung und Sprachmelodie bestehen. Wie immer man das auch gemessen haben mag, zeigt es den Nachahmungscharakter der Sprache in wunderbarer Form. Etwas existiert, wir sehen es, geben ihm einen Namen und lassen es sich als Schrift wiederverdinglichen. Wenn wir mit dem Werkzeug Sprache an unser Bewusstsein Hand anlegen, geht das nur, indem wir uns scheibchenweise verdinglichen, in gewisser Weise amputieren. Wir können uns in Worte fassen nur, indem wir uns verdinglichen. Was bleibt? Was ist das in uns? Die Neurologen haben da einen Haufen äußerst interessanter Dinge entdeckt, ich will ihre Forschungen hier nicht wegreden, aber für all das ihre gilt das bereits gesagte..

Wenn das Bewusstsein eines Menschen zu seinem eigenen Kern vordringen will, kommt es zwangsläufig zu einer Rückkopplung durch den Anschluss an sich selbst. Der Mensch wird sein eigenes Ich wohl nie erfassen, sondern seinem geistigen Kern mit Gehirnforschung strukturell erklären müssen.

Weswegen jemand aber konkret so ist, wie er ist, liegt natürlich in der Summe der materiellen Faktoren, die ihn bedingen. Eine Erklärung wird nur wieder neue Fragen stellen. Genauso wenig wie das Sein sich in seiner es bedingenden Unendlichkeit erfassen lässt, genauso wenig geht das für den Kern des Menschen selbst, der die gleiche Bedingtheit zur Grundlage hat, das macht vielen Menschen Angst und lässt sie einfache Antworten in Religion und Naturwissenschaften suchen. Nein, ich setze das beides nicht gleich. Die Naturwissenschaft ist durchaus nützlich, doch muss ihr Absolutheitsanspruch sich genauso dem Fakt der Unvergleichlichkeit aller Faktoren, es gibt nur die Zahl 1 (existent) und die Zahl 0 (inexistent), wobei die Zahl 0 natürlich nicht existiert, beugen wie alle anderen Wissenschaften, denn alle Vergleiche basieren nur auf dem Wunsch, dass die Dinge, die gezählt und damit miteinander verglichen und gleichgesetzt werden, gleich wären, was sie in der Wirklichkeit nie sind. Wir vergleichen und das ist ja auch gut so, wir gruppieren und wir werten und auch das ist nicht falsch, aber es gibt nichts auf der Welt zweimal und nur, weil man ab einer gewissen Kleinteiligkeit keine Unterscheidung mehr treffen kann, gibt es doch keinen Grund anzunehmen, dass es je anders würde, je feiner man die Dinge untersuchte. Ist die Mathematik nützlich? Ja, sie systematisiert unser Denken und ist zweifelsfrei nützlich dafür relative Wahrheiten zu erschaffen, doch wahr ist sie nicht.. Mit einer guten Freundin, die die Aussage, dass sie Mathematik studiere, weil sie einen Realitätsbezug brauche, mal beim Spazierengehen in den Raum, oder besser gesagt, Park, warf, habe ich mich darüber mal nach Herzenslust gezankt.

Es soll nochmal betont werden, dass ich der Naturwissenschaft hier nicht ihr Existenzrecht abspreche, sondern einzig auf ihren heuristischen Charakter hinweise, der von allzuvielen Naturwissenschaftsanhängern schlicht geleugnet wird, die die Naturwissenschaften als unbedingte Wahrheit empfinden und sie damit ihres wissenschaftlichen Charakters berauben und zu einer Quasi=Religion verkommen lassen.

Ist Religion nützlich? Diese Frage in Totalität zu beantworten ist schwierig. Einerseits stabilisiert Religion viele Menschen psychisch und hilft ihnen sich einen Sinn zu erschaffen. Andererseits werden weltweit viel zu viele Menschen in ihrem Namen ermordet. Ideologie als Wegweiser in der Unendlichkeit.. Die ersten entdeckten Naturgesetze wurden zur ideologischen Waffe des Bürgertums gegen die Kirche als Organ der Feudalideologie, die ihren Grund im alten Glauben hatte. Mit der Zeit kamen immer mehr dazu und es werde immer mehr dazu kommen, die unsere jetzigen Annahmen und relativen Wahrheiten widersprechen. Sie sind selber nicht falsch sondern eben ein Erklärungsmuster, sie bilden keine Wahrheit. Es ist vielmehr der Wunsch nach Erklärung, der uns erklären lässt. Die Mathematik ist dabei im Prinzip ein Werkzeug wie die Sprache auch.

Bei der Verbindung von Wahrheit, Mathematik und Philosophie landet man unweigerlich bei den Popperianern.36 Die poppersche Grundannahme, alles, das sich nicht überprüfen lässt und auf reinen Erfahrungswerten gemutmaßt wird, als falsch zu erachten, lässt sich selbst nicht überprüfen und wird aufgrund reiner Erfahrungswerte gemutmaßt und wäre damit, wenn man ihr selbst sie selbst zugrundelegt, falsch. Würde man diesen Widerspruch als dialektischen Wahrheit aner= und dem popperschen Denken damit relative Wahrheit zuerkennen, so hätte man die Welt eines Poppers gleichzeitig widerlegt. Ich sage nicht, dass die poppersche Grundannahme nicht durchaus sexy ist, ja dieser Widerspruch selbst über gewisse dialektische Qualitäten verfügt, liebe Popperianer, doch ihr seid es, die dieses beides grundlegend ablehnen und damit, wenn ihr konsequent seid, euer eigenes ideologisches Gedankengebäude zerlegen müsst. Die poppersche Methodik hat ihren eigenen Wert, zum Problem wird sie beim Verabsolutierten. Ja, auch die Erklärung der Welt als ein unendlicher Ablauf von Widersprüchen steht in ihrer Totalität mit sich selbst im Widerspruch, doch, liebe Popperianer, ihr macht das nichts. Beim Gedanken an den vor Wut schäumenden, knallroten Popperianer, der das gerade liest, kommt Freude in mir auf. Man hat immer wieder Spaß mit ihnen, doch wenn eine Ideologie nicht mehr kritisiert werden darf, weil ihre Apologeten nörgeln, dass sie das doof finden, dann verkommen Wissenschaft und Demokratie zu leeren Worthülsen.

Ist Demokratie ein Produkt der Sprache, wie so oft behauptet wird? Zum Gerechtigkeitsempfinden gibt es so viele soziologische Untersuchungen, die alle zeigen, dass alle Menschen ein angeborenes Gerechtigkeitsempfinden besitzen, das nicht immer logisch, aber immer vorhanden ist. Man erwirbt es nicht erst mit der Sprache und sogar zahlreiche Tierarten verfügen darüber. Eine abstrakte Rationalisierung der Gruppenteilhabe ist aber tatsächlich erst mit der Sprache möglich, aber Sprache kann, leider, genauso gut zur Unterdrückung gerade dieses angeborenen Gerechtigkeitsstreben verwandt werden, in Form des Soziolekts sogar zur Ausgrenzen und indirektem Rechtfertigen von Ausbeutung. In Japan findet dies bis heute vor allem über die Schrift in Form von in der Bevölkerung ungebräuchlicher Schriftzeichen statt. Murakami sprach davon, dass man heute nur ein bisschen an der demokratischen Hülle kratzen muss, um das alte System zum Vorschein zu bringen.37 Demokratie ist in Japan nur ein Lippenbekenntnis, ähnlich wie im Deutschland Ulbrichts und Adenauers.

Sprache kann also nicht nur dem Streben nach Wahrheit dienen, sondern auch dem Verdecken von Wahrheit. Mehr noch, man kann im Dienste der Lüge die Wahrheit sagen und im Dienste der Wahrheit lügen. Wenn Adorno behauptet Heines Loreleigedicht sei von den Nazis anonym in den Schulbüchern benutzt worden, dann hat er im faktischen Sinne unrecht, dem Wesen nach aber Recht, denn er zeigt auf wie hemmungslos die Nazis deutsches Kulturgut in der Tat für sich verbogen und missbrauchten. Wenn Banker sich auf Aristoteles Aussagen über den Tauschwert des Geldes berufen um ihr Handeln zu rechtfertigen, dann zitieren sie meiner Erfahrung nach dem Wortlaut richtig, wenn man aber nachschlägt wird man schnell feststellen, dass sie dem Wesen nach lügen, denn Aristoteles warnt ausdrücklich vor dem Wucher und der Geldwirtschaft um ihrer selbst willen.

Wie erkennt man, dass wahre Worte lügen? Für einen Popperianer ist dies ja gar nicht möglich, da er das Denken immer nur auf die Sprache selbst beschränkt. Dass das Bewusstsein im Gegensatz zum Wort steht, geht für ihn nicht, da Bewusstsein und Absicht für ihn nicht zu bestimmende Größen bilden und somit als „schlechte Erklärung“ negiert werden, doch darauf läuft es hinaus: Bewusstsein und Absicht.

Unser Körper als Brücke zur Außenwelt. Mund. Hand. Augen. Haut. Wir ändern die Welt und widerlegen den kantschen Agnostizismus. Aber was sind wir? Die Frage stellte sich mir bei einer Freundin, die nach einer Lebenskrise auf Psychopharmaka gesetzt wurde. Sie war ein völlig anderer Mensch. Ich hatte das Gefühl, dass sie von den Ärzten getötet worden war. Ärzte leisten viel gute Arbeit, doch gerade hier kamen mir zweifel, ob man einfach so in das Zentrum des Menschen eingreifen durfte. Gehirnströme. Neuronen. Botenstoffe. Nervenreize. Der Mensch war mehr als der Roboter, zu dem ihn die Popperianer gerne machen würden. Ja.. Später hat sie sich dem Buddhismus zugewandt und die Religion hat sie tatsächlich stabilisiert..

Die Schattenlandströme, die hier ans Licht traten.. Was ist in der Zeit, wenn der Fluss aufgehört hat zu fließen? Nun, dann gibt es auch keine Zeit mehr, da die Zeit selbst Element der Totalen ist, die als solche den festen Block im Nichts bildet, ihrem Wesen nach nichts ist. Nur weil sie nicht biologisch tot war, heißt das nicht, dass sie sie nicht getötet haben.

Ein Murakamizitat: „Es gab keine schwierigen Wörter, keine verzwickte Logik, keine wortreichen Erläuterungen und keine gewählten Ausdrücke.“38 Murakami hat in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt tatsächlich das erschaffen gegen dessen unüberwindliche Mauern ich hier vergebens anrenne: Die hermetisch abgeriegelte Einhornstadt – einen Bewusstseinskern. Blättere in der japanischen Ausgabe und vergleiche den Stadtplan mit der deutschen Ausgabe. Die Form der Stadt gleicht einem Gehirn in Seitenansicht. Die japanische Ausgabe ist ein Silberdruck auf schwarzen Grund, die deutsche Ausgabe ein schwarzer Druck auf weißem Grund. Auch ist bei der japanischen Ausgabe mit wesentlich mehr Liebe zum Detail gearbeitet worden, aber eines verblüfft mich am Meisten: in der japanischen Ausgabe gibt es keine Wiese. Welche der beiden Ausgaben ist näher an Murakamis Zeichnung? Zunächst würde man naturgemäß die japanische Ausgabe unter Verdacht haben, aber, dass die Wiese fehlt, ist doch ein Indiz dafür, dass dem nicht so ist.

Irgendwo in unserer eigenen kleinen Einhörnchenwelt bildet sich das, was wir Willen nennen, es wächst auf jener Wiese und sendet seine Pollen durch den ganzen Organismus. Der eigene Wille, den sich wohl jeder zuschreibt ohne sagen zu können warum oder auch nur was er sei, dieser metaphysische Wunschwurmfortsatz, den wir einem eigenen Ich zuschreiben, welches ebenso unbestimmt bleibt und wohl bleiben muss, will man es nicht zerlegen und töten. Liest man monotheistische Texte, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Gottesbilder immer einer Projektion, eines Überichs gleichkommen. Man projiziert den Kern seines Ichs aus sich heraus und macht ihn unfass= und unbegreifbar und schützt sich damit selbst vor dem Eingeständnis der eigenen Bedingtheit, der eigenen dem Ego als Antithese entgegenstehenden Relativität. Jedes Kind möchte, dass die Welt nur für es selbst besteht und mit seiner Geburt zu existieren angefangen hat und mit seinem Tod endet. Nur heute können Menschen die Existenz des Menschen vernichten und damit erwächst aus diesem unreifen egozentrischen Streben eine Enorme Gefahr für die Menschheit. Ein gewisser Egozentrismus steckt wohl in jedem Menschen und ist, so man sich der eigenen Relativität bewusst ist, auch kein Problem, aber über das Maß pervertierte Formen werden zu einer Gefahr. Sinn ist ein Konstrukt, doch liegt es an uns den Sinn der anderen zu kontrollieren, damit wir alle weiterhin an ihm tüfteln können.

Die Freiheit kann letztendlich nur in der Irrationalität liegen oder zumindest in ihrer Möglichkeit und steht dem Sinn als Konzept einer Art Willenspollenzufallsgenerators im Kopf als Antithese entgegen.

Auch wenn es wohl Wahrheit gibt und in relativen Form in kleinen Teilen erfasst werden kann, ist jeder Sinn ein Wunsch des im Bewusstsein schreienden Kindes nach Anerkennung seiner Einhornstadt und ist nicht zwingend wahr.

 

34Akira Yanabu ist ein neoplatonistischer japanischer Sprachphilosoph.

35Dieter Hasselblatt Lyrik Heute, Signumverlag, Gütersloh 1963, S.55

36Anhänger Karl Poppers, einem totalitärer Verwertungsphilosophen.

37(Zitat nachsehen) Henkyo Kinkyo (?) Mongoleitext)

38Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.920

 

 

 

 

Zeit für ein Kōtshi=Resümee: Die Rüssel der rosa Riesenmammute haben mich doch immer wieder arg durchgepeitscht. Ihr habt noch nie von Olga und Ludmilla gehört? Es sind zwei riesige rosa Eismammute im Herzen Sibiriens, deren kalter Atem im Winter ganz Ostasien in Bann hält. Olga und Ludmilla machen sich einen Spaß daraus, mit ihrem Rüssel bald hierhin, bald dorthin zu pusten und die Völker unter ihrer Fuchtel erzittern zu lassen. Warum ihr noch nie von ihnen gehört habt? Nun, die meisten Russen schreiben ihr Erscheinen ihrer Morgenration Wodka zu, so wurde nie über sie berichtet. Wie sie sich Fortpflanzen, die beiden Weibchen? Nunja, ein bisschen ist das wie mit den Regenwürmern, nur eben mit Rüsseln. Und im Sommer? Ja, im Sommer ziehen sie sich tief in ihre Dauerfrosthöhle zurück und warten auf die Wiederkehr besserer Zeiten.

Ehime.. Sitze vor einem Schrein. Eine Krähe schreit unnatürlich Laut hinaus in die Winterstille. Das Leitungswasser hier ist selbst für japanische Verhältnisse übermäßig verchlort. Nach zwei Schlucken ist einem schlecht. Im ganzen Tal kein Getränkeautomat. Wohl das einzige Tal Japans ohne. Blinzle in die kalte Sonne.

Auch wenn ich es nie lange im heißen Wasser aushalte, so wirken die kurzen Onsenbesuche den Füßen doch Wunder. Weiter durch die Weite goldener Landschaften und das Dickicht schmaler Flusstäler. Ein kleiner Junge läuft auf mich zu und erklärt mit leuchtenden Augen, dass ich der erste Ausländer bin, den er trifft. „Da hast du ja Glück gehabt“ erwidere ich, weil mir grad nichts Besseres einfällt und werde mir im selben Moment der idiotischen Doppeldeutigkeit bewusst.

 

 

 

 

Tempel 40

 

Stehlen einer stillgelegten Seilbahn ragen in den Himmel. Meerwasser. Wellen. Algen. Sonne. Vierzig ist am weitesten von Tempel Eins entfernt. Luftlinie.

Wieder ein Eisenbahnwagon im Nichts und wie bei Siebenundzwanzig auch hier keine Eisenbahnstrecke weit und breit. Der Wagon ist sogar vom selben Typ. Die Straßen sind eigentlich zu eng um ihn hierher zu bugsieren und per Seilzug vom Meer aus wäre ziemlich aufwendig. Und wieso überhaupt? Während ich, das Kinn auf den Stab gestützt, grübele, fällt mir auf, dass ich ihn falschrum halte. Ich habe Hegel sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt! ..oder doch andersrum.

Es gibt Fehler, die macht man einmal und es gibt Fehler, die macht man immer wieder. Ich weiß, dass man bei einem Warmwasserspender nicht mit dem Finger die Temperatur prüfen sollte.. Warum mache ich es dann immer und immer wieder? Nachdenken während ich meinen linken Zeigefinger in einem Becher kalten Wassers kühle.

Der Tunnel am Ende des Tages ist mein Tunnel am Ende des Lichts. Sehr lang, sehr gerade, sehr Neonröhre, sehr. Der einsame klare Hall meines Stocks durchbricht meinen Körper und die psychedelischen Fische mit ihren weiten Tiefseepupillen an den Wänden tun ihr übriges. Träume vom Krallenfisch.

 

Und täglich grüßt das Gürteltier. Ich hatte einen Gürtel. Er war billig gewesen, vier Euro. Er begleitete mich über Jahre und Jahre, doch in Sukumo war er mir endgültig zu groß geworden. „Nun“, dachte ich, „der Gürtel hat seine Schuldigkeit getan, der Gürtel kann gehen“, kaufte mir einen neuen und schickte den alten auf Altenteil. Der neue war so ein Textilgürtel ohne Löcher und gab andauernd nach unter dem Gewicht der gefütterten Hose. „Gut, wieder was gelernt“, dachte ich und kaufte mir vor Vierzig bei Fudshiya einen neuen. Einen schönen braunen Ledergürtel für acht Euro. Noch nie hatte ich so viel Geld für einen Gürtel ausgegeben, „Aber, da weiß man, was man hat“, hatte ich gedacht. Heute Morgen im Onsen fällt er beim ausziehen (!) einfach auseinander. Jetzt hält meine Hose ein Paketband, das überraschenderweise angenehmer zu tragen ist als jeder der Gürtel. Ich überlege ihm einen Namen, wie meinem Wanderstab, zu geben, aber irgendwie wäre es ungerecht meinem ersten Gürtel gegenüber, der mir die Jahre über treu gedient hat, ohne je einen Namen zu bekommen. Oft weiß man jemanden erst zu schätzen, wenn er nichtmehr da ist. Wie eine gute Pfanne. Wie ein liebes Mädchen. Oder eben wie einen guten Gürtel.

Erschöpft blicke ich von einer Hütte in ein Zweigtal. Wie wunderbar können Berge im Nieselregen sein.. Jeder in einer anderen Schattierung von dunkelgrün zu blaugrau in verschiedenen Transparenzgraden hintereinander gestaffelt. Japan kann so schön sein. Immer wieder erschlägt mich diese Natur. Dafür bin ich hier, dafür bin ich da.

 

Für den Pass nach Uwadshima gibt es drei Wege. Man kann über ihn laufen, da es jetzt aber seit drei Tagen durchregnet, wird das ein rutschiges Vergnügen werden. Man kann den alten Straßentunnel benutzen, der auf Fotos recht malerisch wirkte, doch an seinem Abzweig steht ein Schild „Tunnel gesperrt“. Bleibt der reguläre Bundesstraßentunnel. Im Halbdunkel donnern schwarze Ungetüme an mir vorbei. Beißende Luft. Grelles Neonlicht verliert sich in langen Abständen. Eine andere Welt. Tausensiebenhundert Meter stickige Enge, die niemand vergisst. Sausend, rauschend, heulend, brüllend ziehen die Rennelefanten zentimeternah an einem vorbei. Entsteigt man dem Schoß der Berge, fühlt man sich wie ein neuer Mensch. Es sind diese unmittelbaren Höllenerfahrungen in den Tunneln durch Shikoku, die diesen Rundweg von allen anderen Wegen unterscheidet.

Ein kleiner Fluss führt hinauf zur Herberge. Ein malerischer Weg durchs südliche Uwadshima. Kleine enge Gassen zweigen von ihm ab. Kleine enge Häuser säumen ihn. Überragt von mächtigen Bergriesen. Auf einem ihrer vorgelagerten kleinen Geschwister thront sie, die Herberge. Sie ist schon etwas in die Jahre gekommen und wird von einem ebenfalls etwas in die Jahre gekommenen Pärchen betrieben. Gäste, außer mir, gibt es keine. Abends stehe ich im Wind und blicke auf die Lichterstadt im Tal. Die ganze Nacht peitscht er ums Haus und trommelt der Regen gegen die Scheiben, als wenn die Beiden sich vorgenommen hätten, den Schallplattenstein zu besiegen.

 

Morgens wieder eine göttliche Aussicht über die Stadt, die im harten Licht der Wintersonne erstrahlt. Keine Wolke am Himmel. Gürtel kaufen (Paketbänder fransen doch recht schnell aus), dann zum Sexschrein. Der Tagadshindsha ist einer der vierzig Fruchtbarkeitsschreine des Landes und vor allem das angeschlossene Sexmuseum, die „Beulen=Dellen=Halle“, hat es im Netz zu einiger Berühmtheit gebracht. Wer allerdings optische Orgien kaligulschen Ausmaßes erwartet, wird doch eher enttäuscht werden. Danach zur Burg. Es heißt, sie habe die brandschatzenden Horden der Mēdshizeit nur überstanden, weil diese zu faul waren, den Berg zu erklimmen. Und dann.. Und dann hat man eigentlich auch schon alles gesehen, was es in Uwadshima zu sehen gibt.

Naja, es gibt noch diesen Minipilgerweg. Achtundachtzig Kōbō=Figuren, deren Erpilgerung mit dem großen Rundweg gleichwertig sein soll.. Hier stellt sich zwangsweise die Frage: Warum mach ich das alles? Manche sagen, der Pilgerweg folge schlicht der bequemsten Route, dem Weg des geringsten Widerstandes, also mehr oder weniger um die Insel rum, statt quer durch die Berge. Nur, warum sollte jemand dann überhaupt aufbrechen? Die Beweggründe. Meine Beweggründe. Die Beweggründe meiner Beweggründe..

Woran ich denke, wenn ich ans Pilgern denke. Manchmal ist es besser etwas Sinnloses zu tun, als gar nichts, denn was ergibt schon einen Sinn. Murakami hat in seinem Laufbuch geschrieben, dass man die Qualen eines Marathons nur durchstehen könne, wenn man einen Gedanken hat, den man Gebetsmühlenartig wiederholt, seinem Handeln also entweder einen konstruierten Sinn gibt oder aber die Unsinnigkeit durch fremde Gedanken verdrängt. Bei ihm ist das Laufen der Versuch, das Gift, von dem er erzählt, dass es sich beim Schreiben in seinem Körper anreichert, abzusondern. Das Gift ist die ewige Sinnfrage. Er läuft in seinem Laufbuch einmal um den Seromasee auf Hokkaido und besiegt seine rebellischen Muskeln in einem Gewaltmarsch wie Stalin die Partei. Es ist sein persönlichstes und – man muss es sagen – auch sein langweiligstes Buch, aber es spricht für ihn, dass man selbst sein langweiligstes Buch bis zu Ende lesen muss. Zu Ende lesen muss um mit ihm zusammen an der Sinnfrage zu scheitern.

Ein kleines Bahnhofshäuschen. Japan kann so schön sein. Japan könnte so schön sein. Seit Mittag hängt der Himmel voller Wolken. Geschlossen, fett und tief, wollen sie einem sagen: „Wir könnten jederzeit, doch wir haben einfach noch keine Lust.“ Beschließe in einer kleinen Bahnhofshütte abzuwarten. Der Blick aufs Tal, auf die Berge, auf die mächtigen, tiefhängenden Wolken könnte kaum.. Nein, könnte doch schöner sein! Könnte schöner sein wenn, ja, wenn nicht irgendein grunzdämlicher Immobilienölpel eine Reihe Fertighäuser mitten ins Blickfeld gerotzt hätte..

Gerade als ich trotz Wolkendecke weiter will, sehe ich wie ein Berg nach dem anderen hinter einem grauen Schleier verschwindet. Der Regen kommt.

 

 

 

 

Tempel 41

 

Vom Schrein über Einundvierzig hat man einen allerfassenden Blick auf eine kleine geschlossene Talebene mit einer großen Schule und vielen kleinen Häusern, umschlossen von dunkelgrünen Bergen und überdacht von den wogenden Wellen der Wolken. Die Berge scheinen das einzige zu sein, wo sich ihre weiße Flut bricht. Sie schiebt sich ihre Hänge hinauf, mogelt sich an ihren Seiten vorbei, fließt weiter.

 

Taumelnd aber reuelos in der Brandung des Wunderlandes. Die Lautsprecherdurchsagen, die mich schon die ganze Reise begleiten, werden umso unwirklicher, je weiter ich komme. Sie hallen nicht nur durch die Berge, die ihren Klang zurückwerfen, auch die Lautsprecher selbst setzen, durch die Entfernung zueinander, zeitversetzt ein. So schwappt über mich in der Morgendämmerung an einem menschenverlassenen See eine surreale Schallsuppe. Mit der Zeit bekomme ich selbst das Gefühl in dieser Märchenwelt zu zerfließen.

 

 

 

 

Tempel 42

 

Eine Koreanerin in weißer Pilgerkutte spricht mich an, sie hätte mich doch damals auf Dokdo gesehen. Meine Beteuerung, noch nie auf Dokdo gewesen zu sein, lässt sie nicht gelten, „Ich kann Europäer inzwischen auseinanderhalten, ich weiß, dass du das warst!“ und lässt nicht locker bis ich schließlich irgendwann aufgebe und behaupte er gewesen zu sein. „Also doch, ich wusste es ja gleich!“ sagt sie mit einem triumphierenden Lächeln. Aber warum hatte sie dann überhaupt gefragt?

Koreanerinnen.. Ich muss an Y und an M denken. Y war eigentlich viel zu mager für meinen Geschmack. Y war wild und extrovertiert, war verheiratet und hatte drei Kinder, was sie nicht davon abhielt, sich durch die halbe Welt zu poppen. Ich war immer eifersüchtig darauf, dass sie weiterhin mit ihrem Mann schlief, aber als ich mitbekam, dass sie außer mit ihm auch noch mit elf Iranern rumpoppte, stellte ich sie dann doch zur Rede. Sie wirkte auch etwas betroffen und schien wirklich ein schlechtes Gewissen zu haben, sagte aber auch frei und ehrlich, dass sie nicht anders könne. Ich beendete es, da ich keine Lust auf den Franzosen, der auf Haiti gegen den Sonnengott aufbegehrt hatte, hatte, und es war Y selbst, die mich mit M zusammenbrachte. M war eine kleine, dicke, introvertierte Hardcorestalinistin mit einer Vorliebe zu Rosa, da außer ihr alle anderen Koreanerinnen, mit denen ich je zu tun hatte, fundamentalistische Christinnen waren, auch Y ging mir mit ihrem Jesusgelaber doch manchmal ordentlich auf den Geist, war mir M auf Anhieb sympathisch. Sie entsprach in allem meinen Vorstellungen von der dicken Tochter des Wissenschaftlers in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt. Sie, nach der ich mich schon sehnte, seit ich das Buch in der Schulzeit zum ersten Mal las, war wahr geworden. Wir tranken viel, tauschten uns über Philosophie aus und sahen alte italienische Filme, bei denen die Tonspur nie so richtig auf die Bilder abgestimmt worden zu sein schien. Es war eine intensive Zeit. Doch genauso wahr wie sie geworden war, war sie irgendwann wieder unwahr geworden. Von einem Tag auf den anderen verschwand sie, stellte ihr Handy ab und beantwortete keine Mails mehr. Manchmal frage ich mich was aus ihr geworden ist, die Suche im Netz war aussichtslos, sowohl ihren Vornamen als vor allem auch ihren Nachnamen schien es unendlich oft zu geben. Hoffentlich hatten die Schwärzlinge sie nicht geholt.

Es kommt ein verwaister, kalter Tunnel. Der gesamte Wind, der von der einen Seite des Berges zur anderen will, scheint ihn als Abkürzung zu nehmen. Das eisigste Loch an diesem eisigen Tag. Kommt ihr Schwärzlinge und es wird Hegels Schläge hageln.

Mittags komme ich beim Geschichtsmuseum Ehime an. Ein reiner und makelloser Bau. Funktional, klar und schön. Kein Kitsch oder Geschnörkel, überall offene, ehrliche Materialien. Volle, ansehnliche Formen. Im Bann laufe ich durch und um das Haus. Über den Inhalt des Museums kann ich gar nichts mehr sagen.. Es war zwar kein Aufzug zu sehen und das Zimmer zum Schacht konnte ich auch nicht finden, aber zweifellos, dies war das Haus des Wissenschaftlers aus Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, nach all den Jahren hatte ich es gefunden.. Ich weiß, ich weiß, Murakamis Haus mit der Stiege zum unterirdischen Fluss befindet sich in Tōkyō, aber wenn ich könnte, das heißt wenn ich Diktator wäre, so eine Art Idi Amin Japans, dann hätte ich ihn diese Geschichte hier spielen lassen. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden. Umschreiben und die alten Exemplare einstampfen lassen und das gleiche auch mit allen Schriften, die auf die betreffende Stelle Bezug nehmen.

Ich sitze hinter dem Bau auf der Wiese in der Sonne und lese.

 

 

 

 

Tempel 43

 

Bibbernd wache ich auf. Raureif überzieht meinen Schlafsack. Ich hätte gestern doch noch das Zelt aufbauen sollen, doch ich war zu kaputt gewesen. Ich hatte mich noch mitten in der Nacht durch einen Bundesstraßentunnel ohne Fußgängerweg gequält und wäre auch um Haaresbreite fast überfahren worden. Blicke in den weiten Morgen. Zwanzig Meter unter mir beginnt das weiße Nichts. Die ganze Welt ab da wurde von bewegungsloser Zuckerwatte geschluckt. In der Ferne noch ragen einzelne schwarze Kegel aus ihr heraus. Sonst nur trockener Winterhimmel. Ich tauche ein. Die Sichtweite sinkt schlagartig auf unter zehn Meter, was einige Autofahrer aber nicht davon abhält, ohne Licht zu fahren.

Ōdsu. Esse ein „Morgenset“ aus Reis, Misosuppe, einem Onsen=Ei und etwas eingelegtem Gemüse und grüble darüber, warum sie es nicht Frühstück genannt haben. Um Zehn Uhr Dreiunddreißig breche ich auf. Der dichte Nebel hält Ōdsu immer noch gefangen. Man fühlt sich ein bisschen in einen italienischen Film hineinversetzt, so wie alles hier aus dem weißen Nichts herausploppt. Natürlich ist die Architektur Ōdsus alles andere als italienisch. Zumindest vermute ich das. Vielleicht ist Ōdsu auch die einzige authentisch italienische Stadt Italiens. Ich meine Japans. Zumindest würde das zum heißblütig=kurzsichtigen Fahrstil der Eingeborenen im dichten Nebel passen. Ja, ich wage zu behaupten Ōdsus Architektur ist italienischer als jede Stadt Italiens! Die Stadt hat übrigens, wo wir gerade bei Filmen sind, nichts mit dem ähnlichklingenden Regisseur39 zu tun. Odsu hat, glaube ich, nie einen Film auf Shikoku gedreht, auch herrscht in all seinen Filmen immer bestes Kaiserwetter.

Ein großes Kieselfeld an einer Flussbiegung. Sonne. Ich tanke Wärme für die kommende Nacht. Es ist göttlich an diesem breiten, ehrfurchtgebietenden Fluss entlangzulaufen nach all den Straßen und Bergen der letzten Zeit.

 

Sechs Uhr Fünfzehn. Aufstehen. Habe von Siebzehn Uhr bis jetzt durchgeschlafen. Es ist Gold wert im Tsūyadō vor dem Nebel geschützt zu sein. Danke. Doch vor dem Heizstrahler sitzend will keine rechte Aufbruchsstimmung aufkommen. Raus, abtauchen in die Nebelwelt.

Die Verwunschenheit der kleinen Bergdörfer streifte das wunderhafte, ich war auf Grünings Weg nach Leiningen.. Vielleicht würden bald die zwei Deserteure Murakamis aufkreuzen, aus dem Wald treten und mich in sein Leiningen, dem Dorf hinter dem Dickicht bringen, wo meine Schwester auf mich wartet. War diese heile Dorfwelt im Krieg ein spätes Friedensangebot Murakamis an Ōe? Wohl eher nicht.. Über eine überdachte Brücke.

Ja, Murakami hat dieses Dorf in Kafka am Strand ähnlich seiner Einhornstadt in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, als eine Art negativer Utopie vom Standpunkt seiner eigener Lebenswirklichkeit konzipiert: die Hölle; hier gibt es keine Konsumgüter, keine Markennamen, die er sonst so inbrünstig hinausposaunt, nein, es gibt hier nicht einmal Bücher. Seine Helden fliehen aus ihnen, oder versuchen es zumindest, trotz ihrer Schwester und trotz ihrer Liebe zur Bibliothekarin, trotz alledem. Sein Paradies ist die Droge, der Konsum zum Selbstzweck.

Auf mich als gebürtiger Westberliner wirkten diese abgeschlossenen Welten immer ungemein anziehend, sie strahlten mit ihrem schützenden Wald und ihrer schützenden Mauer Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit aus. Welten, die keine Angst kannten.

Ich bewegte mich in Richtung Utshiko, der Geburtsstadt Ōes. Ōe ist gewissermaßen das Gegenstück Murakamis, zwar sind beide Schriftsteller mit einem ähnlich abgrundtief schlechten Musikgeschmack gesegnet, doch das wars dann auch mit ihren Gemeinsamkeiten. Ōe ist der Typ, der gern mit einem Bier allein am Fluss sitzt und zusieht wie der Wind durch die Bäume fährt. Um irgendwelche Teiche in Sonstwo zu joggen würde ihm nie in den Sinn kommen, wie Murakami wohl auch nie seine Zeit mit bloßem Rumsitzen verschwenden würde.

Ōe, der sich gern und oft nach seinem Heimatdorf tief in den Bergwäldern sehnt, der sich dort in jungen Jahren nachts heimlich aus dem Haus seiner Eltern stahl um seinen Schlaf unterm Sternenhimmel im freien Frieden der schwarzen Bäume zu leben. Dieses sentimentale Sehnen machte selbst, wie auch bei Endō in Eine Klinik in Tokyo, vor dem verhassten Kaiserstaat nicht halt. Bei beiden ist die Kriegszeit ein Amalgam aus totalem Horror und wahrem zwischenmenschlichen Zusammenhalt. Dieser Hang zur nostalgisch verklärten Kinderwelt und der Gebrauch der Geschichte als Lehre, die jede Form der Neutralität ablehnt, brachte ihm Oft den Vergleich mit Grass ein. Ja, ich komme nicht umhin zuzugeben, dass auch in mir ein kleiner Ōe steckt.

Hier in den Bergen zwischen Iyo und Tosa40 gibt es das Märchen vom Samurai, der loszieht und einer Oma den Kopf abschlägt um im dann aufgeschlitzten Magen des enttarnten Hundes die Gebeine der echten Oma zu finden. Ōe mag 1972 diese Erzählung im Hinterkopf gehabt haben, als er seine Satire Der Tag, an dem Er selbst die Tränen abgewischt auf den gescheiterten Mishima=Putsch und dessen anschließenden rituellen Selbstmord durch Bauchaufschlitzen (Sein Lebensabschnittsgefährte hatte mehrere Male versucht ihm den Gnadenstoß durchs Köpfen zu verpassen, war aber an dessen Hartnäckigkeit gescheitert) schrieb.

Ōe schickt nun einen Trupp zerlumpter Zweiterweltkriegssoldaten durch diese Berge, die mit „Komm, O Tod, du Schlafes Bruder“ auf den Lippen als Selbstmordkommando die Kapitulation verhindern wollen. Eine Anklage auf die Sinnlosigkeit des Selbstopfers und den Kaiser, der dieses einfordert. Eine Anklage auf Mishima.

Ōes Ablehnung des Kaisers, die mit einer verklärten Vergangenheit einhergeht und einer starken Abscheu vor vielem, das er als „westlich“ zu erkennen glaubt mündet, drängt den Eindruck auf, dass Ōe den Kaiser dafür hasst, dass er den Krieg verloren und das Fremde ins Land gelassen hat. Ganz im Gegensatz zu Mishima, der den Kaiser Zeit seines Lebens romantisch pries und verehrte. Bei Mishima allerdings wird der Kaiser zu einem abgedroschenen kitschigen Klischeebild, ähnlich den Frauen in seinen Liebesgeschichten. Die von Ōe geschilderte Truppe wird dann vor einer Bank, ein Symbol für die angloamerikanische Weltherrschaft, auch schlussendlich niedergemetzelt. Es gibt keine größere Liebe als den Hass und vielleicht ist es ein Versöhnungsangebot an Hirohito gewesen, dass der Anführer, der „Minikaiser“ der Gruppe, entführt und gegen seinen Willen zum Chefboss erkoren wurde. Er vergibt dem Kaiser den verlorenen Krieg.

Ōes und Mishimas identitäre Kämpfe mit Japan, den USA, dem Kaiser und ihrer Kindheitskriegstraumen sind eine Welt, die Murakami völlig fremd ist. Für ihn ist die „Fremdherrschaft“ der USA das Normale, der Kaiser spielt keine Rolle und der Krieg ist lange vorbei.

Murakami hatte 1987 mit seinem bis heute inhaltlich schwächsten Buch, Naokos Lächeln, einen Riesenerfolg, der, wenn man kein Kulturpessimist ist, einem als Freund der Literatur gegen den Strich gehen muss. Ein Werk, das hinter den Möglichkeiten Murakamis weit zurückblieb und einen Menschen wie Ōe zum Widerspruch zwang. Bei mehreren Gelegenheiten kritisierte er Murakami als unjapanischen Nachahmer des Amerikanischen und, nicht zu Unrecht, als konsumvernarrt.

So lustvoll=kampfeslustig Ōe austeilte, so dünnhäutig und nachtragend reagiert Muarakami auf jede Kritik, selbst in 1q84, man sollte meinen mit seinen Riesenauflagen wäre auch ein gewisses Selbstvertrauen einhergegangen, fühlt er sich noch gezwungen, sich vor Kritikern zu rechtfertigen, die ihm vorwerfen mit Mysterien Spannung zu erzeugen, die er später nicht auflöst.41

Ja, auch die als unberechtigt empfundene Kritik kann verletzen. Den Schmerz annehmen um das Leiden zu vermeiden, wie es die Figuren in den Geschichten Murakamis tun, das ist ja gerade ihre Stärke und der Kraftquell für viele seiner Leser in den konfuzianischen Obrigkeitsstaaten Ostasiens. Eine Art buddhistische Form passiven Widerstandes, mit der das Volk im Fernen Osten die es beherrschenden Eliten immer wieder in die Verzweiflung treibt. Mit den Worten Iokaste bei Sophokles: „Was hat der Mensch zu fürchten, über dem doch stets der Zufall waltet und der nie die Zukunft schaut?“42 Murakami selbst hat damit weit größere Schwierigkeiten als seine Romanfiguren, die er wohl auch das leben lässt, was er selbst in der Wirklichkeit nicht schafft.

Aus dem Vergangenheitsbezug als trotziger Pflichtübung des Gekränkten wird nicht nur eine Feldzug gegen den Kritiker an dem er in der Figur Watayas nach Art Grimmelhausens Barockschriften oder Walsers Schmähroman gegen den Lustgreis – darf man die Bezeichnung „Lustgreis“ auf einen Verstorbenen anwenden?, man könnte ihn ja genauso gut, jetzt zurückblickend, „Lustjüngling“ oder gar „Lustsäugling“ nennen – seinen Hass abarbeitet, es wird auch das Beste, was Murakami bis heute schuf: Die Aufziehvogelaufzeichnungen.

Diese äußeren Anstöße sind für Murakami äußerst wichtig und fruchtbar, denn so geschickt er darin ist fremde, bezaubernde Welten aus alltäglicher Wirklichkeit heraus entstehen zu lassen, so unfähig ist er die Zusammenhänge dieser benutzten alltäglichen Wirklichkeit selbst zu erfassen. Reflektion im Allgemeinen und Selbstreflektion im Besonderen findet nicht nur nicht statt, es ist fraglich ob Murakami überhaupt dazu fähig ist.

Als ich die Stelle in den Aufziehvogelaufzeichnungen, in der er abwertend von Filmen redet, in denen irgendetwas passiert, ohne dass einem erklärt wird warum, zum ersten Mal las, war ich absolut überzeugt, es mit einer ironischen Selbstkritik am eigenen Schreibstil zutunzuhaben. Schmunzeln über diesen versteckten Seitenhieb meines Lieblingsautoren auf sich selbst.. Und doch.. Mit der Zeit kamen mir immer weitere Zweifel, auch da Murakami sonst extrem inkonsequent schreibt, so wird zum Beispiel Mord Kasaharas an ihrem Freund einfach hingenommen, es erfolgt keinerlei moralische Verurteilung, vielmehr begeht der Aufziehvogel selbst einen Mord am Gitarrenkastenmann – hört man da nicht zwischen den Zeilen das Lachen des mongolischen Sadisten? Wo zieht er die Trennlinie zwischen seinen Guten und seinen Schlechten? Er zieht sie einfach nicht. Aber er ist auch nicht der, wie der Deko=Vogel, an der Decke Hängende, der die Ereignisse darunter nur passiv beobachtet, er ist Teil, er ist die Hauptperson und alle die gegen ihn sind, sind schlecht, alle die für ihn sind, sind gut.

Murakami schreibt seine Texte frei von der Seele und es ist unwahrscheinlich, dass, wenn er denn über die Fähigkeit dazu verfügt, er sich je die Mühe machte, über sie nachzudenken. Das verleiht ihnen ihre Kraft und Lebendigkeit, aber auch ihre geringe geistige Tiefe. Murakami lebt sein Leben wohl in genau dieser Unbekümmertheit des Kindes, um die ich Menschen wie ihn ehrlich beneide. Die Filmkritik ist nur eine unfreiwillige Selbstkritik aus einem Patzer heraus oder sie ist eine Form der Autoaggression des durch die Kritik gekränkten.

Ein kleiner Seitenpfad. Er führt zu einem alten Holzschrein im Wald hoch über einer Flussbiegung. Vor dem Schrein eine alte überdachte Holzbühne. Ob hier wohl früher die Fruchtbarkeitstänze aufgeführt wurden? Das Licht flackert durch die rauschenden Laubbäume über das ausgebleichte Holz des Schreins. In dieser kleinen Märchenwelt verbringe ich den Rest des Tages, bis zur Brust eingemummelt in meinen Schlafsack, lesend.

 

Schützend bilden die Kronen eine hohe Halle über dem kleinen Flecken. Ich strecke mich. Reibe mir die Nase. Ein neuer Tag.

Die alte Regel: niemals Japaner nach dem Weg fragen, ich missachte sie immer wieder, aber ich habe, zum Glück, zwei hintereinander gefragt und beide wollten mich in völlig verschiedene Richtungen schicken, sodass ich mich wieder auf diese althergebrachte Weisheit besann und nicht in Versuchung kam, ihren Ratschlägen auch noch zu folgen. Utshiko ist die Partnerstadt von Rothenburg, man war also besser auf der Hut. Eine Kōban, eine der allgegenwärtigen Polizeiwachen. Hier kann man immer fragen, die haben dort in der Regel eh nichts zu tun. Der Polizist findet auf seinem eigenen Stadtplan nicht mal seine eigen Wache. Ich helfe ihm. Der detaillierte Stadtplan ist eine große Hilfe und ich finde alles was ich suche. Der Polizist ist es nicht. Sosehr er sich auch bemüht. Vielleicht kann nur ich den Stadtplan der Einhornstadt lesen.. „Sie haben sicherlich einen langen Weg hinter sich.“ meint der Polizist noch „Wir haben im Ort ein Onsen.“ Wohl ein dezenter Hinweis auf meinen Geruch. Ich beherzige seinen Rat. Ich möchte nicht, dass es so aussieht, als ob ich irgendetwas Schlechtes über den Polizisten sagen möchte, er hat im Rahmen des ihm möglichen sein Bestes gegeben, wie überhaupt alle Menschen so fürchterlich lieb zu mir sind, mir andauernd Getränkedosen schenken, mich mit einem herzlichen Lächeln grüßen. Ach, und die alten Menschen auf dem Land sind alle einfach zum knuddeln. Vielleicht ist es diese scheinbar bedingungslose Liebe, nach der ich suche. Ich liebe euch auch. Alle. Frei und friedlich sitze ich nach dem Onsen vor einer Hütte. Naturbreit. Eins mit allem

 

Um nach Ōse, dem zu Utshiko eingemeindeten Dorf Ōes, zu kommen, muss ich über Erdrutsch Nummer Zwei klettern. Suche sein Geburtshaus. Nicht, dass ich mir irgendetwas besonderes davon erhoffe, ich habe auch nicht vor dort zu klingeln oder den jetzigen Bewohnern in irgendeiner anderen Form auf den Sack zu gehen, ich will nur, da ich nun einmal hier bin, einmal dort gewesen sein. Hinter dem Erdrutsch eine lange Dorfstraße mit dichtbeieinanderstehenden, frischrenovierten Häusern. Auch der Dorfschrein, der Tempel und die Grundschule sind in tadellosem Zustand und strahlen Geld aus. Ōse ist wohl das reichste Dorf auf dem Weg. Das einzige was herausfällt, ist das Betongemeindezentrum, das wasserfleckenübersät zwischen den Holzhäusern hervorragt, wie ein Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Die sich flakartig vom Flachdach in den Himmel streckenden Lautsprecheranlagen geben dieser Trutzburg noch ein trotzigeres aussehen.

Setze mich neben einem Getränkeautomaten auf einen Stein in die Sonne und trinke eine Cola und stelle mir vor, wie ein abgeschossener Bomberpilot mit seinem Fallschirm in den Tümpel gegenüber segelt. Ōes antiimperialistischer Internationalismus hat die Andersartigkeit der anderen zu Voraussetzung, so ist in Der Fang der herabsegelnde Bomberpiloten ein Afroamerikaner (es gab im Zweiten Weltkrieg wegen der damals herrschenden Apartheit keine Nichteuropäer in der US=Luftwaffe), ein Mensch, der zwar über die Geschichte hinweg mehr und mehr ins Dorfleben eingeführt wird, der aber nie im eigentlichen Sinne Teil wird, den Ōe eben nicht zuletzt auch über seine Hautfarbe heraushebt.

Zu Kulturalismus, Antiimperialismus und anderen Formen von Exotismus.. Eine ähnliche Wirtschaftsweise bringt ähnliche gesellschaftliche Ausformungen hervor. Aber auch niemals gleiche. Das heißt, es ist müßig gegen die böse „amerikanische“ Kultur zu wettern, da es sie als solche nicht gibt. Was von den Japanern aus anderen Kulturen übernommen wurde, wurde immer schon den Bedingungen im eigenen Land angepasst und es wurde übernommen, was benötigt wurde, es hätte sich in ähnlicher Form, wenn auch über eine längere Zeitspanne, von selbst gebildet und ist auch in seiner übernommenen Form niemals gleich seiner „Ursprungsform“ (ein gutes Beispiel sind die Jugendbewegungen in Japan, die zwar alles der Form nach übernehmen, die gesellschaftlichen Botschaften, die hinter ihnen stehen aber zumeist völlig ignorieren). Jede Erfindung ist nur eine den Erfordernissen entsprechende Lösung, auf die man kommen wird, wenn einem die erforderlichen Ressourcen, vor allem und zuerst Zeit, zur Verfügung stehen. Sind die Erfordernisse vergleichbar, so sind auch die Lösungen vergleichbar und wenn gegebene Anforderungen Anpassungen notwendig machen, dann findet das statt. Internationalismus hat die Fiktion der Nation zur Voraussetzung und für ein nattōgewöhnte nationalistische Nase wie Ōe mag eine solche Haltung viel zu sehr nach Butter stinken, da sie an den Grundfesten seiner eigenen Identität rüttelt.

Murakami hat Ōes Nationalismus weit hinter sich gelassen. Wenn es Murakami darauf anlegt dem Exotischen zu begegnen, dann muss er schon in die Mongolei fahren, sein Zweiter Weltkrieg ist kein Krieg mit den USA, deren wirtschaftliche wie politische Präsenz in Japan allgemein und in seinem Leben ganz besonders allgegenwärtig ist, sein Krieg spielt an einen Schauplatz, der mit seiner Lebenswirklichkeit denkbar wenig zu tun hat: dem Grenzkrieg zwischen den Satellitenstaaten Japans und der Sowjetunion, Mandschurei und Mongolei. Zur Meisterschaft bringt es Murakami in der Fiktion des Fantastischen, sobald es um seine eigene Lebenswirklichkeit in reiner Form geht, versagt er.

Es war Lukacs,43 der in Geschichtsphilosophische Bedingtheit und Bedeutung des Romans davon sprach, dass der Roman der Tod der Poesie sei, das der Schreibende von der Welt enttäuscht, im wörtlichen Sinne, jede freie Form ablegt und sich ins Korsett des Romans wirft, in Erkenntnis seiner eigenen Gebundenheit im Ganzen.

Wer also noch jung und unbelastet ist, kann noch an die reine Kunst glauben, bevor er mit der Zeit unter der erdrückenden Last des Faktischen das Quatschhafte des Q´uark pour Q´uark durschaut hat. Hat er sie durschaut, so hat er die Wahl dem Nihilismus, dem weißen Nichts, der Ideologie des gescheiterten Bürgers, zu verfallen, der einfachste Weg, oder sich einem Ziel zu verschreiben, das er im Bereich des Möglichen hält, auch auf die Gefahr hin, dass die Erscheinung hinter allzu Konstruiertem zurücksteht. Der zweite Weg ist der steinigere.

Murakami hat mit der Zeit da er seine Unschuld verlor den ersten Weg gewählt, Ōe den zweiten und auch wenn es Murakami mit seiner Wahl einfacher hatte, so muss man doch festhalten, dass er auch die besseren Bücher geschrieben hat. Das Problem Ōes liegt in der pumukelgleichen Primitivität seiner Texte, das platte Gut=Böse=Schema ist zu leicht zu durchblicken und langweilt. Er schafft es nicht, wie es etwa Ottwalt erfolgreich gelang, dem Bösen ein nachvollziehbares Gesicht, ein Psychogramm des Ekels zu geben, da es ihn wohl selbst zu sehr abstößt.

Murakamis Märchen sind eine Absage an jede Form der Moral und mögen gesellschaftlich wie charakterlich fragwürdig sein, doch das macht seine Texte wesentlich offener. Das ist wohl der Hauptgrund, warum Murakami, geistig Ōe weit unterlegen, weit erfolgreicher als dieser ist und von ihm so inbrünstig gehasst wird. Eine wandernde steppenrollgräsergleiche Wurzellosigkeit, sowohl im moralischen als auch im kulturellen Sinne, ist ein einfaches und leckeres Rezept, mit dem sich Nationalismus, Rassismus und Religion abwehren lassen, ohne dass der bequeme Leser über dieses Abwehren hinaus sich Gedanken machen muss, wo er denn überhaupt steht. In diesem Punkt der nihilistischen Negation ist Murakami Kästner nicht unähnlich. Der Standpunkt des Kleinbürgernihilismus eines Nietzsches oder eines Jaspers oder eines Heideggers wird zwar nicht offen eingenommen, um offen für den Nihilismus einzutreten müsste Murakami ja gerade den eigenen bequemen Nihilismus aufgeben und Position beziehen, aber eben doch gelebt: die Negation der Weltanschauung als Weltanschauung.

Lukacs redet in Tendenz oder Parteilichkeit davon, dass die bürgerliche Literatur immer inhaltsärmer und wirklichkeitsferner werde und damit die eigentliche Tendenzliteratur darstelle und auch Ōe hat auch in mehreren Artikeln über die Substanzlosigkeit der Gegenwartsliteratur genörgelt. Ōes teilweise berechtigte Murakamikritik muss man auch als Akt der Ehrlichkeit sehen, Murakami totzuschweigen wäre wohl dem Wesen nach weitaus unaufrichtiger und beleidigender und das Wesen des Nihilismus ist ja gerade Negation und damit die Substanzlosigkeit.

Murakami selbst sprach davon, wohl zur eigenen Rechtfertigung, dass Gewalt und Herrschaft nicht mehr in großen Blöcken auftreten, sondern immer kleinteiliger werden und auch so porträtiert werden müssten (und wohl nicht mehr so schablonenartig wie bei Ōe). Sollte man also Murakamis Geschichten als Antithese zum Heldenepos lesen? Als episch im Sinne Brechts? Wenn es die Absicht war, mit seinen passiven, asozialen Eigenbrötlern, die kein Mensch gerne zum Freund haben will und folglich in seinen Geschichten auch nie Freunde haben, die Menschen aufzurütteln im brechtschen Sinne, dass sie nach dem Buch denken „Das kann man anders machen und wir machen das jetzt anders“, dann hat er mit dem Ich=Erzähler die dafür denkbar ungeeignetste Erzählform gewählt und anhand der Identifikation seiner Leser mit seinen Figuren muss ihm das auch klar sein. Auch diese Möglichkeit fällt weg.

Letztendlich ist es nur konsequent, wenn ein Verfechter des bedürfnisfremden Alle=gegen=Alle Selbstmord begeht wie Akutagawa oder verrückt wird wie Nietzsche, dass Murakami es nicht macht oder wird liegt wohl daran, dass er seine eigenen Widersprüche nicht durchschaut. Zum Glück. In Japan gibt es eine noch aus dem Feudalismus herrührende Tradition jeglichen Widerspruch, auch die eigenen, zu ignorieren und so schließe ich den Gedankengang auch mit einem Widerspruch, einem Jaspers=Zitat: „Jedes Zitieren ist ein Vergewaltigen“,44 denn das hat sich Jaspers redlich verdient.

 

39Odsu Yasudshirō war ein Filmemacher der Fünfziger und Sechziger Jahre, dessen Familienkomödien, ähnlich wie in den deutschen Streifen der Zeit, vom Elend und den Kriegserinnerungen ablenken sollten, trotzdem in ihrer Gestaltung dabei ein hohes Niveau erreichten.

40Die alte Namen der Verwaltungsbezirke Ehime und Kōtshi.

41Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.661

42(Zitat Nachsehen)

43Ein legendärer ungarischer Literaturkritiker.

44(Zitat nachsehen)

 

 

 

 

Tempel 44

 

Das Gefühl, die Hälfte der Tempel hinter mich gebracht zu haben, lässt mich heute auch noch meinen vierten Pass erklimmen, obwohl es einen adrenalinverheißenden Tunnel gab, obwohl ich ihn gar nicht hätte überqueren müssen, denn mein Ziel, Kamikuroiwa, lag am Zusammenfluss beider Täler – bergab.

Erschöpftes ankommen. Doch glücklich. Oft hat man, wenn man von etwas hört, ein starkes Bild im Kopf. Als ich von Kamikuroiwa gelesen hatte, war da dieser riesige Felsvorsprung, unter dem sich ein ganzes Urzeitvolk verbarg, Wildschweine bratend, Jamsbrei mampfend. Dort wollte ich nächtigen ..wie sie. Nun, es ist doch alles etwas kleiner. Und ein unansehnlicher Zaun nebst unansehnlichem Blechdach macht jedes Nachahmen der Dshōmon zunichte.

Vor vierzigtausend Jahren erreichten die ersten Steinwerkzeuge nutzenden und damit sich vom Tier scheidenden Menschen das heutige Japan und mit dem Klimawandel dreißigtausend Jahre später setzt die erste Kulturstufe ein. Das Problem der Menschheit war nie die Überbevölkerung, erst eine hohe Bevölkerungsdichte macht ein effektives Arbeitsteilen möglich, erst mit der Wüstenbildung in der Sahara kam es zur Hochkultur am Nil und genauso bildete der Anstieg des Meeresspiegels am Ende der letzten Eiszeit, der in Ostasien riesige Landflächen verschlang, die Grundlage der älteste Töpferkultur der Welt: der Dshōmon=Kultur. Durch das klimabedingte Massenaussterben begünstigt, nahm die Zahl der Wildschweine sprunghaft zu und wurde zur tierischen Haupteiweißquelle der Dshōmon, die außerdem noch fischten und mit ihren großen Einbäumen Delfine, Robben und Wale erlegten. Mehr noch aber bildeten die Laubwälder, die jetzt die Nadelwälder verdrängten und mit denen sich die Dshōmon=Kultur vom Südwesten des heutigen Japans in den Nordosten ausbreitete, ein verlässliches Kalorienangebot aus Esskastanien, Buchweizen, Jams und Hirse und ihr leichter zu verarbeitendes Holz lieferte das Baumaterial erster Siedlungen. Töpferwaren dienten zum Kochen, zum Einlegen der Esskastanien zum Bitterstoffentzug, zum Haltbarmachen, zum Salzgewinnen und zum Herstellen religiöser Artefakte. Menschen wurden zweimal bestattet. Nach einer gewissen Zeit, in der man die Fleischmasse verwesen ließ, grub man die Gebeine wieder aus um sie in gereinigter Form unter den eigenen Siedlungsplätzen erneut zu begraben. Wohl ging es dabei darum sich den Beistand der Ahnen zu sichern, die man hierarchiefrei begrub, was auf eine noch egalitäre Gemeinschaft schließen lässt. Hier in Kamikuroiwa fanden sich zehn Menschengräber und auch vier Hundegräber.

Siebolt identifizierte die Dshōmon mit den Ainu, die dann mit der Ankunft der Yayoi=Siedler, ungefähr fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung, schrittweise nach Norden abgedrängt wurden. Wie viel Dshōmon tatsächlich in den Ainu, die starke Einflüsse sibirischer Völker zeigen, steckt, ist umstritten, aber mit ihren kleinen Zähnen, runden Gesichtern und größeren Köpfen weisen die Dshōmon zu den heutigen Japanern erhebliche Unterschiede auf, sodass, wenn eine Integration der Altschichtenbevölkerung in die spätere Yayoi=Kultur tatsächlich stattfand, ihr relativer Anteil in der neuen Gesellschaft nicht groß gewesen sein kann, was viele Japaner aber nicht davon abhält, sie, ähnlich hemmungslos wie es die Mexikaner mit den Azteken tun, zum Erschaffen eines Nationalmythos zu missbrauchen, ja, einige „Wissenschaftler“ konstruieren auf Grundlage der vereinnahmten Dshōmon das Postulat Japans als einer „Waldkultur“, die im Einklang mit der Natur lebt und im Gegensatz zur naturzerstörenden „Steppenkultur“ des Westens stehe. Man muss nicht lange argumentieren, Naturschutz hat in Japan nie eine ernsthafte Rolle gespielt.

Erstaunlich ist nicht, dass diese Jäger=und=Sammler=Kultur einer Ackerbaukultur unterlag, erstaunlich ist, dass das in Japan im Vergleich zum restlichen Ost= und Südostasien so spät geschah.

 

Durch die Eiskristalle hindurch glitzert die Sonne in mein Röhrenzelt. Ich, der alte Traum im Einhornschädel. Kahle Bäume. Völlige Stille. Der gestrige Tag sitzt mir in den Gliedern.

Ein trübes Graupelgeriesel fällt vom Himmel. Ich sehe in das morgendliche Wintertal und weiß, warum die Menschen sich in der Grotte verkrochen. Ich musste ausbrechen aus dem langsam kreisenden Stauwasser der Zeit, dass mich hier bis zur nächsten Eiszeit gefangen zu halten gedachte. Kaputze über die Mütze. Rucksack auf. Wasserdicht. Los.

Langsam tapse ich vorwärts. Ein grauer, konturloser Himmel war wie ein Brunnen ohne Wasser, wie ein Vogel, der nicht fliegt, wie ein Weg ohne Ziel. Ich dachte an Haruna.. An ihre Augen, an ihren Mund, an ihre kleine Nase..

 

 

 

 

Tempel 45

 

liegt unter einer hohen schützenden Felswand. Oder auch doch nicht ganz so schützend.. Ihrem doch recht angebröckelten Zustand nach ist es durchaus möglich, dass mancher Mönch und mancher Pilger von ihr bereits etwas vorfristig ins Nirwana befördert wurde.

Zwei Möglichkeiten: Matsuyama oder Ishidsutshi. Berge machen süchtig. Ishidsutshi, der höchste Berg Shikokus, eintausendneunhundertvierundachtzig Meter. „Bei manchen Orten bekommt man das Gefühl, ,da muss ich einfach hin´, wenn man sie auf der Karte sieht.“45 Doch, wie weit würde man durch den Schnee kommen? Lohnte die Plackerei? Unschlüssig sitze ich stundenlang herum. Dann ist die Entscheidung da. Von irgendwoher flog sie mir zu, vielleicht wusste ich es schon die ganze Zeit: Ishidsutshi, ich will es wissen!

Die Freiheit, das Möglichkeitsmögen war in Wirklichkeit ein ewiger innerer Zermürbungskrieg, ein Entscheidungszwang. Zwischen zwei Hütten. Zwischen Brecht und Lukacs. Zwischen Ōe und Murakami. Zwischen zwei Onigiri. Zwischen zwei Mädchen. Zwischen zwei Wegen! Einwirkungsmöglichkeiten auf die Wahrheit im eigentlichen Sinne gab es keine und trotzdem wurde von einem erwartet, erwartete ich selbst von mir, dass ich zu meinen Entscheidungen stand. Ohne Wissen warum ich mich für diesen Weg entschied. Ich dachte an Kafkas Holzhütte und den gefahrvollen Wald dahinter. Ich dachte an die Sonne. Es war der richtige Weg.

Ein Tal zwischen drei Bergspitzen, das sich nach Südosten öffnet. Der würzige Waldduft, der nicht mehr fernen Schluchten griff nach mir aus, sog mich in ihre feuchten Tiefen. Raureifüberzogenes Moos. Glänzender Wald. Durch einen kalten Tag auf der Suche nach Ronja Räubertochter.

Entscheidungsunwillig oder besser gesagt unschlüssig stand ich an der Weggabelung in der Waldeinsamkeit und wusste, dass die Berggeister sich über mich scheckig lachten. Ich blinzelte in die Sonne. Rechts ging es die Panoramastraße hoch. Sie wäre der einzige gangbare Weg in die Nähe des Gipfels, doch war sie recht kühn in den Berg geschlagen. An ihr würde ich wohl keine Zeltmöglichkeit finden. Oben dürfte es im Schnee völlig unmöglich sein. Sollte ich doch lieber ganz umkehren? Sitze in der Sonne und blättere in meinen Notizen. Ein Senecazitat sticht mir ins Auge: „Was Wunder, wenn die, welche sich an steile Höhen gewagt haben, den Gipfel nicht erreichen! Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt.“46 Klar, es fordert mich auf umzukehren und den Ishidsutshi Ishidsutshi sein zu lassen. Oder nein, man kann es auch so lesen, dass ich weiter zu laufen habe.. „Aber jedes Zitieren ist zugleich eine Interpretation.“47 hatte Lukacs gesagt. Tschechows Reise nach Sachalin war ein Selbstzweck.48

Ich tat, was ich schon immer tat, ich schob die Entscheidung auf. Ich schlenderte durch ein kleines Seitental, durch moosbewachsene, winzige Tunnel. Bäume. Ein wilder Bach. Zerklüftete Felsbrocken. Ein verlassenes Haus. Vor seinen klapprigen Fenstern sauste ein kalter, steifer Wind. Hinter einer Kurve erscheint er, der Ishidsutschi, er rief nach mir..

Die murmelnde Waldnacht. Der stille Mond. Kälte. Zelt.

 

Nach einer eisigen Nacht entsteige ich am Fuß des Ishidsutshi dem Zelt. Nein, ich bin nicht tot, niemand wird mich mit Rapsöl überschütten, jetzt fange ich erst richtig an zu leben: Ishidsutshi. Aufstieg im Dunkeln. Laufe durch die Nacht. Der Mond scheint durch die Bäume. Kein Wind. Ab und zu bleibe ich stehen in völliger Stille und schalte die Stirnlampe aus. Murakami hat die Einsamkeit als Säureschild beschrieben, der gleichzeitig schützt wie verätzt. Ich spüre sie auch. Vielleicht ist es aber auch doch nur die Kälte. Träume vom freischwebenden Geist. Bewusstsein im flüssigen Zustand. Der Wille.. Irgendetwas zieht mich den Berg hoch. Es bin nicht eigentlich ich oder „mein Willen“.

Der Mond ist weg. Meine Stirnlampe leistet mir gute Dienste. Schalte sie aus und sehe nach oben. Die Masse tausender und abertausender Sterne. Vielleicht musste man erst diesen alleserdrückenden Drachen Nachthimmel mit der Neonsonne erschlagen, um die in den Städten geballten menschlichen Produktivkräfte sich voll entfalten zu lassen. Lukacs.. „Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der reinen Erkenntnis und erteilt keinem der einsamen Wanderer – und in der neuen Welt heißt Menschsein: einsam sein – mehr die Pfade.“49 Ewiges Wandern auf ewigen Wegen. Schon Kōbō bat am Neunundzwanzig die Sterne um Unsterblichkeit. Die Freiheit nach dem Zerschlagen aller metaphysischen Gebäude, die geistige Obdachlosigkeit, der Griff nach den Sternen, die utopische Unendlichkeit, der Verlust des Zweifels..

Murakami stellt den freien Willen in Frage, wogegen Ōe den handelnden Menschen in den Mittelpunkt seiner Geschichten stellt. Während Murakami also eine Art materialistischen Aristoteles verkörpert, verkörpert Ōe den idealistischen Platon, er glaubt, dass er die Menschen der Höhle erwecken muss, er ist von einer Mission – seiner eigenen – besessen. Murakami folgt keiner Mission und seine Figuren folgen keinem Ziel, das Ziel zieht sie mehr oder weniger passiv an wie lauter kleine Ofterdinge. Spricht der schwarze Schnee mit mir?

Die Versuchung ist da, Murakami in die Nähe von Lukacs´ Widerspiegelungstheorie zu rücken, sozusagen als Gegenstück zu Brecht, doch haben Lukacs und Brecht eins Gemeinsam: Sie wollen den Menschen zum Handeln anleiten. Murakami leitet niemanden dazu an irgendetwas zu tun, seine Leser sind nach seinen Geschichten genauso brave Werkzeuge wie sie es vorher waren und Ōe arbeitet auch nie mit so raffinierten Techniken wie dem brechtschen Verfremdungseffekt. Aber während man Ōe durchaus epische Qualitäten brechtscher Art zuschreiben kann, ist Murakami doch in diesem Sinne dramatisch; während man aus Ōes Geschichten mit innerer Anspannung in die Lebenswirklichkeit zurückkehrt, mit dem Gefühl etwas ändern zu können und etwas ändern zu müssen, ist die Rückkehr aus einer Murakamiwelt wie Ejakulieren: Man hat sich verausgabt und sinkt nun befreit und glücklich in die Kissen. Brecht und Lukacs würden wohl beide Murakami genauso verurteilen, wie es Ōe tut. Ich tue es nicht. Ein klarer Augenblick: Ich tue es nicht. Ja Murakami, so das „Gift und die Bosheit der Kritik […] nichts als Widerwillen in“45 dir erregt. So dient mir „die Reise nach Sachalin unter Umständen als eine Art Pilgerschaft, um sich von diesem literarischen Unrat reinzuwaschen.“45 Wollte Tschechow nach Sachalin, so musste er durch Sibirien.

Wenn ich in meinen Urteilen in den letzten Tagen etwas hart war, so möchte ich sie hiermit relativieren: Ich liebe Murakami, so wie er ist und das letzte was ich wollte, war ihn so anzugehen wie es Lukacs mit Ottwalt in der Linkskurve gemacht hat. Ich erwarte keine selbstverleugnende Selbstkritik wie Lukacs´ nach seinen Blum=Thesen, Murakami soll weiter ohne jedes Schöpfungshemmnis schreiben, einzig beim Genuss seines Schaffens sollte man sich auch immer seiner problematischen Seiten bewusst sein. Es ist schön, dass es mit Murakami endlich auch Bücher in den Flughafenbuchhandlungen gibt, die man auch lesen kann. In Anbetracht dessen, was da sonst so steht, müsste man sonst zwangsläufig zum Kulturpessimisten werden. Ja, frei nach Lukacs ist die kreative Kraft der Schriften Murakamis ein Himalaja und ich Kaninchen werde auch dadurch, dass ich sie besteige, nicht größer als der sich unten in der Stadt an der Mauer wetzende Dickhäuter.

Kaltes Winterlicht. Ein fremder, glühender, ferner Feuerball, der mich in seinem Bann hält, steht knapp über dem Horizont, als wolle er es sich nochmal überlegen. Sollte er heute wirklich diesen weiten Weg wandern? Er gibt sich keine Mühe den eisigen Tag zu mildern.

Keine Spuren. Niemand lief vor mir durch den Schnee. Das Rauschen von Zweigen und Ästen, ein kalter Hauch im Nacken. „Danach bin ich mit dem Knistern meiner Schritte im Schnee allein.“50 Langsam breitet sich Wärme aus. Irgendwann ist es geschafft. Der Kamm. Die Spitze schenke ich mir. An der Schwelle zur Ferne brandete mir der Wind entgegen, als wenn alle Kühlschränke der Welt einem mit ihren aufgerissenen Mäulern entgegengähnten. Lieber Murakami, ein Besuch bei den Schwiegereltern ist nichts dagegen.

Zum Sechzig muss ich einen steilen verschneiten Weg hinterm Kamm hinunter. Jetzt, wo es bergab ging, fraß sich die brennende Kälte unerbittlich in die Muskeln. Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles. „Folgen wir nicht, wie das Herdenvieh, der Schar der Vorangehenden! Wandern wir nicht, wo gegangen wird, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll!“51 Blicke hinunter ins Tal und den Weg, den ich noch vor mir habe, blinzelte in die trockene Wintersonne und verfluchte meine Entscheidung. Und war davon überzeugt, dass die anderen dafür verantwortlich waren, dass ich mich so entschieden hatte! Seneca! Alle! Transaktionsanalyse am Arsch! Weiter durch die schneeumtoste Bergwildnis.

Der trockene Schall der Sonne prasselte in stummen Klangfetzen auf mich nieder. Weggetretener Dämmerzustand. Wachen im Zauberschlaf. Der Berggott, beziehungsweise Fruchtbarkeitsgott, heißt es, zieht sich im Winter auf diese Spitze zurück, es wird Frühling wenn er wieder abstieg. Ich stieg ab. Es hatte Frühling zu werden!

Völlig erschöpft komme ich unten an. Ich hätte einen Schlitten nehmen sollen. Ich wollte es wissen? Ich wusste es: Ich hasse Berge. Irgendwie überlebt. Das einzige, was mir in den Sinn kam, war das kalte, blaue Meer.

 

45Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.255

46Seneca Vom Glückseeligen Leben, Alfred=Kröner=Verlag, Stuttgart 1978, S.39

47Georg Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein, Hermann=Luchterhand=Verlag, Berlin 1970, S.52

48Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.454

49Georg Lukacs Geschlossene Kulturen, in Georg Lukacs Literatursoziologie, Hermann=Luchterhand=Verlag, Berlin 1961, S.86

50Haruki Murakami Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 2000, S.533

51Seneca Vom Glückseeligen Leben, Alfred=Kröner=Verlag, Stuttgart 1978, S.19

 

 

 

 

Tempel 60

 

Ich träume von einer Katze. Ich bin ungefähr einen Meter groß und sie läuft vor mir lang und weist mir den Weg. Ihre Art mit mir zu sprechen hat etwas leicht hochnäsiges. Ich liege in einem warmen Bett. Die Klimaanlage summt. Auf der Decke auf mir liegt eine blaue Katze und kuckt mich mit großen Augen an. Als ich sie grüße maut sie aber nur. Ich bin wohl wach. Blicke mich um. Jetzt sitzt sie am Fenster. Nein. Es ist eine andere blaue Katze. Bin ich wach? Naoko steht in der Tür, „Du bist wach!“ Gut, ich bin wohl wach. Aber ich könnte natürlich auch träumen, dass sie das sagt – die Sache mit den Kretanern.. Bekomme Kopfschmerzen.

 

Als ich Aufwache ist es Nacht. Mit wackligen Füßen stehe ich auf. Das Klo ist schnell gefunden. Dunkle Schatten huschen um mich herum. Katzen. Finde eine Tüte Chips. Danach zurück ins Bett. Ein dunkler Haufen liegt da. Es ist Naoko. Hatte sie beim Aufstehen gar nicht bemerkt.

 

Als ich die Augen öffnete und versuchte aufzustehen flackern mir Irrlichter durchs Auge und schwarzen Blitze zuckten mir durch den Kopf. Auf den Bettrand setzen. Sammeln. Frühstück. Unglaublich viele unglaublich leckere Dinge. Danke Naoko. Sie sagt, ich hätte vierzig Grad Fieber gehabt. Frage sie lieber nicht ob sie mir irgendwelche Medikamente verabreicht hat. Von Oldboy ist es kein großer Sprung zu Kafka am Strand, aber um meine Tochter zu sein, ist sie zu alt, um meine Mutter zu sein zu jung. Bleibt die Hoffnung, dass sie nicht meine Schwester ist.

Als sie sich auf zur Arbeit gemacht hat, wasche ich ab – es dauert lange –, dann lege ich mich vor den Fernseher und lass mich berieseln. Es gibt in der ganzen Wohnung kein einziges Buch. Das japanische Fernsehen hat seinen schlechten Ruf nicht ohne Grund; neben dem Lizenzsystem, das als Damoklesschwert der Regierung über jedem Sender baumelte, waren es auch die Presseklubs der Staatspartei und des Kapitals – eine Einrichtung der zwanziger Jahren –, die zum einen Informationen monopolisierten und so die Journalisten, ähnlich dem Kriegsjournalismus, in Abhängigkeit hielten, aus ihnen geworfen zu werden bedeutete, dass ein Journalist alles erst einen Tag später erfuhr, zum anderen ihre Gefügigkeit mit Reisen und Spesen erkaufte.

Wer noch nie japanisches Fernsehen gesehen hat, könnte vielleicht aus diesen Worten schließen, dass es sich um ein starres, eintöniges Grauemäuseprogramm handelt, das ist es wirklich nicht. Fette Transvestiten als Moderatoren konkurrieren mit schrillen Gästen wie komplett in lila gekleideten Zwillingen, Popsternchen mit grellen Frisuren, lispelnden Riesen und Menschen aller Art in aufgedonnerten Klamotten aller Farben und Schnitte um die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Legendäre Sendungen wie Fūuntakeshidshō,52 lief in Deutschland früher als „Takeshis Castle“ auf DSF, sind diesem hemmungslosen, bunten Fiebertraum entstiegen. Dieser schrille, epileptische Zirkus ist alles andere als langweilig, doch Inhalte sucht man hier vergebens. Nichts, was an Panorama, Monitor oder gar 3sat heranreicht. Ich schalte an. Ich tauche ein. Ich gehe auf. Eine Welt farbenfroh, aufgedreht und prächtig. An den Folgen einer Fernsehserie gestorben..

Abends kommt Naoko wieder und kocht etwas Leckeres. Ich möchte meine gestrige Aussage richtig stellen: es sind sechs Katzen. Da sie alle gleich aussehen, merkt man es solange nicht, wie sie nicht alle zufällig gleichzeitig ins Blickfeld geraten. Obwohl sie gleich aussehen, Naoko sagt, sie hielte sie anhand ihrer Gesichter auseinander, haben sie doch einen sehr unterschiedlichen Charakter. Vier von ihnen scheinen sich in der Zeit, da ich schlief, an mich gewöhnt zu haben und kletterten ungezwungen auf mir herum, eine weitere flieht sobald ich mich bewege und eine andere macht auf Arschloch und haut einem unversehens die Krallen in die Hand. Ich wünschte wenigstens die letztere von den anderen unterscheiden zu können. Jetzt liege ich hier eingebettet unter einer dicken Decke, schreibe im Licht meiner kleinen Stirnlampe, neben mir das sanfte Beben der schlafenden Naoko. Geborgenheit. Manche Menschen gaben einem so viel und forderten so wenig. Sie war auch so eine Heilige, eine durch Raum und Zeit ziehendes Götterkind, eine Miko.

 

Frühstück. Ihre Klamotten wirkten so teuer, von dem Geld hätte ich wohl problemlos ein ganzes Jahr lang leben können. Auch ihre Wohnung ist für japanische Verhältnisse recht groß. Frage sie, was sie an Miete zahlt, nun, sie zahlt keine Miete, sie hat sie gekauft. Es kommt noch dicker. Als wir mit dem Aufzug in die Tiefgarage fahren, steht da ein Porsche. Es ist ihr Porsche. Verwerfe meinen Gedanken mich für all ihre Hilfe mit einem großzügigen Geschenk zu bedanken. Was könnte ich denn ihr schon schenken? Wie soll man sich jemanden erkenntlich zeigen, der schon alles hat? Vielleicht indem man ihn trotzdem nicht verachtet. Trotz Porsche ist sie so ein lieber Mensch – ich kann ihn ihr nicht anzünden, Klassenkampf muss hier einmal Pause machen.

Das Lenkrad ist links. Auf meine Frage ob es denn keine für Linksverkehr ausgelegten Porsche gibt, antwortet sie: „Doch, aber ich will etwas besonderes sein.“ Das ist ja prinzipiell nachvollziehbar, doch so düse ich auf den engen Straßen dem Gegenverkehr entgegen, nicht sie. Fühle mich hilflos ausgeliefert. Trotz alledem fühle ich eine gewisse Verbundenheit zu ihr, man nennt das, glaube ich, Helsinkisyndrom. Ist Naoko der Teufel und ich der Bauer? Muss an Haruna denken. Sie hat immer von Finnland geschwärmt. „Das hat doch keine Eile, sagt der Teufel.“53 ..Ich bin der Teufel.

Großeinkauf im Supermarkt. Eisregen. Schlittern über den Parkplatz. Zurück am Porsche stellt sich die Frage wohin mit dem ganzen Kram. Mit einem rechtfertigenden „Normalerweise nutze ich ja den Beifahrersitz mit“ wird ein Manöver eingeleitet, bei dem ich mich erst hinsetze, um dann mit einem Berg praller Tüten bestapelt zu werden.

Sie greift zur Flasche und schüttet Wasser über die Windschutzscheibe. Die gesprenkelten Eisflächen verwandeln sich in eine geschlossene, die das Blickfeld abstrakt verzerrt. Sie setzt sich ins Auto, betrachtet für einen Moment mit verzogenen Augenbrauen die Windschutzscheibe, um dann mit einem resignierten „Da kann man nichts machen“ den Wagen zu starten. Als wir nach Hause rasen beruhige ich mich damit, dass ich ja zusätzlich zum Airbag noch all die Tüten habe, die mich – hoffentlich – zusätzlich abfedern.

Wir kucken fern und unterhalten uns. Naokos Eltern sind tot – Autounfall, wer hätte das gedacht – und mit ihrem Bruder, der bei der LDP Karriere macht, hat sie keinen Kontakt mehr. Sonst gibt es keine Verwandten. Vielleicht sind die Charaktere bei Murakami doch nicht ganz so konstruiert.. oder ich sacke langsam selbst in eine Murakamiwelt hinüber.

Über die Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft ist schon viel geschrieben worden. Berge über Berge von Schriftstücken türmen sich in Deutschland zu dieser Frage und es ist wohl nicht mehr möglich, auf sie zu antworten, ohne etwas zu sagen, was nicht schon tausende Male gesagt wurde. Da spielen sich einige im Am=deutschen=Wesen=soll=die=Welt=genesen=Habitus zum Retter der japanischen Frau auf, während ihre japanophilen und/oder nationalistischen Gegenstücke mit kulturalistischen Konstrukten bestreiten, dass Japanerinnen irgendetwas an den herrschenden Rollenmustern ändern wöllten oder auch nur, dass diese sie überhaupt benachteiligten.

Es ist Richtig, dass die Frauen, die etwas ändern wollen, eine Minderheit darstellen, genauso richtig ist aber auch, dass die, die aus der ihnen übergestülpten Blaupause ausbrechen wollen, einen sehr steinigen Weg vor sich haben.

Oft wird die Rolle der japanischen Frau in einer Art Mischung zwischen Möbelstück, Haustier, Putzroboter und Gummipuppe geschildert, dass man meinen möchte, es würde nicht über Japan sondern über Steinzeitstaaten wie Saudiarabien, Afghanistan oder Marokko geredet, ganz so ist es nicht. Es ist richtig, dass der Konfuzianismus die Frau, ähnlich dem Islam, zum Sklaven des Mannes herabwürdigt, doch spielte der Konfuzianismus zwar eine starke, doch nie eine so absolute Rolle wie in Korea oder früher in China. In der Mēdshizeit, als ganz Japan sich in ein dezentrales Gulag verwandelte und viele Frauen von ihren Vätern in die Textilfabriken verkauft wurden, in denen sie, eingesperrt, mit zwei= bis viermal Ausgang im Monat und zwei ärztlichen Untersuchungen im Jahr bei einem Drittel des Lohns der Männer schuften mussten und es zu skurrilen Gesetzen kam, wie 1872 das Verbot für Frauen kurze Haare zu tragen oder die absurde Verordnung von 1889, dass keine Frau Kaiser werden dürfe (es hatte auch ohne sie seit über tausend Jahren keine Kaiserin gegeben), gab es das klare Ziel die Gesellschaft so durchzuhierarchisieren, dass sie gleichzeitig dem militärischen wie dem konfuzianischen Ideal entsprach. Die Frau stände hier ganz unten, vor den Kindern auf vorletzter Stufe. Tatsächlich setzten sich die Frauen aber auch zur Wehr, so waren es Arbeiterinnen, die 1886 in Kōfu den ersten Streik Japans organisierten und bei den antikommunistischen Razzien Ende der Zwanziger fanden sich hunderte Frauen auf der Anklagebank, um Bebel zu zitieren: „Die Frau und der Arbeiter haben seit langer Zeit gemein, unterdrückt zu sein.“54

Gesetze wie die „Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ von 1887, die Frauen die Mitgliedschaft in politischen Organisationen verbot oder das Verbot von religiösen Ekstase= und Rauschpraktiken, hier dienten seit Urzeiten fast ausschließlich Frauen als Medium, zeigen wie sehr sich die konservativen Elite vor der Frau fürchtete. Im alten Japan spielten Frauen durchaus eine wichtige Rolle, sie waren in manchen Gegenden Alleinerben und auch das Familienregister wurde teilweise in weiblichen Linien geführt, aber vor allem waren sie als Schamanen, Seher, Priester und Weissager Mittelpunkt des religiösen Lebens. Als Miko, „Götterkind“, führten sie in vorgeblicher Jungfräulichkeit die Schreine, hatten intimen Kontakt zu den Göttern und gebaren göttliche Kinder. Als Itako, also als blindes Medium, hielten sie Verbindung ins Jenseits. Und als Moriko, „Waldkind“, zogen sie als Hidshiri durch die Lande oder lebten in Askese in den Bergen. Eine Moriko lebte auch oft in „wilder“ Ehe mit einem Hidshiri als heilige Geschwister.

Die erste Zurückstufung erfolgte durch die Einführung des Buddhismus, der sie als Wandernonnen und =mönche in die neue Ideologie integrierte und sie gleichzeitig über den Verlust ihres Alleinstellungsmerkmal relativierte. Die zweite und folgenreichere Zurückstufung erfolgte mit der Übernahme des Konfuzianismus, in dessen Rahmen die Miko offiziell auf reinen Hilfstätigkeiten für männliche Priester beschränkt wurden, sich aber bis zur Mēdshizeit nie völlig marginalisieren ließen.

In der Mēdshizeit versuchte man sich an der Quadratur des Kreises. Zum einen sollte die Rolle der Frau, dem konfuzianischen Ideal folgend, endgültig im Namen der Harmonie auf die einer Dienerin des Mannes beschränkt werden. Der Gedanke dabei war es wohl der, nun unter dem strengen neuen System leidenden, männlichen Bevölkerung ein Ventil zu öffnen, denn dem Sklaven ist sein Leben erträglicher, so er auf einen anderen hinabblicken kann. Zum anderen sollte der Shintō mit all seinen weiblichen Göttern zur neue Staatsideologie erhoben werden. Nicht nur ist die Stammmutter in dieser Ideologie, die Sonnengöttin Amaterasu, eine Frau, auch die etlichen lokalen Berg= beziehungsweise Fruchtbarkeitsgötter sind meist weiblich. Am Fudshi zum Beispiel gilt der Krater als Schoß einer solchen Göttin und es galt allgemein als unschicklich in die Wasserläufe der Felder zu urinieren, da es sich dabei um die fruchtbaren Säfte eines solchen Wesens handele. Dieser Widerspruch war der Riss, an dem die Emanzipationsbewegung, mit dem Motto „Am Anfang war die Frau die Sonne“, die Brechstange an die Verhältnisse setzen konnte, wie die Feministin Takamure.55

Mit dem Feminismus ist es ein bisschen wie mit der Black=Panter=Bewegung in den USA. Die Black=Panter=Bewegung war rassistisch, so lehnte sie „Mischehen“ ab und forderte getrennte Schulen für Schwarze und Weiße, ihr Rassismus entstand aber aus einem Selbstbehauptungswillen gegenüber dem Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft und ist somit, auch wenn man ihn als Rassismus rational ablehnen muss, doch emotional nachvollziehbar, beim Feminismus verhält es sich ähnlich. Diese Form sexistischen Seperationsdenkens setzt ebenfalls nur einer Diskriminierung eine andere entgegen und ist ihr deswegen wesensverwandt, aber viele Frauen, die ihm verfallen, tun es, weil sie selber Opfer sexistischer Diskriminierung geworden waren. Es ist bezeichnend, dass Takamure in den dreißiger Jahren für den japanischen Expansionismus warb, da dieser eine Befreiung der chinesischen Frau darstelle und jede Unterdrückung der Frau in Japan nur auf den schlechten chinesischen Einfluss zurückzuführen sei.

Seit den achtziger Jahren ändert sich die gesellschaftliche Rolle der Frau immer mehr. Es gibt inzwischen viele Frauen, die sich in der Wirtschaft hochgearbeitet haben und vereinzelt trifft man sie auch in den sogenannten „Führungspositionen“ an. Spricht man mit Feministen, so werden sie einem erzählen, dass weiter ein erheblicher Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen in vergleichbaren Stellungen besteht, der erhebliche Unterschied zwischen den verschiedenen Berufen hingegen wird von ihnen als „natürlich“ empfunden. Lockt man sie ein bisschen aus der Reserve und projiziert ihre biologistische Ausleseideologie auf den von ihnen als ungerecht empfundenen Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau, so erfährt man wie viel Arroganz leider oft in diesen Menschen steckt.

Genau wie mein Erzähl= und Zeitfluss schwappe ich auch hier innerlich hin und her. Einerseits will ich niemanden anprangern, der gegen Ausbeutung und für Selbstbestimmung kämpft, andererseits sind mir diese biologistischen Ideologien einfach zuwider. Den Kopf zurückwerfen. Die Stirn reiben. Sammeln. Weiter.

Ja.. Muss an Kasahara aus den Aufziehvogelaufzeichnungen denken. Kasharas Aussage, sie fühle sich durch monotone Fließbandarbeit nicht entfremdet, enthüllt Murakamis Denken. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Mädchen, dessen Freizeit sonst aus Sonnenbaden und Pornos besteht, sich von sich aus in einer isolierten Perückenfabrik am Ende der Welt mit der Entfremdungstheorie beschäftigt oder auch nur mit ihr in Berührung kommt. Natürlich kann und wird sie unter entfremdeten Arbeitsbedingungen Entfremdungsgefühle entwickeln, aber sie wird es wohl kaum in solche Begrifflichkeiten ausdrücken und wenn das Theorem von außen ihr zugetragen wurde, hätte sie das sicherlich erwähnt. Murakami projiziert hier seine eigenen Vorstellungen vom glücklichen Diener, die ihm dazu dienen, seine eigenen Schuldkomplexe gegenüber Fabrikarbeiterinnen, die noch in den achtziger Jahren mit Wohnheimen, Sperrstunden und Kontrolle des Privatlebens gegängelt wurden, zu verdrängen. Auch extreme Ausbeutungsauswüchse, wie dass man die Frauen hier nur bis zur Hochzeit arbeiten lässt, um sich so die Lohnerhöhungen zu sparen, werden nicht problematisiert, vielmehr werden sie als geschickter Schachzug des Unternehmers dargestellt.

Gleichzeitig gibt es in den Aufziehvogelaufzeichnungen aber auch eine ganze Reihe starker Frauen mit verschiedenen Formen von Superkräften, Formen moderner Miko, wie Kumiko oder der Anti=Kumiko Kreta Kanō, die sich nicht nur, zuerst im Traum dann in der „Wirklichkeit“, ein Kleid teilen, sondern eine Form der Einheit aus Glück und Unglück bilden, die dialektische Züge trägt. Beide sind die jüngsten von drei Geschwistern mit jeweils einer älteren Schwester und einem älteren Bruder, aber während die eine aus einer schrecklichen Familie mit schrecklicher Kindheit kommt und trotzdem ein glückliches Leben führt, kommt die andere aus einer glücklichen Familie mit glücklicher Kindheit führt trotzdem ein unglückliches Leben. Zusammen bilden sie den Fluss, der im Schnitt nur einen halben Meter tief ist und in dem Murakami trotzdem fast ertrunken wäre..

Vielen waren die entfremdeten Verhältnisse aufgefallen, die in Murakamis abgebrühten Märchenland am Ende der Welt herrschten. Die Entfremdung geht so weit, dass Murakami selbst in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt nicht einmal mehr weiß, was er produziert. Murakamis Buch war deswegen damals durchaus als marxistisch aufgenommen worden, die doppelte Entfremdung, die Vereinzelung des Kleinbürgers, die Darstellung von Staat und Kapital.. Auch seine Konsumzitate konnte man bei einer solchen Lesweise als ironischen Pranger des Ekels begreifen.

Murakami hatte nichts dergleichen im Sinn. Zwar war er der Kleinbürger, zwar lebte er in entfremdeten Verhältnissen, zwar litt er unter Staat und Kapital, doch sein nihilistisches Selbstverständnis, er selber würde es sicherlich nie als nihilistisch bezeichnen, war es „über“ jeglicher Ideologie zu stehen. Allein die Umstände schlugen, ohne eigenes bewusstes Zutun, in diesem Buch durch. Diese verkrampfte Kleinbürgerideologie des „Überideologischen“ trieb ihn wohl dazu, Kasahara diese seltsamen Worte in den Mund zu legen um nicht wieder durch Marxisten vereinnahmt zu werden.

Wenn Murakami schreibt, „Eine solche Tat kann nur als unvermeidlich gelten, wenn man nach einer streng neutralen Untersuchung aller Fakten zu dem Schluss gekommen ist, dass der Betreffende kein Erbarmen verdient. Das gilt für Männer, die – wie Parasiten nur Leben können, indem sie anderen das Blut aussaugen. Männer, die unheilbar pervers sind, ohne den geringsten Willen zur Besserung, und bei denen nicht im Mindesten einzusehen ist, welchen Wert ihr Weiterleben hätte.“,56 dann ist damit nicht der Vorstand der Deutschen Bank gemeint – die Herrhausens von Heute haben von Murakami nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Als Murakami 1q84 schrieb war er längst Teil des Großbürgertums. Es wimmelt in dieser Geschichte nur so von reichen Gönnern und erwählten Führern, die das gemeine Fußvolk weisen und mit ihrer überlegenen Intelligenz zum Guten anleiten. Dieser Großbürgerideologie liegt die Annahme zugrunde, dass die Armen aus Dummheit und Unvermögen arm wären. Aber jenseits der Frage, ob es denn vertretbar wäre jemanden auszubeuten, weil er dumm ist, kann man diesen Faktor nicht total setzen. Zum Reichsein braucht man zwei Eigenschaften: Skrupellosigkeit und Intelligenz, die Armen setzen sich hingegen aus zwei Gruppen zusammen: den Intelligenten mit Skrupel und den Skrupellosen ohne Intelligenz. Ich schätze, allerdings aus persönlicher Erfahrung heraus und ohne Feldstudien betrieben zu haben, ihr Verhältnis auf fünfzig zu fünfzig. Ja, was man in den Büchern Murakamis nie zu lesen und im japanischen Fernsehen nie zu sehen bekommt und deswegen einen immer wieder überrascht, ja, das eigene Bewusstsein förmlich überfällt, wenn man im Land unterwegs ist, ist wie viel Armut es in diesem unglaublich reichen Staat gibt. Armut kommt bei Murakami nur in Sätzen wie „Die kleine Familie sah nicht gerade reich aus, aber auch nicht so, dass man sich vor anderen Leuten hätte schämen müssen.“57 oder „Wenn Menschen nur ein ärmliches Leben führen können, weil sie mittellos sind, lässt sich das eben nicht ändern.“58 vor, bei denen dem Leser die Verblüffung doch aus allen Pooren pfeift. Murakami. Einer der erfolgreichsten und damit auch reichsten Autoren der Welt. Mehr noch, das, was er schreibt, erreicht millionen Köpfe in Japan. Wenn er nicht eine Veränderung zumindest anstoßen kann, kann niemand etwas in Japan bewegen. Die Wahrheit ist, er will nichts bewegen, da er nicht will, dass sich etwas ändert. Nichts, was an seinem wunderbaren Leben im wunderbaren Shōnandai irgendetwas ändert. Ich kann ihn ja verstehen, vielleicht würde ich auch so werden, würde sich mein Klassenhintergrund ändern. Also an alle Antimarxisten, die ihr das jetzt lest und mit mir völlig über Kreuz liegt: Ihr müsst meine Bücher kaufen und verbreiten um mich zu ändern! Natürlich kann ich, ähnlich den Chinesen, sagen, ich benutze das System, den Klassenfeind, um dann mit dem akkumulierten Kapital das eigentliche Ziel voranzutreiben, doch würde ich wohl genauso wie sie an der Eigendynamik des Klassenwechsels, an der zwingenden Kraft des Faktischen scheitern. Die Wut verlieh mir Kraft. Ein schöner Nachmittag wurde zu einem schönen Abend.

 

Am Morgen fragt sie mich wie meine weiteren Pläne wären. Keine Pläne. Überhauptkeine Pläne. Darf ich mich noch einen Tag hier ausruhen? „Klar.“

Als sie auf zur Arbeit ist und ich abspüle, frage ich mich, ob sie die Pille nimmt. Die Einführung der Pille in Japan wurde jahrzehntelang von der Lobby der Frauenärzte verhindert, die sich an den Abtreibungen auch heute noch eine goldene Nase verdienen und zahlreiche groteske Gruselgeschichten über Krankheiten im Zusammenhang mit der Pille wandern als nicht totzukriegende Mythen durch die japanische Gesellschaft, sodass auch heute nur wenige Japanerinnen die Pille nehmen. Japan ist das Reich der Abtreibungen. Die offiziellen Statistiken dazu sind nutzlos, da die meisten Abtreibungen gar nicht gemeldet werden und die inoffiziellen Schätzungen variieren stark von Organisation zu Organisation.

Es ergibt jetzt auch keinen Sinn mehr, sie zu fragen und so oder so wird sie mich nicht auf Unterhalt verklagen, zum einen ist sie zu reich, zum anderen bin ich zu arm und, ja, leider sind die japanischen Gesetze hier auch viel zu lasch. Väter werden hier fast nie gezwungen zu ihrer Verantwortung zu stehen – vielleicht hätte es einen viel früheren und besseren Zugang zur Pille gegeben, wenn dies in der, auch heute noch von Männern dominierten, japanischen Gesellschaft anders wäre. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass Männer in diesem Land kaum Erziehungsrechte genießen. Wenn die Frau ihnen nach der Scheidung die Kinder einfach vorenthält oder man sich das Hochzeitsgedöns gleich gespart hat, bleibt dem Mann nichts als die Erinnerung. Naja.. Für Feministinnen, die wollen, dass ich zum Unterhalt herangezogen werde, gilt das Gleiche wie für die Antimarxisten: Vertreibt meine Bücher, dann gibts auch was zu holen.

Ein weiterer Tag vor dem Fernseher. Denke an Kasahara.. in den Bergen mit Blick aufs Japanische Meer.

 

Bitte sie mich beim Frühstück vor der Arbeit dort hinzubringen, wo sie mich aufgelesen hat. Bin zu stolz zu sagen, dass ich nicht mehr weiß wo. „OK“, sagt sie. An einem Konbiniparkplatz setzt sie mich ab. Hier also. Kein Fernsprecher weit und breit. Muss jemanden anderes gebeten haben sie anzurufen. Winkend fährt sie davon. Winke zurück. Stehe noch fünf Minuten rum. Grübeln. Ich hatte Frieden mit dem Klassenfeind geschlossen. Ich schäme mich. Ich komme mir feige, rückgradlos und impotent vor wie Murakami bei der tōkyōter Olympiade. Vielleicht liegt es daran, dass ich feige, rückgradlos und impotent bin. In jeder Hinsicht werde ich Murakami immer ähnlicher. Dabei war es bis zur nächsten Tōkyōolympiade doch noch etwas hin.. Ich muss zurück zu Haruna oder meine gesamte Weltanschauung zu Grabe tragen. Oder war es Zeit für einen Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns? Ach, ich wünschte, Naoko hätte mir irgendeinen Grund gegeben, sie zu hassen. Gehe los. Gehe auf. Einssein.

Hinter der Hauptstraße Miyoshis blicke ich zurück auf die Bergmauer mit ihren weißen Gipfeln und erinnere mich der eisigen Winde, der glühenden Stürme. Im weißblauen Himmel hängen drei unscharfe, flache Winterwolken, die wirken, als hätte man einen Weichzeichner über sie gelegt, im Kreis um den Ishidsutshi. Völlige Ruhe liegt über der Stadt. Das Krächzen der Krähen unterstreicht das Fehlen jeden Luftzugs, jedes anderen Vogels, jedes Menschen. Selbst die kleinen Hunde in den Straßen bellen nicht. Abgebrühte Märchenwelt..

Gibt es etwas Schöneres als an einem Wintertag im Wellenrauschen barfuß durch warmen Sand zu laufen? Abends zelten am Strand.

 

52Eine absolut legendäre Fernsehsendung und ich möchte die Gelegenheit hier nutzen, jeden, der noch Mitschnitte ihrer hat, dazu aufzurufen, sie hochzuladen!

53Haruki Murakami Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 2000, S.281

54(Zitat nachsehen)

55Takamure lief übrigens auch 1918 den Pilgerweg. Sie startete am Fünfundvierzig, der der Hokkesenin=Einsiedlerin, einer alten Moriko, gewidmet ist und lief ihn in sechs Monaten. Ja, es gibt sie, Pilger, die noch langsamer als ich..

56Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.387

57Haruki Murakami 1q84/Buch 3, DuMont=Buchverlag, Köln 2011, S.421

58Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.327

 

 

 

 

Tempel 59

 

Treffe morgens einen völlig betrunkenen Kanadier, der mir erzählt, wie toll er Trump findet. Irgendwie ist er mir trotzdem sympathisch.

 

 

 

 

Tempel 58

 

Beim Abstieg mach ich mir etwas Sorgen um den Kanadier. Er ist zwar wesentlich sportlicher als ich und der Weg ist nicht eigentlich gefährlich, aber alkoholbedingt lässt doch seine Motorik nach. Der Kanadier hat mir inzwischen sein gesamtes Leben erzählt.

 

 

 

 

Tempel 57

 

Der Kanadier entschuldigt sich tausend Male, er müsse den Weg in dieser und jener Zeit schaffen und so weiter und so fort. Kein Problem lieber Kanadier, war lustig mit dir und ich weiß, dass ich langsam bin.

 

 

 

 

Tempel 56

 

..und Fünfundfünfzig sind beide im Feuersturm des Zweiten Weltkriegs verbrannt, was man aber weder..

 

 

 

 

Tempel 55

 

..noch Sechsundfünfzig ansieht. Egal wie alt die Tempel sind, sie sehen alle gleich aus.

Wanderer kommst du nach Imabari, dann.. Ja, was? Dann verweile nicht zu lang. Es gibt eine recht langweilige Burg und eine riesige Schiffsschraube an einer der Kreuzungen und, ja, und dann wars das auch schon. In der Herberge arbeitet eine Taiwanesin. Frage sie, ob es noch irgendetwas anderes in Imabari zu sehen gibt. Sie sieht mich mit gequälten Blick an, dann sagt sie nach einer kleinen Pause, das Kinn auf die Hand und den Ellenbogen auf den Tresen, mit dem Blick auf die Prospektwand mit mutloser aber nicht trauriger Stimme: „Als ich den ersten Tag hier war, wollte ich ein Foto von mir vor der Schiffsschraube machen, doch gab es weit und breit niemanden, der es hätte schießen können!“ Stimmt, es gibt keine Menschen in den Straßen Imabaris. Ihr Chef kommt von hinten dazu und verkündet ungefragt „Willkommen in Imabari, der schönsten Stadt Japans! Waren sie schon bei der Schiffsschraube?“ Bin etwas verunsichert, kann aber keinen Funken von Ironie in seinem Gesicht ausmachen. War er jemals in einer anderen Stadt gewesen? Wanderer kommst du nach Imabari, so laufe durch die bedrückend leeren Gassen voller unheimlicher Häuser mit schwarzen Fenstern. Sie lädt mich zu Sushi ein und wir unterhalten uns über Taiwan und über Filme und sie empfiehlt mir den taiwanesischen Horrorfilm „Drunk Man ate Woman“ – muss unweigerlich an den Kanadier denken. Drei Stunden lang malt sie mir diese Insel in den schönsten Farben, die das gruselige Imabari draußen Minute um Minute grauer erscheinen lassen. Man spürt, wie sehr sie sich sehnt nach Taiwan, kein Wunder.. wenn man hier leben muss. Es sind nicht alle Japaner so schmerzlos wie ihr Chef, Japaner, die bereits im Ausland waren sagen einem manchmal von selbst, wenn sie ein paar Bier getrunken haben, dass sie sich für die Hässlichkeit ihrer Städte schämen. Ich hebe dann immer, um etwas Nettes zu sagen, Einzelgebäude hervor, die gelungen sind, aber den Fakt des hässlichen Gesamteindruckes zu bestreiten, würde heißen, zu lügen. Wie Murakami eine seiner Figuren sagen ließ: „Wieso schufen die Menschen sich solche bedrückenden Orte? Das hieß ja nicht, dass die Welt bis in den letzten Winkel schön sein sollte. Aber wieso musste etwas derart hässlich sein?“59

Imabari war früher ein Zentrum der Werftindustrie. Korea hatte das Gleiche mit Japan gemacht, was Japan mit Deutschland gemacht hatte und war nun dabei durch China seiner Werftindustrie entledigt zu werden und Indien stand schon in den Startlöchern um China zu beerben und irgendwann würde sie wohl nach Afrika weiter wandern. Es war das Zugvogelmuster. Wir fuhren noch zu einem kleinen Hügel und blickten auf Imabari. Oft wird der Schein einer Stadt in der Nacht als ein mächtiger, in die Finsternis ragender Lichtturm beschrieben, doch das hier war nur ein ungelenker Lichtmaulwurfshügel, dessen Auswurf sich zerzaust in alle Richtungen verlor..

 

Aufstehen, Frühstücken und ein bisschen ein schlechtes Gewissen vielleicht Imabari doch Unrecht getan.. angetan zu haben. Es gibt hier immerhin große Gezeitenstrudel, deren Fotos an riesige Nudelsuppenschalen erinnern und in meinem Kopf ein Gurgeln hervorrufen, wie der See, über den Murakamis Schatten flieht in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt oder wie seine Whiskeyvorräte, wenn sie den Schlund der Spüle hinunterrauschen. Und die Stadt selber war sicher einst ein quirliges, lebendiges Zentrum proletarischer Kultur, das unverschuldet dem Kaufkraftverlust zum Opfer fiel. Und wenn ich ehrlich bin, liebe ich dieses Wabisabi, die faszinierende Schönheit des Hässlichen in seiner Absolutheit: der japanischen Stadt. Machs gut kleine Taiwanesin.

 

59Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.987

 

 

 

 

Tempel 54

 

Augenblicke tiefer Liebe und tiefen Hasses. Es gibt Menschen, die lieben die Seto=Inlandssee wegen ihren tausenden kleinen Inseln und kleinsten Inselchen, die sich in einem weiten Panorama gestaffelt über das Wasser verteilen und es gibt Leute die hassen die Seto=Inlandssee für ihr dreckiges Wasser, ihre vermüllten Strände und ihre Industriekomplexe. Genauso kann man ihre Menschen hassen, wie den Typen, der mich heute Morgen um ein Haar über den Haufen gefahren hätte, Hegel hat es schwer erwischt, ihn verunziert jetzt in der Mitte einen Spalt, nachdem er quer über den Kühlergrill des Schweins geknallt war, ja, ich war dem Borstenvieh noch hinterhergelaufen und wollte ihn an der nächsten roten Ampel, an der er zur Abwechslung mal hielt, zur Rede stellen, doch als ich an seine Scheiben klopfte hat er einfach woanders hingesehen und während ich noch dastand und überlegte ob ich ihm mit Hegel, auch auf die Gefahr seiner endgültigen Entsynthetisierung hin (Hegels, das Schwein hingegen hätte es ja verdient), den Bolzenschuss zu geben, wurde es grün und er fuhr weg, und genauso kann man ihre Menschen lieben, wie die schüchternen Schulmädchen, die sich nicht trauen zu klingeln und deswegen wer weiß wie lange hinter einem her fahren, bis man sie endlich bemerkt und vorbeilässt und all die Leute, die mir andauernd Osettai geben. Das ich heute Morgen schon meinen dritten Osettaikaffee intus habe trägt ebenfalls dazu bei, dass ich von einem Extrem zum anderen wanke. Ich drohe mich genauso zu entsynthetisieren wie mein tapferer Hegel. Wir müssen besser auf uns Acht geben.

Takata ist Seto=Inlandssee in Reinform. Ein kurzer Strand mit Blick auf einen malerisch bewachsenen aus der Bucht ragenden Felsen eingerahmt von zwei industriellen Landgewinnungsprojekten inklusive der qualmenden Soläto=Großraffinerie. Ja, nur ein Fünftel der Küsten der Inlandssee befinden sich noch im natürlichen Zustand, das sind in Takata genau hundert Meter.

Der Weg lief der sinkenden Sonne entgegen.

Kikuma. Wenn Imabari eine im Sterben liegende Stadt war, so ist Kikuma ein eigentlich bereits gestorbenes Städtchen. Zwei Drittel der Häuser stehen leer. Die verwitterten Zu=Verkaufen=Schilder zeugen davon, dass die Interessenten sich nicht gerade die Klinke in die Hand geben. Über die Stadt ragt der Uhrturm. Ich blicke hinab. Durch die Straßen ziehen von Zeit zu Zeit einzelne graue Gestalten mit eingefallenen Gesichtern. Auf der Suche nach der Bibliothekarin..

 

Ich könnte den Tag mit einem peinlichen „Was soll ich ihnen über XY erzählen?“ einleiten, wie es die lateinamerikanischen Schriftsteller so gerne tun, die dann aber doch immer schon allzu genau wissen, was sie einem erzählen wollen, doch kokettiere ich nicht damit nicht wissen zu würden, was ich erzählen wollte, sondern genau mit dem Gegenteil: Ich weiß es, denn ich weiß es nicht. Sie Scheitern daran, dass sie trotz alledem Erfolgreich sind mit ihrem Erzählen über XY, bin ich jetzt erfolgreich, wenn ich scheitere? Genug des Verwirrens, ich bin da:

 

 

 

 

Tempel 53

 

Ich sitze auf den Stufen eines Schreins und blicke auf die Schiffe der Inlandssee, als unten an der Straße mir ein Pilger ins Auge springt: braune Jacke, braune Hose, braune Mütze.. Laufe ich dort? Ein Moment der Klarheit überfällt mich wie ein eiskaltes Bad im Loch eines zugefrorenen Sees. Dort laufe ich. Alles an der Haltung meines Doppelgängers bin ich selbst, bis hin zu der Art und Weise wie er den Stock aufsetzt. Ich sehe mir hinterher. Ich habe mich nicht gesehen. Ich musste erst gegen den Uhrzeigersinn laufen um mir selbst zu begegnen.

Ich lief Richtung Dreiundfünfzig, ich hingegen hielt weiter auf Zweiundfünfzig zu. Ich würde also vor mir ankommen. Aber ob ich erster oder zweiter würde war mir jetzt auch egal und ich wollte mir auch nicht selbst im Wege stehn. Gute Reise Doppelgänger! Und verwirr Naoko nicht zu sehr!

 

 

 

 

Tempel 52

 

Komme in einer kleinen Herberge unter, die versetzt liegt im Häusergewühl Matsuyamas. Fast scheint es, als ob die Häuser des Viertels die Gassen absichtlich so zusammendrücken um sich schützend vor sie zu schieben. Es regnet etliche Nächte und ewige Tage durch. Schiebe meine Füße unter den beheizten Tisch60 und sehe den Tropfen beim Fallen zu. Ab und zu hört man das Brummen einer Straßenbahn.

Es ist nicht das erste Mal in Matsuyama, aber das letzte Mal ist jetzt auch schon wieder zehn Jahre her. Ich wollte damals ein Mädchen wiedersehen, das ich zwei oder drei Jahre vorher kennengelernt hatte, wunderschön und superlieb, doch auch einen Zacken älter als ich. Sie hatte einen Bankangestellten geheiratet, eine unglaublich langweilige Nullpe, aber es gibt wohl nichts, was einen Mann anziehender macht als Geld. So verbrachten wir eine schöne Zeit zusammen, immer von zehn bis siebzehn Uhr, dann hatte er Schluss.

Schon damals war ich gerne auf den Freiburgberg hinter der Freiburgstraße geklettert und hatte von hieraus auf die Stadt geblickt. Und schon damals war mir das Tocotroniclied61 endlos durch den Kopf geschwirrt. Tocotronic und Matsuyama waren seitdem untrennbar miteinander verbunden – die Texte passten zu der Situation, passten zu Matsuyama, passten zu mir, passten zu ihr..

Es hat sich nichts am Freiburghügel geändert. Oben steht weiterhin dieses seltsame Zwischending aus mitteleuropäischer Burg und römischen Palast, verspielt und versponnen, und von ihm blickt man auf genau die gleiche Stadt mit dem Burgberg der echten Matsuyamaburg in ihrer Mitte. Unverwechselbar.

Manchmal hasst man die anderen (Tanztheater und so weiter) um sich nicht selbst zu hassen. Ein unbestimmtes Sehnen begleitet mich durch all die Tage in Matsuyama. Wenn der Regen gegen die Straßenbahnfenster trommelt. Wenn man vom Kotatsu in den Wolkenhimmel blickt. Wenn man durch die abendlichen Straßen läuft mit Kimtschi, Bier und Nudeln in den Einkaufstüten.

Ich hatte damals, vor zehn Jahren, einen Mantel aussortiert und wollte ihn im Sozialzentrum abgeben, aber es gab ein Missverständnis und man dachte dort ich wolle Obdachlosenhilfe. Ich hab mich damals unglaublich geschämt. Erst viel später habe ich begriffen, dass das Schämen bedeutete, dass ich nicht aus der Liebe zum nächsten gab, sondern gab, um mich selber über ihn zu stellen, um ihn zu verhöhnen. Ich schäme mich heute dafür mich damals geschämt zu haben. Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Zigeunern, die sich in den Fußgängerzonen Mitteleuropas mit Verbeugungen und lautem Klagen selbst erniedrigen. Zuerst habe ich denen nichts gegeben, weil ich nicht wollte, dass sie sich selbst erniedrigen, mir eingeredet ich würde quasi pädagogisch handeln, doch mit der Zeit begriff ich, das ich aus egoistischen Gründen nichts gab und ich ihr Verhalten nur nicht fördern wollte, weil mir es unangenehm war, wenn sie sich erniedrigten.

Obdachlosigkeit bleibt als einzige selbstbestimmte Lebensform im Kapitalismus: Santōka. Er war einer dieser seltenen Zugmenschen, von denen Novalis sprach, die durch unsere Welt wandeln, hier und da verharren im Betrachten und in der Muße, mit jedem Schritt überraschendes entdecken und ihr Wesen deuten. Saufend und schreibend irrte Santōka, einer der größten Sprachkünstler die Japan hervorbrachte, durch die Welt und auch den Achtundachzigtempelweg entlang und lebte das benjaminsche Ideal: „[...] der Schritt des Dichters, der nach Reimbeute die Stadt durchirrt; es muss auch der Schritt des Lumpensammlers sein, der alle Augenblicke auf seinem Weg innehält, um den Abfall, auf den er stößt, aufzulesen.“62

Die Tage vergehen im Rausch. Wie viele Tage bin ich schon hier? Verlust jeden Zeitgefühls. Muss wieder anfangen geordnet Tagebuch zu führen. Ab morgen dreht sich die Welt wieder. Gute Nacht.

 

Mit den Öffnungszeiten japanischer Museen ist das so eine Sache. Auf dem Flyer des Archäologischen Museums Matsuyama steht hinter der Auflistung aller Tage, an denen es nicht geöffnet hat ein ominöses „Hat vielleicht auch an anderen Tagen aufgrund besonderer Gründe geschlossen.“ Heute scheint einer dieser „anderen Tage“ zu sein und die Leute von der Touristeninformation mögen mich entweder nicht oder blicken ebenfalls nicht durch die Öffnungszeiten durch.

Japaner können schrecklich kindisch sein. Ja, nicht nur, dass man im Nationalsport Mutantensäuglinge in Windeln sich um einen Sandkasten streiten lässt, alles Essen, was die Bissfestigkeit eines Stück Sahnetorte übersteigt, als zu hart zurückgewiesen wird und niemand es wagt ohne die Zustimmung seiner Elter beziehungsweise seines Vorgesetzten irgendeine auch noch so kleine Entscheidung zu fällen, nein, es muss auch noch alles „kawaii“, das heißt rund, süß und kullerbeäugt sein. Es gibt einen kleinen Dampflokzugnachbau, der hier, in Erinnerung an die Bottshangeschichte, auf den Straßenbahngleisen durch die Stadt quitscht. Natürlich wird er nicht mit Dampf betrieben, stattdessen hat man ihn mit einer Lautsprecheranlage versehen, die das Schnaufen, Tuten und Rattern einer Dampflok nachahmt. So fährt dieses Ding durch die Stadt. Gut, Kinder mag das begeistern – aber Erwachsene? Die Leute, die auf dem Ding arbeiten machen halt ihren Job, beziehungsweise gute Miene zum infantilen Spiel, möchte man meinen, nein, sie sind mit voller Begeisterung dabei! Grinsen kein Berufslächeln, sondern aus innerster Naturbreitheit und bedienen es mit enthusiastischen, runden, ausholenden Bewegungen, wie man sie bei Eisenbahnern nur aus Kinderfilmen kennt. Und nicht nur einer, alle, die dieses Ding durch die Stadt scheuchen sind vollauf glücklich. Das Glück des Kindes ist das Glück des Japaners – Schon in der Kindheit war er ein wenig kindisch.

Ich hab mit Bottshan im Besonderen und seinem Autor Soseki im Allgemeinen nie viel anfangen können, ja es war sogar so, dass ich direkt Abscheu und Ekel vor den Charakteren Sosekis empfand, ohne dass ich begründen könnte warum. Ich erinnere mich: in Untergrundkrieger hatte Murakami geschrieben, dass wir uns vor dem Ekeln, was wir selber sind. Man sollte diese Binsenweisheit nicht zu weit treiben, aber vielleicht sollte ich zugeben, dass zu mindestens in diesem Fall gewisse Parallelen nicht abzustreiten sind. Bin ich nicht genauso ich=bezogen wie er? Ein kleiner grübelnder Bücherwurm – im Endeffekt für die Gesellschaft völlig nutzlos. Alles in mir sträubt sich gegen diesen Gedanken, vielleicht ist er gerade deswegen wahr. Naja. Immerhin war ich kein Nationalist, wie er. Nicht, dass solche keine gute Literatur geschrieben hätten, Akutagawa zum Beispiel, aber jenseits Sosekis fragwürdiger Propaganda für die SME, der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft, und anderer japanischer Kolonialprojekte und jenseits seiner Auffassung, dass man westliche Literatur kopieren müsse um den Westen hierin zu schlagen wie einst die nach westlichem Vorbild und mit westlichen Waffen ausgestattete japanische Marine die russische schlug, jenseits all diesem Unfugs, sind seine Texte einfach nur schlecht. Hätte er nicht mit all diesem Blödsinn der Regierung nach dem Mund geredet, niemand hätte seine Bücher gelesen.

 

Am nächsten Tag hat das Archäologiemuseum auf, doch es ist doch recht klein und wirklich neues hat es auch nicht zu bieten, aber man sagt mir, dass es noch ein Museum auf dem Gelände der Ehime=Universität gibt, wo ein großes Yayoi=Haus gefunden wurde. Ich war hin und weg. Also erst mal hin, in Erwartung detaillierter Rekonstruktionen, Yayoifunden, Entwicklungstafeln und dergleichen mehr. Und weg mit der Gewissheit, dass universitäre Ignoranz auch nur Ignoranz ist. Es gibt in diesem „Museum“ Räume mit Insekten, mit Schautafeln zu meist dem Thema, was die Interessenten denn hier alles erlernen können – und mit einem Glaskasten mit ein paar Fotos von den Ausgrabungsarbeiten. Das war alles. Die Beschallung mit indisch anmutender Meditationsmusik machte das „Museum“ zwar um einiges skurriler, aber keineswegs gut.

Mit der Yayoi=Siedlungswelle aus dem Südwesten kam ungefähr fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung der Grundstock der heutigen Japaner ins Inselreich. Sie brachten ihre Pfalhäuser mit, deren Stelzen die Nahrungsvorräte vor Tieren schützen sollte, und noch heute zeugt die zugige Bauweise der traditionellen Holzhäuser, die bei schwülem Wetter den Menschen Schatten und Kühle bietet, sie im Winter aber Kälte und Feuchte schonungslos ausliefert, von ihrer südostasiatischen Herkunft. Sie unterschieden sich durch ihren langen, flachen Gesichtern, großen Zähnen und kurzen Gliedmaßen von den Dshōmon und sie rodeten mit ihren Metallwerkzeugen, dessen Rohstoffe sie im Handel mit China erwarben, große Waldgebiete und wandelten sie zu Ackerflächen. Zahlreiche Funde verkohlter Häuser, verstümmelter Leichen und befestigter Dörfer zeigen, wie stürmisch das Sesshaftwerden ablief. Zum einen werden die halbnomadischen Dshōmon die ackerbautreibenden Yayoi als Diebe am Gemeinschaftseigentum, dem Boden, betrachtet haben, zum anderen konkurrierten die Yayoi auch untereinander um dieses begrenzte Gut.

Nach einem gewissen Zeitraum scheint ein Zeitalter der Festigung und Beruhigung eingetreten zu sein, in dem die großangelegten Wehranlagen zu Symbolgräben zurückgebaut wurden und die Bronzewaffen sich zu kriegsuntauglichen Ritualgegenstände wandelten. Es ist schwierig von einer „Reiskultur“ zu sprechen, wie japanische Wissenschaftler es gerne tun, da zwar Reisanbau bei den Yayoi nachgewiesen werden kann, doch er erst mit dem Wohlstand der Nachkriegszeit zum Hauptnahrungsmittel wurde, vielmehr wurden zahlreiche verschiedene Ackerfrüchte angebaut unter denen Reis nur eine von vielen war. Nun, es gibt auch die nette Geschichte, dass unser Kōbō am Vierunddreißig zum ersten Mal Reis, Weizen Hirse und Bohnen in Japan angebaut hätte, doch lebte er natürlich viel später.

Es ist umstritten, ob der Untergang der Yayoi=Kultur Voraussetzung oder Folge der Tennō=Invasion war. Eine Ackerbaukultur steht immer in Gefahr durch rückständige Nomaden erobert und ausgebeutet zu werden. Beispiele gibt es dafür in der Geschichte genug. Aber im Gegensatz zu den Yayoi, die mit den kulturell niedriger entwickelten Dshōmon nur ein dünnbesiedeltes Land vorfanden, landeten die nomadischen Tennō=Invasoren um das Jahr 300 unserer Zeitrechnung in einer höherentwickelten Kultur und eroberten sie. Zudem müssen sie übers Meer kommen und konnten deswegen wohl nicht allzu zahlreich gewesen sein. Daher ist es wahrscheinlicher, dass die Yayoi=Kultur vorher bereits durch Klimaschwankungen und/oder Epidemien geschwächt war.

Vor den Invasoren versteckten die Yayoi=Leute ihre bronzenen Ritualgegenstände an entlegenen Orten wie in der Höhle Hage im Verwaltungsbezirk Kōtshi, die leider etwas arg abseits vom Pilgerweg lag, das heißt, dass diese Gegenstände für die sie versteckenden sehr wohl weiterhin Bedeutung besaßen, sonst hätten sie sie wohl nicht versteckt, sondern aus den wertvollen Materialien neue Gegenstände hergestellt, und nicht einfach nur einem Kulturwandel zum Opfer fielen. Leider besaßen die Yayoi noch keine Schrift, es wäre spannend zu hören, was sie uns alles zu erzählen hätten..

Ja.. Zurück in die Gegenwart. Außer der Vitrine im „Museum“ gibt es auf dem Unigelände noch ein Metallschild, das stolz verkündet, dass unter der betonierten Fahrradabstellfläche dahinter die Überreste des größten Gebäudes der Yayoizeit, fünfundneunzig Quadratmeter, ruhen. Das wars. Als ich etwas geknickt in die Herberge zurückkomme will man mir zum Aufmuntern Mandarinenbier aufnötigen. Mir blutet die Seele.. Bier versetzt mit Mandarinensaft! Lokale Spezialitäten hin, lokale Spezialitäten her, was hat das Bier denen denn getan? Schlimmer als die Belgier. Naja, vielleicht nicht ganz. Es waren keine Dosenpfirsiche mit eingelegtem Rind aber es ging schon in die Richtung des Herrn Professors unten im Heiligtum der Schwärzlinge. Entscheide mich zur eigenen Aufmunterung für Murakamis Dualismus aus Bier und Pizza. Ohne Mandarinen.

 

Morgens beim Frühstück, Reis und Kimtschi, geh ich nochmal kurz an den Rechner. Auf meine Mail hat Haruna nicht geantwortet, aber auf meine Freundschaftsanfrage auf einem gängigen sozialen Netzwerk. Neugierig gehe ich ihre Fotos durch und entdecke eins auf dem sie einen anderen Typen knutscht! Es ist die Herberge in Kōtshi! Sie muss sich ihm gleich nach meiner Abfahrt an den Hals geworfen haben. Ach, ich hätte gute Lust in ein kleines wehrloses Land einzufallen und eine brutale Schreckensherrschaft zu errichten! ..nur, so etwas tut man ja nicht. Ich weiß, dass ich eigentlich kein Recht habe sauer zu sein, aber besser macht es das auch nicht. Machs gut meine kleine Inge Koschmidda.

Aufbruch. Die Sonne ist noch nicht voll da und lässt die Wolkenfetzen am Himmel in kitschigem Rosa erstrahlen. Hinter der Herberge eine hohe Treppe. Hinter der hohen Treppe ein vaterländisch beflaggter Schrein. Es ist die japanische Reichskriegsflagge. Hinter den Reichskriegsflaggen ein menschenleerer Bambushain mit einem weiteren kleinen vergessenen und überwucherten Schrein. Ein weiterer kleiner Achtundachzigerrundweg, hinter dem menschenleeren Bambushain..

 

60Der Kotatsu ist ein Tisch mit einer elektrischen Heizung und dicken Decken. Da die dünnen Wände und klapprigen Fenster japanischer Häuser ein volles Raumbeheizen nicht zulassen, versammelt man sich im Winter um ihn.

61Hamburger Rockband aus den Neunzigern.

62Walter Benjamin Die Moderne, in Das Argument, Ausgabe 46, 2. Auflage Juni 69, Argument=Verlag, Karlsruhe S.54

 

 

 

 

Tempel 51

 

.., ein buddhistischer Vergnügungspark mit psychedelisch beleuchtetem Mantragang, quietschbunten Heiligenbildern, schmalen hölzernen Ladenpassagen mit Religionsbedarf aller Art, zackigen, grellbemalten Höllenwächtern und atem(be)raubenden Weihrauchwolken. Ein fantastischer Fiebertraum.

Das Wort aus einem Fremden Satz, aus einem Buchstabenbaum pflücken, es in den Mund nehmen, gut kauen, und dann von Neuem ausspucken, das ungeheuerliche fordernd: Rache! Ich verfluche Haruna, ich verfluche den Typen, ich verfluche Soseki! In einem seiner Romane bringt sich der Typ, dem er das Mädel ausgespannt hat, um, was ich total scheiße fand, denn wenn überhaupt, dann hätte sich Soseki umbringen sollen! Aber der Typ, der gerade Haruna poppt, wird mir den Gefallen wohl nicht tun. Ja, Rache ist natürlich ein Bedürfnis, ein selbstloses Bedürfnis zwar, aber eben doch ein Bedürfnis. Anders lässt sich das erhabene Gefühl nicht erklären, wenn man morgens in Umeda an die Eingangstür einer internationalen Handelsbank pinkelt. Ohne das Bedürfnis zur Gemeinschaft gäbe es keine Gemeinschaft, aber dieses Bedürfnis hat sich nur durchgesetzt, weil die Gemeinschaft immer stärker als das Asoziale ist, ohne die Rache zerfiele sie in lauter asoziale autonome Teile, gäbe es keine Gemeinschaft. Die Rache ist ihrem Prinzip nach ein Erziehungs= und Kontrollmittel, mit dem die Gemeinschaft aufrechterhalten wird. Rache ist also ihrem Wesenskern nach gut und die Welt wäre wohl eine bessere, wenn sich die Menschen öfter wehren würden. Vergeben und „Stille Wut ist wie wenn Schnee fällt nachts und niemand hinsieht […]“,63 also sinnlos und egoistisch. Doch leider verspürt man den Wunsch nach Rache manchmal auch dann, wenn man kein Recht hat, andere zur Rechenschaft zu ziehen.

 

63Karl Krolow Stille Wut, in Das Erscheinen eines jeden in der Menge, Verlag Philipp Reclam Junior, Leipzig 1983, S.26

 

 

 

 

Tempel 50

 

Ich kriegte den Tatter. Meine Gedanken kreisen um die AK47, Stihlhandgranaten und Lebendbegräbnisse. All die schönen Dinge des Lebens sind verboten!

Allüberall

wird die leuchtende Glut seines roten Flammenbarts über die Lande strahlen

wenn Barbarossa ruft „Es reicht!“

aufsteht

und sein Schwert zieht.

Naja. Vielleicht doch etwas arg theatralisch.

 

 

 

 

Tempel 49

 

..hat wohl die schönstklingende Glocke Shikokus. In Japan sind es die Besucher, die mit einer Art kleinen hölzernen Rammbock die glöckellosen Glocken erklingen lassen. Freue mich über jeden neuen, der kommt. Gestört wird das Ganze vom benachbarten Hatshimanschrein, also dem Shintōtempel des Kriegsgottes Hatshiman, in dem in Kompaniestärke kurzgeschorene Halbstarke einmarschiert waren. Jetzt hallen immer wieder „Bandsai!“=Schreie64 herüber. Weiß der Tennō, was die da treiben.

 

64Bedeutet wörtlich „zehtausend Jahre“ und wird im Sinne von „Lang soll er leben!“ benutzt. Mit „Tennō Bandsai!“ wurde im faschistischen Japan dem Kaiser gehuldigt.

 

 

 

 

Tempel 48

 

Sitze am Fluss und blicke reisbällemampfend auf die Autobahn. Meine Aggressionen lösen sich langsam. Ach Haruna, was hast du da bloß getrieben. Lehne mich zurück, kucke in den Himmel und sammle die Leere.

 

 

 

 

Tempel 47

 

hat ein wunderbares kleines Tsūyadō und der Mönch, der mich einweist ist so lieb. Hab mich schon lange nicht mehr so willkommen gefühlt.

 

 

 

 

Tempel 46

 

Vier Uhr morgens ist überall auf der Welt die schönste Zeit. Es ist die Zeit des größten Friedens, der größten Freiheit. Aus der schwarzen Nacht fiel etwas, was weder richtig Schnee noch irgend Regen war. Wirklichkeitsschwund im Graupel. Ein Atemholen. Kalte, feuchte Luft durch die Nase saugen. Ogami war wieder unterwegs.

Im Osten hellte sich der Himmel auf. Der Wunsch nach einer Kasahara an meiner Seite, jemand der mir sagte, dass ich nicht nutzlos sei, dass ich auch für sie kämpfte. Würde sie doch jetzt mit ihrer Zunge über meine Backe streichen.. Ein unaussprechliches Verlangen quälte mich. Der Racheengel hatte schon lange die Flügel gespreizt und dieses seltsame Etwas, was dort durch die Felder und Dörfer zog verlassen und mit ihm auch das Bedürfnis zur Selbstlosigkeit. Mich dürstete es nach Anerkennung. Ein rein egoistisches Sehnen. Nichts macht die Einsamkeit größer als der Wunsch nach einem Mädchen. Haruna..

Der Wind wütete. Der Regen hatte aufgehört. Tagträume. An der Schwelle zur Ferne blickte ich mich um. Ich war der nur schwerfällig seine Richtung ändernde Dampfer, da mochte auch Kreta Kumikos Kleider tragen, ich wollte nicht umkehren – alles sträubte sich in mir dagegen. Verbittert reckte ich meinen Kopf gleich alter Fernsehantennen in den Himmel: Nein! Ich lief durch Felder und durch Dörfer, die ich nicht kannte und in denen ich mich fühlte, als wäre ich nie woanders gewesen. Der Brunnenboden war die Mondoberfläche, der Mond war die Ferne, die Ferne war hier.

Sann vor mich hin. Mit Baumstämmen beladene LKW donnerten über die Straße ins Land hinaus wie Panzer einer Invasionsarmee in den Frieden.. Die Holzfällerin. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihr. Wetterleuchten künden vom kommenden Wolkenbruch. In der Weite huschen Gestalten durchs Abendlicht. Der Berggott lässt erste eisige Tropfen fallen. Ab und zu flackern in der Düsternis Autolichter auf. Allein.

Beschließe den Tag, Tag sein zu lassen und schlage auf einem kleinen Grasdreieck mein Zelt auf. Die Totalität der japanischen Raumnutzung ist immer wieder beeindruckend. Die Wogen des Regensturms brechen sich über mir. Angst vor dem Einschlafen, vor dem Treibsand, der einen verschluckt. Das Bewusstsein versucht sich noch an den letzten Halm Wirklichkeitsgefühl zu klammern, das mir hier abhandenzukommen schien, etwas in mir bäumte sich nochmal auf, wusste, dass es erliegen würde, doch wollte es sich auch nicht zu billig verkaufen „[...] mein Geist gehört mir. Ich behalte ihn fest für mich. Ich gebe ihn nicht her. Ich will nicht therapiert werden. Ich schlafe nicht.“65 Alles geht vorüber. Die Müdigkeit erliegt dem Schlummer.

 

Es ist ein kalter Morgen. Umnebelte Berge. Verneige mich demütig vor den Bäumen und danke dem Berggott, dass er mich hier hat schlafen lassen. Sehe auf mich selber herab. Einsam durch die Felder voran. Kalter Nieselregen. Ein kleines graues Etwas zieht auf einer großen grauen Fläche dem Nichts entgegen.

Da war er wieder, der Lukacs=Berg Ishidsutshi. Was blieb vom Berg? Was blieb von Lukacs? Stalin oder die Kunst einen Stuhl zu verhören. Wenn Dsen Stalinismus war und Stalinismus Dsen, dann war Lukacs der Teemeister der Technokraten, der uns bei einem Becher vergorener Stutenmilch die Dialektik der Zitate des Vaters und Hirten erschloss. Ja, wenn man es so wie Lukacs macht, blieb man stehen, es würde nichts neues mehr geschaffen werden. Ich will nicht respektlos erscheinen, vielleicht gibt es tatsächlich Menschen, die Balsac oder Mann mit Genuss lesen können, aber Lukacs´ Geschmack war schon zu seiner Zeit allzu lahm und dank seiner repressiv=formalistischen Realismusauffassung haben tausende kreative Köpfe nichts veröffentlichen können.. Er hat die Menschheit ärmer gemacht. Auch Murakami hätte unter ihm keine Chance gehabt.

Die eisigen Höhen des Ishidsutshi, das war Stalin ohne LSD. Nochmal musste ich nicht durch Sibirien.

 

65(Zitat nachsehen)(Murakami „Schlaf“)

 

 

 

 

Tempel 61

 

Als ich bei Einundsechzig ankomme beginnt es bereits zu dämmern. Das Ding schien den Albträumen eines Architekten entsprungen zu sein, der mit zu viel Kaffee im Magen schlafengegangen war. Mein Kartenbuch formuliert es so: „Seine Betonbauweise ist es, das ihn so einzigartig macht.“ Ich bin durchaus ein Freund moderner Architektur, aber das dunkle, fensterlose Monster macht mir angst. Das Ziel des Buddhismus ist es doch im Nichts aufzugehen und nicht depressiv zugrunde=. Aber gut, es ist mal was anderes als das bisherige Tempeleinerlei. Ein dünner Engel mit runder Nase, ein Mädchen, das schon Novalis ins Paradies entführen wollte, beginnt ein Gespräch, als ich mich kurz ausruhe. Nachdem Standard=Woher=Wohin=Wieso fragt sie mich wo ich denn heute Nacht schlafen würde.. Die Versuchung ist groß mich von ihr verschleppen zu lassen. Auch Naoko ist nicht weit, es wäre nur eine Stunde Fußmarsch.. Der Sirenen Schrei, der mich vom rechten Weg abbringen soll. Ihr bringt mich nicht vom Kurs ab! Ergehe mich auf dem Weg zu Zweiundsechzig in hybrischen Übermenschenfantasien. Es war mein Niederstes, was mich über die anderen alle hob. Eine schwarze Welle verfolgte mich, türmte sich immer weiter auf, sobald sie sich brach würde sie mich verschlingen. Weiter.

 

 

 

 

Tempel 62

 

..wurde 1921 für den Bau der Bahn verlegt. Als ich an Zweiundsechzig ankomme und mich kurz setzen will, heischt mich eine Frau an, mich zu beeilen, sie wollen Feierabend machen. Also schnell kurz gebetet: „Bitte lass sie mich nicht einschließen“ und weiter. Und tatsächlich werden direkt hinter mir die Sperrgitter über die Einfahrt gezogen. Auch darin ist er einzigartig.

 

 

 

 

Tempel 63

 

Alles hat bereits geschlossen, aber das Gelände ist frei zugänglich. Schlafe in einer kleinen Hütte nicht weit entfernt.

 

 

 

 

Tempel 64

 

Es regnet am Morgen. Es regnet am Mittag. Es regnet am Abend. In Saidshō liegt der Wassertempel von Andō.66 Ein außergewöhnliches Gebäude.. und auch schön. Ja, lieber Einundsechzig, das geht: Beton und ergreifende Schönheit. Japaner werden von klein auf so auf Harmonie getrimmt, dass sie jedes störende Element jederzeit ignorieren können. Nur so kann man verstehen, wie sich ihre Architekten dort die Mühe machen, bezaubernde Kunstwerke in Mitten erdrückender Hässlichkeit zu errichten.

Weiter durch den Regen. Nehme ein paar Abkürzungen. Über eine Steigleiter. Über einen Friedhof. Über zwei Zäune. Und dann bin ich da, am Wissenschaftsmuseum Ehime. Ich habe mich schon früh für Architektur begeistert und meine Kassettenhüllen mit zurechtgeschnittenen und =gefalteten Architekturbildern gestaltet. Als im großen Zylinder des Eingangsbereichs nach oben blicke, erkenne ich meine Lieblings=Massive=Attack=Kassette67 wieder. Gehe den Spiralgang der Glaspyramide hoch. Lange vergessene Klangfolgen steigen durch den Kopf. Ein alter zerronnener Schall der Schulzeit durchdringt das Jetzt.

Der Inhalt des Museums ist nicht der Rede wert, vielleicht bis auf die beiden Dinos, die lebensgroß im Raum stehen und so verdammt echt grunzen und hin und her schwingen, dass, wenn man allein im Raum ist, einem doch der Schauer über den Rücken läuft. Was aber ohne jeden Grunzeffekt hervorsticht ist die Baukunst Korokawas.66 Den besten Blick und die beste Fotoperspektive hat man vom Hinterhof über den Teich halb an der Planetariumskugel vorbei auf die Glaspyramide mit dem schräg hineinragenden Hauptgebäude. Ich rate jedem dieses Foto meiner statt zu schießen, der ich leider in diesem Augenblick mit einem versagenden Akku gesegnet wurde.

Blicke vom Bahnhofshäuschen in die verwaschene Regenwelt mit ihren leuchtenden Farben. Im hellen Tropfenrausch wird alles leise.

 

Aufwachen im Bahnhof Akaboshi, was „Roter Stern“ bedeutet. Keine Frage, auf dem Weg zu Fünfundsechzig wird der Chor der Roten Armee gehört.

 

66Tadao Andō und Kishō Korokawas sind, beziehungsweise waren begnadete Meister der Architektur.

67Elektromusik aus den Neunzigern.

 

 

 

 

Tempel 65

 

Der Wind pfeift durch die graubraune Winterlandschaft. Die Straße schlängelt sich durch die Berge. Über Stunden begegnet Ogami niemand. Verharre an einer dieser Nicht=Orte im kalten Wind, irgendwo. Ein Santōka=Gedicht kommt mir in den Sinn:

Wie die Wipfel des Schilfes

Ziehe ich mit dem Wind

Weiter“68

 

68(Zitat nachsehen)

 

 

 

 

Über den Berg ist es weiter als zu Fuß

 

Die von einem Strich zu einer formlosen Masse sich wandelnde Zeit, die sich aufbäumt und in sich zusammenzieht. Zu überwindende Zeitabstände. Erlebnisse verstecken in ungefühlten Zeitzwischenräumen, die wieder hervorkriechen und im Kopf neue Einheiten bilden, ungefüllte Zeitzwischenräume zurücklassen, ein bisschen wie die Whiskey=Schachtel Hondas. Es gibt sie, diese langen Hohlkörperstränge, die sich als roter Faden den ganzen Weg entlangziehen. Das Landleben. Die Tunnel. Die Bergpässe. Die Strände. Was war welcher Tunnel? Was war welcher Bauer? Was war..

Ein paar Sachen, die man beachten sollte.. Wanderschuhe sind nicht wirklich notwendig, was ich aber jedem ans Herz legen möchte sind Wandersocken. Die kosten schnell mal genauso viel wie ein paar Billigturnschuhe, erhöhen den Laufkomfort sowohl im Billigturnschuh als auch im Dreihunderteurowanderstiefel aber enorm.

Japan ist ein Land mit reichlich Niederschlag. Baumwolle fühlt sich am Körper immer am besten an, doch sollte sie bei Wanderungen in Japan nie Außenmaterial sein. Eine Bauwollhose, so praktisch, modisch und günstig sie auch sein mag, ist, wenn sie nass wird, der Horror. Die von ihr ausgehende Kälte mag im Sommer angenehm sein, im Winter bedeutet sie im Eisregen den Tod. Aber auch im Sommer werden nasse Klamotten unerträglich scheuern und zu Entzündungen unangenehmer Art führen. Also Synthetik. Wenn man ein paar Euro mehr ausgibt, dann findet man durchaus auch angenehme Materialien. Wichtig: wasserabweisend ja, wasserdicht nein. Achtet auf Aufschriften wie „atmungsaktiv“ und ähnliches. In wasserdichtem Kram werdet ihr euch totschwitzen. An besonders kalten Tagen könnt ihr euch immer noch nen Pulli oder ne lange Unterhose drunterziehen.

Die ewigen Tunnel.. Jeder sollte sich überlegen, ob er wirklich durch einen fußgängerweglosen Tunnel will, wenn es auch einen Weg um ihn herum gibt. Nur weil ich alle überlebt habe, heißt das nicht, dass alle anderen genauso viel Glück haben werden. Lasst das Nirwana noch ein bisschen auf euch warten. Und kein scheiß Leute, lauft nicht über den Ishidsutshi. Das war geisteskranker als alle Tunnelaktionen zusammen.

All die Osettai von all den Bauern.. Ihr werdet jede Menge Osettai bekommen, verlasst euch aber nicht drauf. Nur von den Osettai kann keiner leben. Ein kleiner Exkurs.. Japan ist eine noch sehr bäuerlich geprägte Gesellschaft. Man spürt nicht zuletzt am japanischen Ich=werf=meinen=Müll=einfach=in=die=Natur=Problem wie tief dieses Land noch kulturell in der feudalistischen Bauernwelt verhaftet ist. Früher konnte der Bauer allen seinen Müll einfach irgendwohin werfen, es verrottete sowieso und auf Hygiene brauchte man, im Gegensatz zu den dichtgedrängten Städten, keinen Wert zu legen. Der Müll heute hält halt. Und hält halt in Leistungsmaßstäben des Industriezeitalters.

Die Bauern spielen im gesellschaftlichen Bewusstsein noch eine starke Rolle, während ihre gesellschaftliche Bedeutung sich dem Nullpunkt nähert. Die Kleinparzellenbauern haben keine Chance gegen die effizientere industrielle Landwirtschaft im großen Stil. Ihre Arbeitsweise ist völlig uneffektiv und anachronistisch. Es ergibt durchaus Sinn, dass ein Land, das Industriegüter in die ganze Welt exportiert, im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung seine Lebensmittel aus der ganzen Welt importiert. Die gleichen Reissorten, die hier auf Hundertquadratmetereinheiten angepflanzt werden, können in den USA auf zehnmal so großen Flächen geerntet werden bei gleicher Qualität.

Die Landwirtschaftssubventionen, von denen die gesamte Landbevölkerung lebt, sind so etwas wie das Hartzvier Japans. Sie erlauben dem Arbeitskräfteüberhang, den der Kapitalismus zwingend zum Funktionieren braucht,69 auf dem Land zu überleben und machen ihn durch die Nutzlosigkeit seiner Zwischenzeitstätigkeiten bei Wirtschaftswachstum jederzeit verfügbar. Das Beispiel Thailand, hier war ein ähnliches System ausgearbeitet worden, das dann aber vom Militär weggeputscht wurde, das es vorzog den Arbeitskräfteüberhang mit schlichter Gewalt bei Stange zu halten, zeigt aber, dass das japanische System zwar ausbeutend und brutal berechnend, aber nicht alternativlos in den Augen der Herrschenden ist – es gab schon Putschpläne in Japan.

Abgesehen vom niedrigen Lebensstandart fehlt auf dem Land auch jede kulturelle Infrastruktur. Das Internet kann da sicherlich einiges ausgleichen, doch drängt es den in seinem identitären Ausrichten individualisierten Menschen zu Gleichgesinnten. So widersprüchlich sich dieser dialektische Prozess auch anhört, der Gothic=Fan wird nicht mit dem Modelleisenbahner rumhängen wollen und beide finden ihres Gleichen eher in der Stadt. Es gibt eine Gegenbewegung gestresster Städter, die es zurück aufs ruhige Land zieht. Aber das ist noch einer Randerscheinung und es muss abgewartet werden, ob sie irgendeine Form gesellschaftlichen Durchschlags zeigt..

Ja.. Die Bauern freuen sich immer ungemein wenn sie auf einen Fremden treffen. Nehmt ihre Osettai an. Bedankt euch auch dann, wenn ihr die dritte Grapefruit an diesem Tag geschenkt bekommt. Es sind alles furchtbar liebe Menschen.. Und sie freuen sich über jeden.

Viele Japaner queren auf dem Land Bahndämme einfach so. Dass die dazugehörigen Verbotsschilder neben diese Trampelpfade und nicht auf sie gesetzt wurden zeigt, dass auch die Bahngesellschaften das nicht als ernsthaftes Problem betrachten, sondern sich nur rechtlich absichern wollen. Bist du klar und frisch im Kopf ist das Überqueren kein Problem, hast du aber einen langen Tag hinter dir und bist Müde oder durch eine Erkältung angeschlagen, ist der nächste Bahnübergang die Empfehlung. Er ist in der Regel nie weit und piepst äußerst penetrant, sobald ein Zug sich nähert. Die ländlichen Ferkeltaxen sind nur mit fünfundreißig Stundenkilometern oder weniger unterwegs, die Expresszüge allerdings brettern durchaus auch mal mit hundert oder mehr über scheinbare Nebenstrecken.

Generell gilt, dass es fast unmöglich ist alle Verbote in Japan zu beachten und es gleichzeitig auch einfach ist, das an einen gerichtete Verbotsschild unter all den anderen zu übersehen. Haltet euch soweit möglich an Verbote, seid rücksichtsvoll und freundlich, aber wenn mal ein Verbotsschild mit einer allzu nervigen Schikane übersehen wird, ist das nicht das Ende der Welt. Die Japaner handeln genauso. Die Gefahr bei diesem Dauergewarne ist natürlich, dass man keine Warnungen mehr ernst nimmt. Wenn also dauernd vor der Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante gewarnt wird, achtet man nicht mehr drauf, ist die Lücke mal wirklich da. Einer Freundin ist das in Tōkyō zum Verhängnis geworden und auch ich wäre einmal fast in eine fünfzehn Zentimeter breite Spalte getreten. Ewig unvergessen wird der Nissan=Arbeiter bleiben, der beim feierlichen Anbringen eines Schildes mit neuesten Sicherheitsermahnung von Schwenkarm am Laufband geköpft wurde..70 Ja, die Abstumpfung führt soweit, dass überall inzwischen Schilder aufgestellt werden, die dazu auffordern, die Lautsprecherdurchsagen zu beachten. Der nächste Schritt werden dann wohl Lautsprecherdurchsagen sein, die dazu auffordern, die Schilder zu beachten.

Schön ist auch wenn mit fremdsprachigen Schildern dazu aufgefordert wird, die Lautsprecherdurchsagen zu beachten, die dann nur auf Japanisch erfolgen. Ich bin auch oft von Menschen, die kein Japanisch können gefragt worden, was denn dieses oder jenes Schild bedeuten würde und musste ihnen gestehen, dass, auch wenn man sie lesen kann, sich ihr Sinn oft nicht erschließt. Was will uns ein Schild mit der Aufschrift „Steine auf Züge werfen verboten!“ sagen? Ist das denn nicht klar? Und auch das Schild „Achten sie bitte auf ihren ehrenwerten Kopf“ am tiefhängenden Balken kann nur von Menschen gesehen werden, die auch den Balken sehen, das Gleiche gilt auch für das „Vorsicht, Schranke!“=Schild an der Schranke. Lange hielt sich der Mythos vom Bitte=nicht=zur=Hauptverkehrszeit=vor=den=Zug=Springen=Schild, das angeblich in Shindshuku gehangen haben soll. Ich habe davon kein Foto gefunden und keine seriöse Quelle und ich kann mir nicht vorstellen, dass Japaner, die ja sonst immer gerne um den heißen Brei herum reden, ein solch drastisches Schild aufstellen, aber dass diese Geschichte einfach nicht totzukriegen ist, spricht dafür, dass die japanische Schilderwut nicht nur eine Langnase verunsichert. Den meisten Japanern fallen sie gar nicht mehr auf. Sie sind mit ihrer Sinnlosigkeit aufgewachsen. Es ist ein bisschen wie mit unserem Osterhasen, der bunte Eier aus Schokolade legt. Man findet sich damit ab.

Zurück zu den praktischen Tipps. Nehmt euch für den Streckenabschnitt von Kaifu hinter dem Dreiundzwanzig kurz vor der Verwaltungsbezirksgrenze Kōtshi (In Kaifu gibt es einen Supermarkt) bis zum Vierundzwanzig am Muroto=Kap genug Essen mit.

Und zu guter Letzt: achtet auf euren Körper. Muskelfaserrisse und Bänderzerrungen können jedem längeren Wandervorhaben ein recht jähes Ende setzen. Lauft nicht gegen euren Körper sondern mit ihm. Wenn er sich beschwert, dann hört auf ihn und macht ne kleine Pause – da muss man sich selbst auch durchaus gegen seinen eigenen Anspruch oder „Willen“ durchsetzen. Und lauft morgens langsam los um warm zu werden. So erspart ihr euch viel Ungemach auf manchem Wald= und Wiesenweg.

 

69Bei Vollbeschäftigung würde der Preis der Ware Arbeit automatisch in die volle Höhe des erwirtschafteten Mehrwertes steigen und damit kein „Gewinn“ mehr möglich sein und damit das jetzige Wirtschaftssystem zusammenbrechen. Es droht dann ein Rückfall in den Feudalismus.

70(Ampo 1981 13/1 s59)

 

 

 

 

Beim Aufstieg begegnet mir niemand. Ehime liegt hinter mir. Zeit für einen kleinen Rückblick. Ishidsutshi überlebt (dagegen ist der heutige Berg doch ein Klacks). Von Naoko gerettet. Den Fängen der Sirenen entkommen. Ja, es gibt diese Murakamimomente, in denen man von allzureichen Frauen errettet wird, ..man sollte sich aber nicht drauf verlassen. Und ja, noch heute könnte ich dem Horstkind, das mich ohne mit der Wimper zu zucken in Utshiko in die falsche Richtung schickte, den Kopf abreißen. Aber das darf man ja nicht, man käme damit in Japan zu keinem Ende.

 

 

 

 

Tempel 66

 

Am Sechsundsechzig ist niemand. Nachdem ich gelesen hatte, dass hier eine Seilbahn raufführt, habe ich mit dem Schlimmsten gerechnet. Dass ich das ganze Gelände für mich allein habe, habe ich als letztes erwartet. Abstieg durch Weltabgeschiedenheit. Ogami allein im Wind.

 

 

 

 

Tempel 67

 

Die Kraft lässt nach. Jeder Schritt ist eine Qual. Mir ist schwindelig. Die Füße schmerzen. Der Berg gestern steckt in den Knochen. Nehme eine Abkürzung durch einen augenscheinlich ausgetrockneten Teich, dessen wüstenhaft aufgeplatzter Lehmgrund sich als doch nicht ganz so trocken erweist, wir er auf den ersten Blick wirkte. Haben die uns in den Dokus, in denen diese Bilder als Beweis für absolute Wassernot gezeigt wurden, immer verarscht? Meine Schuhe ziert jetzt auf jeden Fall eine zentimeterdicke Schlammschicht.

 

 

 

 

Tempel 68

 

Am Meer gebe ich auf. Genug für heute. Schlafe am Strand. Das Moped von ein paar Halbstarken weckt mich auf. Es regnet. Ich fliehe in eine Hütte. Sie auch. Zuerst etwas Unsicherheit, dann entwickelt sich ein höfliches, aber nettes Gespräch. Ja, auch die Jugendlichen in Japan sind äußerst zivilisiert.

 

 

 

 

echter Tempel 68

 

Stelle morgens fest, dass ich gestern vor dem falschen Tempel gebetet habe. Muss arg neben der Kappe gewesen sein.

Sitze in der Sonne. Sehe Familien beim Beten zu. Neruda kommt mir in den Sinn:

Ihr fragt, warum meine Dichtung

euch nichts von der Erde erzählt, von den Blättern,

den großen Vulkanen meines Heimatlandes?

Kommt, seht das Blut in den Straßen.

Kommt, seht das Blut in den Straßen.

      Kommt, seht das Blut in den Straßen.“71 

Japan war nicht immer die Insel der Seligen, als die sie Murakami beschreibt, es gab durchaus auch Widerstand in der Nachkriegszeit. Da wären die Kämpfe der Gewerkschaften, der Widerstand gegen den Korea= und den Vietnamkrieg, die Maikundgebungen, Minenbesetzungen und Massenstreiks und am Ende dieser Phase steht der Studentenaufstand zwischen 1968 und 1971, der Murakami stark geprägt hat und auf den er seit Kadsenoutaokike (also „Lausche dem Lied des Windes“, der Titel der Erzählung nimmt auf den Weathermanaufstand in Chikago Bezug und sie handelt in der Zeit nach Ende des Dsenkyōtō72 in der alles möglich schien; 1979 gewann sie den Gondsō=Preis73) in zahlreichen Büchern bezugnimmt. Es muss ein traumatisches Ereignis gewesen sein, wenn ein Autor ein halbes Menschenleben später immer noch in Anfällen widerständigen Bewältigens mit Begriffen wie „Revolutionsgeschrei“74 gegen die Studentenbewegung, durchzittert von einer unter der heiteren, leichten Oberfläche brodelnden schweren, dicken, ungelösten Masse an Hass in seinen verschiedenen dunklen Klangfarben, anschreibt. War er selbst Teil der Bewegung und fühlte sich verraten und missbraucht? Ist er eigentlich „Ratte“, das kommunistische Känguru des Ich=Erzählers in Lausche dem Lied des Windes? Ratte und Bier, Bier und Ratte und dazwischen Mädchen, Straßenschlachten und Fluppen – und von Kalifornien träumen. Gerne würde ich Murakami nach dem Schlüsselerlebnis fragen, dass ihn sich so radikal abwenden ließ, doch ist es nahezu unmöglich, ihn zu sprechen zu bekommen.

Wie in der BRD führte die Kontinuität der faschistischen Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer Entfremdung der Nachkriegsgeneration vom japanischen Staat und, allerdings in weit geringerem Maße als dies in der BRD der Fall war, der Kriegsgeneration ihrer Eltern. Murakamis Abnabelungsprozess lässt sich grob in drei Bereiche teilen: erstens die Ablehnung der traditionellen Familienstrukturen und das Weigern, die auf ihn übertragen Reproduktionserwartung zu erfüllen, zweitens das Abwenden von der traditionellen japanischen Literatur, in der er von früh auf durch seine Eltern unterrichtet wurde, und das Hinwenden zur nordamerikanischen Literatur und drittens das Ablehnen der Nachkriegseliten und der durch sie verkörperten faschistischen Kriegstradition.

Doch die Geborgenheit der Gegenkultur des seiner Eltern Verlorenen, verlor er auch. Sie wurde vom Wirtschaftsboom, den der Koreakrieg angestoßen und der Vietnamkrieg vollends entfacht hatte, aufgesogen und zurück blieben einzelne Überlebende, die an ihren Idealen festhielten und einzelne Überlebende, die sich verraten und verarscht vorkamen, aus Verbitterung jede Form von Gemeinschaft ablehnten und sich versuchten dem System, das keinen Widerspruch duldete, durch innere Flucht zu entziehen. Nach dem Verlust der Studentenbewegung hat Murakami nie wieder einen positiven Bezug, eine Identität gefunden. Der Hass auf die Studentenbewegung ist für ihn notwendig um seine innere Leere zu füllen. Er ist der Verstoßene – wie konnte sie einfach sterben wo er doch noch leben musste?

Trotz ist es, der ihn schimpfen lässt. Den untergegangenen Werten hält er, der Enttäuschte, einen Konsumnihilismus entgegen, der seine Wut befriedigt, aber in seiner reinen Negativität keinen Ersatz schafft. Diese innere Leere, der innere Verlust, ist ein immer wiederkehrendes Thema. Wataya, das System, sie haben es geraubt. Naoko, die Studentenbewegung, war zu schwach, sie ist gestorben. Was blieb Murakami anderes übrig als die notgedrungene Anpassung und die innere Emigration? Zeitweise floh er in Ausland, doch die Flucht löste keine Probleme.

Er versuchte sich an einer Parodie. Mit der Wilden Schafsjagd macht er sich über die Sekigun, „Rote Armee“, dem bewaffneten Arm der Studentenbewegung,75 lustig, die sich in die Wälder zurückzog und dort selbst zerfleischte und deren Überreste schließlich auf einer Berghütte gestellt wurden. Der Kampf um die Macht (das Schaf) wird hier ins Absurde gezogen, es ist seine eigene Enttäuschung, die ihn in diesen Zynismus treibt und seine Freunde und ihre Ideale in der Figur des Werbepartners verspotten lässt. Diese Lebenshaltung kommt in den Gedanken, die er in 1q84 Ushikawa in den Kopf streut zur Geltung: „Wieder einmal dachte Ushikawa, dass niemand so leicht zu betrügen war, wie Menschen, die davon überzeugt waren, das Richtige zu tun.“76

Murakamis Welt ist ein großes Gefängnis voller kleiner Konsumverheißungen, aber ohne Ausgang. Er floh in seine Fantasie, weil er nach dem gescheiterten Aufstand der Insassen keine Möglichkeit zum Ausbruch mehr sah und inzwischen wohl auch nicht mehr sucht. Der Murakamiboom in China traf interessanterweise ebenfalls eine Generation, die eine gescheiterte Studentenbewegung hinter sich hatte und ebenfalls danach von einer Konsumwalze ungeahnten Ausmaßes überrollt wurde und Murakami mit „Chungking Express“ und „Suzhouhe“ Denkmäler setzte..

Er ist aber auch kein Weltanschauungskrieger der Reaktion – er weiß wohl selber nicht wo er steht, ein Einzelgänger, der den Weg verloren hat, ein Mensch, wie ihn Tendrjakow beschrieben hat: „Bis jetzt hatte ich nicht bemerkt, dass ringsum vertriebene existieren – sie trotten über die Erde und fühlen sich auf ihr überflüssig, sie wissen nicht, wohin sie mit sich sollen, sie wissen nicht, weshalb sie leben. Sie haben nicht einmal jemanden, dem sie die Schuld geben könnten, eigentlich verjagt sie niemand, sie sind selbst nicht in der Lage, sich der Welt anzupassen, überall ist es unhäuslich, überall öde. Niemanden zu haben, dem man die Schuld geben kann, das hindert einen nicht zu hassen – alle!“77 Er hasst die Linken und er hasst die Rechten. Er hasst die Eliten und er hasst die Verlierer des Systems. Vielleicht betrachtet er sich tatsächlich als Teil dieser obskuren „Mitte“, deren Teil alle Kleinbürger sein wollen und die sie immer so nebulös undefiniert lassen, dass sie alle anderen, außer sich selbst, jederzeit hinausstoßen können, denen es natürlicher erscheint, verachtet und gehasst zu werden, wie er sagt, als dass sie jemand mag und deswegen auf ewig dazu verdammt sind, allein zu bleiben und sich an Konsumobjekte zu klammern um sich ihrer Hilflosigkeit nicht bewusst zu werden.

Viele Handlungsstränge erinnern in der Fremdbestimmtheit, „Eher habe ich das Gefühl, es ist geschehen, was geschehen musste.“,78 der Protagonisten Schriften der Romantik. Murakami wird sich wohl nie mit der deutschen Romantik beschäftigt haben, vielmehr sind es auch hier die Umstände, die sich ähneln. Kleinbürger, die von der Revolution abgestoßen und sich der Obrigkeit hilflos ausgeliefert fühlen und Charaktere schaffen, die diese Passivität widerspiegeln. Das Sehnen nach dem Leben des jugoslawischen Schäfers in Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt,79 ein kleiner geistiger Ausbruch, mit dem er aber nicht weit kommt, beziehungsweise sich kommen lässt, denn er hat die Geschichte geschrieben, in der er auch sonst einiges Übernatürliches geschehen lässt. Es ist die Angst wieder enttäuscht zu werden, sich täuschen zu lassen, die ihn gefangen hält.

Am japanischen Konsumtotalitarismus scheint die No=Future=Generation („Noh=Future=Generation“, wie ich sie während des Studiums einmal fälschlich übersetzte) spurlos vorbeigegangen zu sein. Grunch und Punk wurden nur als reine Modebewegungen rezipiert. Wenn Murakami nun seinen Weg als gesättigter Bürger zurück in die Gemeinschaft sucht, die er jetzt selbstredend nicht mehr ändern will, so tut er das, indem er ausländische Konsumgüter durch japanische austauscht. Er steht mit seiner Selbstunterwerfung gegenüber dem System unter den „Altachtundsechzigern“ nicht alleine da, vor ihm sind schon viele andere diesen Weg gegangen.. Terayama und Miyadsaki sind die bekanntesten von ihnen. Auch wenn alle von ihnen sich der Würde halber noch einen Funken Rebellion bewahrt haben.

Ich lass es dabei bewenden. Mir ist kalt. Ich muss mich bewegen.

und der Spanier vor den Erschießungskommando

fragt, ob Stalingrad lebt“80

 

71Pablo Neruda Erklärung einiger Dinge, in Dichtungen, Verlag Volk und Welt, Berlin 1978, S.67

72Der SDS Japans.

73Literaturpreis für Nachwuchsschriftsteller.

74Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.197

75Nur sehr bedingt mit der RAF zu vergleichen.

76Haruki Murakami 1q84/Buch 3, DuMont=Buchverlag, Köln 2011, S.73

77Wladimir Tendrjakow Mondfinsternis, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 1981, S.232/233

78Haruki Murakami 1q84, DuMont=Buchverlag, Köln 2010, S.552

79Haruki Murakami Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 2000, S.400

80Pablo Neruda Gesang für Stalingrad, in Dichtungen, Verlag Volk und Welt, Berlin 1978, S.75

 

 

 

 

Tempel 69

 

Am Fluss sitzen und lesen. Die Sonne spült die Kälte aus den Gliedern.

 

 

 

 

Tempel 70

 

Kagawa ist Udon=Land. Laufe an etlichen Udon=Imbissen vorbei, doch einer erweckt mein besonderes Interesse: es ist eine supermarktgroße Halle, die angefüllt ist mit Tischen und Stühlen. Eine Art Udonmensa oder Hofudonhaus. Ich bin der einzige hier. Bis auf die Frau hinter der Theke. Als wenn ganz Shikoku nur für mich existiere. Kaltes egozentrisches Gift fließt durch meine Adern, wird von meinen Poren ausgeschieden und kristallisiert metallen auf meiner Haut. Die leckeren warmen Udon treiben es aus.

 

 

 

 

Tempel 71

 

Wild verstreut liegen seine verschiedenen Hallen über den steilen Hang. Morgens auf den Holzstufen in der Sonne sitzen und wie ein Gott in das Tal hinunterblicken. Der Hidshiri liebt die Sonne, da er nachts kein Glück hatte und trotz klaren Sternenhimmels von einem Regenguss überfallen wurde. Auf die Sonne hingegen, seine treue Genossin, die große Moriko, kann er sich voll und ganz verlassen.

Unterhalb des Tempels befindet sich ein schrulliger kleiner, halb vom Wald und vom Moos verschluckter Udonladen. Die Schilder wirken alle recht neu, doch es ist niemand da im Lebudonhaus.

Ausgehungert komme ich schließlich an einer Art improvisiertem LKW=Rastplatz an. Vor einer ziemlich heruntergekommenen Hütte wehen drei Udonfahnen. Der Hunger treibt den Pilger aus dem Wald. Der Hunger treibt den Pilger in diesen Verhau. Drinnen sitzt ein lieber alter Opa und raucht. Auch auf allen anderen Tischen liegt Asche. Sie passen auch nicht zueinander. Bestelle bei ihm das Udonmenü und setze mich. Auch die Stühle sind alle verschieden. Von den elf Stühlen im Laden sind keine zwei gleich. Er scheint den Imbiss schon lange zu betreiben und jedes Mal, wenn ein Stuhl kaputt ging, ging er wohl zum Trödler und erstand einen neuen. Meine Augen weiten sich immer mehr. Alles in diesem Verhau mit seiner niedrigen Decke und seiner schiefen Theke scheint selbst zusammengetragen, wie eine Piratenkneipe in der Südsee. Ja, alle drei Wände haben nicht nur eine andere Farbe, sie sind auch verschieden verputzt und zusätzlich ist eine noch halb mit Holz verkleidet und eine andere mit einem einzelnen Streifen marmorfarbener Tapete beklebt. Ist hier vielleicht mal ein LKW reingerauscht? Zum Glück hat zumindest der Alte überlebt, denn er bringt mir ein riesiges Menü aus dampfenden Udon, eingelegten verschiedenen Gemüsen, Oden, frittierten Riesengarnelen und einer Schüssel Reis. Die Udon sind so göttlich gut, dass sie alle hygienischen Bedenken vergessen lassen. Lediglich der Flachbildfernseher, der rund die Hälfte der Wand ohne Holzverschalung oder Ziertapete einnimmt, stört das Gesamtbild. Auf ihm essen sterile Familien steriles Essen in sterilen Designerwohnungen. Völlig irreal, aber ich weiß nicht ob sie oder ich. Vielleicht sitzt Familie Keimfrei gerade dort und kuckt über die Trennscheibe mich an und fragt sich: „Ist das wirklich echt?“

Der Alte knetet derweil ungerührt Udonteig. Er war schon immer Teil hier und wird auch für immer Teil hier bleiben. Danke.

 

 

 

 

Tempel 72

 

Sonne.

 

 

 

 

Tempel 73

 

Hinter Dreiundsiebzig liegt ein Berg, den Kōbō in jungen Jahren bestieg und den Göttern drohte, sich hinunterzustürzen, falls sie ihm weiter die ihm zustehende übersinnliche Erfahrung verweigerten. Die Götter ließen sich zunächst nicht erpressen, doch als er sich tatsächlich hinabstürzte kam ein Bodhisattwa herbeigeflogenen und rettete unseren Kōbō. Eine etwas spezielle Hilfeschreinummer. Im Gegensatz zu seinen anderen vollbrachten wahren Wunderdingen, wird bei dieser Geschichte immer der mythische Charakter betont. Wohl will man lebensmüde Größenwahnsinnige vom Nachahmen abhalten..

Niemand außer mir ersteigt ihn. Alleine stehe auf dem Bergkamm und blicke auf eine zersiedelte, mit Industrienarben übersäte Landschaft, die einen nicht wünschen lässt, vom Bodhisattwa gerettet zu werden.. Der eisige Wind bläst einem die Seele aus dem Leib. Bibbernd laufe ich alleine die schmale, sich hinunterschlängelnde Asphaltpiste lang. Als einzige Tiere krächzen Krähen ihre Huldigung an die kahlen Bäume. Tiefe Sonne mit scharfem, grellem, kaltem Licht. Alleine stürze ich mich in das Weltmeer.

 

 

 

 

Tempel 74

 

Morgens in der Herberge aufwachen. Der Besitzer war so lieb und hat mir superhilfreiche Karten für meinen Ausbruch aus dem Kartebuch=Diesseits und meinen Einbruch in das Kartenbuch=Jenseits kopiert und darauf meine Ziele, weniger hilfreich weil falsch, eingetragen. Aber die Karten sind gut.

Nach Kotohira. Im Hemd in der Sonne. Dunkle alte Häuser werden durchwunden von einem kleinen Fluss. Kotohira ist eine schöne Stadt. Entdecke den alten Bahnhof der alten Bahn zum Meer, der Bahnhof selbst steht nicht mehr, aber an den Grundstücksgrenzen kann man ihn noch nachvollziehen. Es gibt kleine Parks, eine überdachte Einkaufsstraße, einen hölzernen Leuchtturm, ein Onsen und den kleinen Bahnhof der Kotoden.81 Aber ach, so schön Kotohira auch ist, es ist eben auch eine japanische Stadt: Vor dem Ausgang des putzigen Kotoden=Bahnhofs befindet sich direkt auf der anderen Straßenseite zu Füßen eines großen Tori auf einem ungenutzten Grundstück ein drei Meter hoher Berg alter Röhrenmonitore. Will der Besitzer die Stadt auf die Der=Müllhaufen=bleibt=solange=bis=ihr=mir=mein=Grundstück=zu=meinem=Preis=abkauft=Tour erpressen? Gegen die Ratlosigkeit hilft wohl nur die Resignation, mit der die Japaner alles zu ertragen gelernt haben.

In seinem Udonbericht Sanuki=Tshōdīpuudonkikō, in etwa „Sanuki, Reisebericht der Supersonderudon“,82 ich gebe ihm jetzt mal den etwas griffigeren Titel Im Reich der Udon, hat sich Murakami über einen Sunakku, wie die Japaner, abgeleitet vom englischen Begriff „Snack“, ihre Hostessenbars nennen, namens „Asoko“, zu Deutsch „Muschi“, gewundert. Ich wundere mich über ihre Anzahl. Es hieß immer in Kagawa gäbe es mehr Udonläden als Ampeln, aber etwas sehe ich in Kagawa noch öfter als Udonschriftzüge: Sunakkuschilder. Eine „Muschi“=Bar war bisher nicht dabei, dafür aber ein Sunakku „Vaterlandsliebe“, über dessen Namen ein Coca=Cola=Logo prangert. Vielleicht sollte Murakami noch ein zweites Mal kommen für den Bericht Sanuki=Tshōdīpusunakkukikō, ich verfüge leider nicht über die nötigen Finanzmittel.

Zurück zur Udon, denn ich nähere mich dem ersten der bei Murakami beschriebenen Nudelläden, dem Ogataya. Er übertreibt ja gerne mal ein bisschen, doch was er über diesen Laden geschrieben hat stimmt: Überall stehen Reiben und die Zeit bis die Udon fertig sind vertreibt man sich indem man den Riesenrettich, den man gereicht bekommt, kleinkriegt. Murakami klagte schon und sinnierte darüber, wie es wohl älteren Menschen mit Herzproblemen hier ergehen mochte und ich dachte mir nur „Was für ein Schwächling“, doch er hat recht, ein Zwanzigzentimeterrettich kostet Kraft. Ob man damit die Energiemenge der Udon im Voraus verpulvert, lasse ich jetzt mal offen, aber mehr Essen kann man auf jeden Fall. Und über den Geschmack wird sich auch niemand beschweren, wenn er selbst dazu beigetragen hat, denn Udon mit Rettich sind sehr.. interessant.

Mir war das beim Reiben zuerst gar nicht aufgefallen, doch sie haben die Musik zu us=amerikanischen Sechzigerjahrepop geändert. Wegen mir? Ich hoffe nicht. Ich kann mich noch an die Strandbar in Bulgarien erinnern, wo sie nach unserem Erscheinen nur noch Modern Talking gespielt haben, vielleicht ist das hier das kleinere Übel.

Ich stehe erschöpft am Mannō=See, die Sonne liegt in den letzten Zügen, vom anderen Ende des Sees schallt sphärische Musik aus den Lautsprechern und ich überlege welcher der beiden Sunakkunamen der seltsamere ist, „Muschi“ oder „Vaterlandsliebe“. „Muschi“ ist natürlich sehr direkt und, sagen wir, geistig zielführend, aber eben auch falsch, denn in den Hostessenbars findet kein Sex statt. Es sind Ersatzbefriedigungen für Impotente, insofern passt „Vaterlandsliebe“ schon eher.

 

Die Lichtstrahlen der Morgensonne künden vom Tag. Ein leichtes Leuchten der Nebelschwaden über dem See, der langsam verlierenden Schneeelefanten des Hornung. Kōbō erwacht in seinem Zelt am Ufer des Mannō unterhalb des Kannodshi. Sein Frühstück, ein paar Onigiri, isst er im stehen mit Blick aufs Wasser. Krähen sitzen stumm und reglos in den Bäumen. Die Leute sagen, er habe den Bewässerungsstaudamm und seinen See errichtet, doch so richtig kann Kōbō sich nicht daran erinnern, es ist ja jetzt auch schon über tausend Jahre her. Aber wenn sie es sagen wird es wohl stimmen. Er wandert zum Kotohira=Schrein. Auf seinen Stufen den Berg hinauf bildet sich eine wahre Völkerwanderung. Dicke Chinesen bewundern ihn dafür, dass er sie trotz Gepäck überholt. Kōbō grüßt höflich zurück und geht weiter. Irgendwann am hinteren Heiligtum tief im Bergwald angekommen setzt er sich auf einen Stein, atmet tief durch und lässt die Gedanken kreisen.

Lassen wir ihm eine Verschnaufpause und wenden uns der Frage zu, die sich hier am größten Shintōschrein Shikokus stellt: Was ist Shintō überhaupt? Shintō, „Weg der Götter“, ist ursprünglich ein buddhistischer Sammelbegriff für alle nichtbuddhistischen Glaubenspraktiken und wird als solcher auch außerhalb Japans so genutzt. Als der Buddhismus nach Japan kam, vielen unter diesen Begriff zwei Hauptströmungen, zum einen die verschiedenen örtlichen Volksglauben, zum anderen der mit ihnen bereits ein Amalgam bildende, aus China übernommene Taoismus. Der Shintō besaß keine einheitlichen Glaubensgrundsätze, stellte keine Lebensphilosophie oder Weltanschauung dar, vielmehr war ein von Dorf zu Dorf unterschiedlicher Versuch, die Naturerscheinungen, denen man nicht Herr werden konnte, eben doch zu einem gewissen Maß mit Gebeten, Opfergaben, Tänzen, Ringkämpfen und Theatervorführungen zu beeinflussen.

In der Vorphase japanischer Staatlichkeit, als die verschiedenen Herrschaftsklans begannen sich gegenseitig zu unterwerfen, entstanden die ersten legitimatorischen Schriften, in ihnen wurden die verschiedenen Götter integriert und hierarchiesiert. So wie die Oberhäupter der Randgebiete sich dem Zentrum unterwerfen mussten, so mussten es auch ihre Götter und so entstanden die ersten Schriften des Shintō. Der oberste Klanchef übernahm von nun an den Titel der obersten taoistischen Gottheit: Tennō, der seine Macht über die zu diesem Zweck neu erschaffene Sonnengöttin Amaterasu legitimierte, als deren einhundertdreinzwanzigste Urenkel der heutige Kaiser offiziell fungiert. Es ist genauso umstritten, ob der Shintōismus die Ahnen zu Göttern gemacht hat oder die Götter zu Ahnen und ob man von einer Buddhistisierung Japans sprechen muss oder von einer Japanisierung des Buddhismus (tatsächlich gibt es in ganz Japan mit seiner scheinbar unendlichen Fülle an Tempeln nur zwei nur zwei Butsudadshi, also Buddha selbst gewidmete Tempel und sind viele der Ahnen der Shintōanalen wohl erfunden), aber die Shintōschriften selbst stellten zunächst auch nur eine pragmatische Herrschaftsideologie dar und keinen gelebten Glauben und der Buddhismus, der zwischen 538 und 552 unserer Zeitrechnung nach Japan gebracht und 593 zur Staatsreligion erhobene wurde, wurde zunächst als Zauberlehre angenommen, Statuen und Sutrenrezitationen waren Mittel zum Zweck gegen Krankheiten, Unglücke und ähnliches, er wurde also nicht als im Gegensatz zu den bisherigen Glaubenspraktiken stehend wahrgenommen, sondern lediglich als Ergänzung ihrer.

Der Einfluss des buddhistische Klerus wuchs mit der Zeit, bis nach dem Dōkyō=Zwischenfall im achten Jahrhundert, als ein buddhistischer Mönch nach der Macht im Staate greifen wollte, eine Gegenbewegung unter dem Banner des Kriegsgottes Hatshiman aufkam, die den Shintō erstmals in Gegensatz zum Buddhismus setzte. Aber auch wenn Shintō und Buddhismus von jetzt an als verschiedene Dinge angesehen wurden, war ihre Trennung doch recht halbherzig. Sie bildeten für den Tarōnormaljapaner auch weiterhin eine Einheit, am Ise=Schrein wurde ganz selbstverständlich bis zur Mēdshizeit Buddhismus mitpraktiziert, der Itshinomiya=Schrein auf Omishima stand unter Leitung unseres Fünfundfünfzig und unserem Nummer Sechzig wird die Heilung des Tennōs, um den herum die Shintōschriften ja konstruiert waren, von einer Gehirnkrankheit nachgesagt.

Der Shintō von heute zerfällt in dreizehn Sekten, von denen sechs der Edo=Zeit und der Rest der Mēdshi= und Nachkriegszeit entstammen. Ein eigenständiger organisierter Shintō vor 1600 ist nicht nachweisbar. Zwei Faktoren sind für das Erscheinen des Shintō während der Edozeit ausschlaggebend: das aufkommende Bürgertum und der aufkommende Nationalismus. Das aufkommende Bürgertum versuchte sich gegenüber der halbfeudalistischen Tokugawa=Regierung abzugrenzen, die sich ideologisch mit den „ausländischen“ Weltanschauungen des Konfuzianismus und des Buddhismus legitimierte. Der Kontakt mit Spaniern und Holländern wiederum hatte zum einen ein Bewusstsein dafür entstehen lassen, nicht allein auf der Welt zu sein und der Pilgerboom der Edozeit und seine mit ihm verbundenen Reisen durchs Land zum anderen hatte ein Bewusstsein für einen übergeordneten ethnischen Zusammenhang untereinander gefördert. Hieraus erhob man nun die Forderung nach einer Wiedereinsetzung des Kaisers in alte Machtfülle und der „Wiedereinführung“ des Shintō im Rahmen einer unscharfen Unzufriedenheit mit dem im Widerspruch zur wirtschaftlichen Entwicklung stehenden Überbaus.

Diese tiefe, dumpfe Unzufriedenheit entlud sich nach dem Sturz der Tokugawa in einem flammenden Ikonoklasmus, der einen von allen ausländischen Einflüssen gereinigten Shintō wollte und dem unter anderem sechs unserer Tempel zum Opfer fielen (Später wurden sie wieder aufgebaut). Der Shintō wurde zur Staatsideologie, von 1869 bis 1871 stand das Shintō=Ministerium, ähnlich dem Wächterrat im heutigen Iran, sogar über der Regierung, die Shintō=Schreine verstaatlicht und es wurde gesäubert was das Zeug hält. Auch das wenige im Shintō, das tatsächlich aus der traditionellen Volksreligiösität stammte, wie die 1873 verbotenen Ekstase=Praktiken, vielen ihnen zum Opfer, doch irgendwann muss irgendjemanden aufgefallen sein, dass wenn man so weitersäubert, nicht mehr allzu viel übrig bliebe und das Ganze wurde recht abrupt abgeblasen. Der Rest wurde, wider besseren Wissens, für rein japanisch erklärt und die Mēdshi=Oligarchie legitimierte sich nun über das Kaiserhaus und das Kaiserhaus über den erschaffenen Staats=Shintō.

Der Buddhismus wurde zunächst unterdrückt und die Pilgerpraktiken verboten, doch ließ sich das nicht lange durchhalten, da das Protestpilgern zum Kristallisationspunkt alle Gegenkräfte zur Mēdshiregierung zu werden drohte. So fuhr man die Restriktionen schrittweise zurück und ließ auch das Pilgern wieder zu. Die verschiedenen buddhistischen Schulen dankten es, indem sie sich gegenseitig darin überboten sich bei der Kriegsmobilisierung der folgenden Jahre nützlich zu machen..

Mit dem Kriegsende und dem Zusammenbruch der Mēdshiordnung setzten die US=Amerikaner die Trennung von Staat und Religion durch und damit auch dem Staatsshintō ein Ende. Ja, manchmal fragt man sich, warum sie das nicht auch in Deutschland taten.. Die evangelische und die katholische Kirche hatten mindestens ebenso Teil an den deutschen Kriegsanstrengungen wie der Shintō in Japan..

Es ist nicht eigentlich der Shintō, sondern der Shingon=Buddhismus Kōbōs, der viel der zaubrischen Welt der ursprünglichen japanischen Volksreligiösität bewahrte, die der Shintō für sich beansprucht. Der heutige Nachkriegs=Shintō ist, alles in allem, nur der grauer Schatten eines vergangenen mit nationalem Pomp gefüllten, inhaltsleeren Staatsshintō und das, was von ihm überlebt hat, ist, grob gesagt, zu sechs Zenteln buddhistisch, zu drei Zehnteln taoistisch und nur zu einem Zehntel orginär japanisch. Ja und der Kaiser.. Waschmaschine, Staubsauger und Kühlschrank ersetzen in der Nachkriegszeit als neue Sanshunodshingi, die Insignien kaiserlicher Macht, den Spiegel, das Schwert und die Juwelen und heute ist der Kaiser so eine Art halbgare Mischung aus Queen und Papst und man weiß nicht, ob man sich für ihn schämen soll oder ihn bemitleiden.

Das ganze ging auch am Kotohira, beziehungsweise Konpira, nicht vorbei. 1868 war der buddhistische Konpira=Daigogen=Tempel aus dem Jahre 828 der Shintō=Gottheit Kotohira Ōkami umgewidmet und zahlreiche alte buddhistische Gebäude geschliffen und die ganze Anlage umgestaltet worden. Aber eines muss man ihnen lassen, so schade es auch um all die von ihnen in ganz Japan vernichteten Kulturgüter ist, dass was die Mēdshiler nach ihrer Zerstörungswut neu erschufen ist oft wunderschön.. Ja, man kann sich immer wieder von neuem in die Shintōschreine verlieben und Kotohira ist einer ihrer schönsten, auch dann wenn, grob geschätzt, gerade dreißigtausend Touristen auf ihm herumwuseln. Kōbō ehrt die Shintōgötter, isst zwei Onigiri und zieht weiter.

 

81Name der S=Bahngesellschaft Takamatsus.

82Sanuki ist der alte Name des Verwaltungsbezirks Kagawa.

 

 

 

 

Tempel 75

 

Das Gelände der Legende ist es ein wahrer Irrgarten. Es wurde so viel am Lebenslauf Kōbōs herumgesponnen, zeitweise schien sich ganz Japan auf seine kreative Ausschmückung verlegt zu haben, dass es kaum möglich ist Fakten und Fiktion auseinanderzuhalten. Auch Kōbō selbst war daran nicht ganz unbeteiligt; einiges, was er für sich in seinen Schriften in Anspruch nimmt, ist nachweislich falsch, und so bleibt es jedem selbst überlassen, aus dem schier unendlichen Quellenmaterial sich seinen persönlichen Kōbō zu bauen.

Es gibt aber einige wenige zumindest nur schwach schwankende Eckpfeiler in diesem Volkssport wie, dass der Fünfundsiebzig einer seiner beiden Geburtsorte ist. Sein Elternhaus soll genau hier gestanden haben und seine Mutter soll von einem Mönch geträumt haben, der in ihrem Haus Zuflucht suchte und so schwanger geworden sein ..und Kōbō selbst kam hier mit gefalteten Händen auf die Welt ..und war ein Verwandter des Tennō ..und hielt als Kind Zwiesprache mit Buddha (dessen Wiedergeburt er nach anderen Erzählungen sein soll) ..und brach mit zwölf Jahren ein Studium ab, weil es ihn nicht genug forderte und so weiter und so fort.. Ja. Wenn man böse wäre könnte man ihn den Kim Ilsong Japans nennen.

Lange sitze ich auf den Stufen unter der großen Pagode, ohne einen Gedanken zu haben.

 

Ein verregneter Morgen. Muss an Deicke denken:

Und du gehst und singst im gehen,

Tropfen sprühn dir um die Nase,

lass den Wind nur fröhlich wehen,

     immer vorwärts führt die Straße.“83

Die Kette der Pimmelmützenberge. Sie streckt sich von Kotohira bis ans Meer und ab und zu bricht sie zu meiner Linken durch die Wolkenlücken. Zahlreiche Bewässerungsanlagen überziehen die Gegend, natürlich wurden sie alle von Kōbō errichtet. Im Supermarkt werde ich von einer Instrumentalversion eines Radioheadliedes beschallt. Ich weiß nicht mehr den Titel, doch weiß den Text: „..break down the goverment, they don´t, they don´t speak for us..“ Ja, der sich hier überall rankende Geräuschvermüllungsefeu trägt bisweilen unfreiwillige bis skurrile Blüten, ich erinner mich, wie ich in einem koreanischen U=Bahnhof mit den lyrischen Ergüssen eines kalifornischen Gangsterrappers über die vorgebliche Leistungsfähigkeit seines Schniedels unterrichtet wurde. Völlig unerträglich wird es im Herbst, wenn man beginnt immer und überall in Japan und Korea die Ballade vom Rotznasenreen Rudolf rauf und runter und rauf und runter und ra.. zu spielen. Im Flughafen. Im Supermarkt. Im Onsen. Im Restaurant. Überall. Als Kinderchorversion. Als Klavierversion. Als Mangastimmengequietsche. Als Geigengequietsche. Als alles Mögliche. Selbst die Reinigungs= und Müllfahrzeuge stellen dann ihr Warngepiepse auf den Takt der rotnasigen Kosowoziege um. Rentierland Japan. Auch an Murakami ist diese Rentiermanie nicht spurlos vorbeigegangen; in Der 1973=Flipper widmet er einen ganzen Abschnitt den Schlittenzugtieren Trotzkis.

Der Nieselregen lässt nach. Ich nähere mich Byōbugaura. Blut war im alten Japan immer ein Zeichen der Unreinheit. Frauen mussten während der Periode die Dörfer verlassen und sich danach rituellen Waschungen unterziehen. Noch heute haben Frauen ein „Recht“ auf Menstruationsurlaub von ein bis zwei Tagen im Monat, der allerdings aus Scham nie genommen wird, sodass er selbst fast mythischen Charakter trägt. Der Kaigandshi hier am Strand steht an einem solchen alten Platz ritueller Waschungen, an die auch andere blutreiche Vorgänge wie Geburten verlegt wurden und es wird angenommen, dass es sich bei diesem Strandabschnitt um jenes Byōbugaura handele, zu dem Kōbōs Mutter zog, um zu gebären. Der zweiten Geburtsort Kōbōs.

Sitze am Strand. Algengeruch. Meer. Große Frachter ziehen übers Wasser. Es ist Flut, das Meer geht genau bis zur Grasnarbe. Es war richtig, dass ich mein Zelt immer erst hinter der Grasnarbe aufzuschlagen habe.

Ja, die Aversion vieler Japaner gegen Blut trägt teilweise extreme Züge. Ich kann mich erinnern, wie ich mich einmal bei Zwiebelschneiden geschnitten habe und darauf bestanden wurde, dass alle Zwiebeln weggeschmissen werden und nicht nur die zwei Stückchen, die einen kleinen Tropfen abbekommen hatten. Auch der Beischlaf wird einem während der Periode in der Regel verweigert und wenn man sagt, dass einem das nichts ausmache, meldet sich später ihre beste Freundin bei einem und fordert einen auf aufzuhören sie zu so perversen Dingen zu drängen.

Bei Murakami schlägt die Schilderung der Monatsblutungen in das absolute Gegenteil um. Es erinnert ein bisschen an die KPJ, die in ihrer offiziellen Linie China als „demokratischen Staat auf dem Weg zum Sozialismus“ bezeichnet. Es ist schön, dass die KPJ sich nicht an der allgemeinen Verteufelung Chinas beteiligt und Murakami mit der Menstruationsverdammung Schluss macht, aber scheinen doch beide ein kleinwenig übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Genauso, wie die Position der KPJ zwangsläufig sowohl die Frage nach ihrem Demokratieverständnis als auch nach ihrem Sozialismusverständnis aufwirft, stellt sich bei Murakamis Menstruationsmystifizierung die Frage, ob das denn einer Normalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit einer so natürlichen Sache dienlich ist.

Diese Anbiederungsversuche als Frauenversteher, so konfus und sexistisch sie auch daherkommen, sind gerade bei Frauen äußerst beliebt. Es schmeichelt wohl manch einer dem Selbstwertgefühl, Phänomene wie der Periode, die über Jahrhunderte verdammt wurden und in West wie Ost als Ausgeburt tieferer Unreinheit galten, nun so überhöht zu sehen. Mit Murakamis Menstruationsexegesen ist es ein bisschen wie mit den exotistischen Klischeebildern, die der Westen jahrzehntelang von Japan fabrizierte und die zwar alle rassistisch waren und mit der Realität nur peripher in Verbindung traten, von den Japanern aber als schmeichelhaft empfunden und geliebt wurden.

Aus den parallelen im Verdammen der Menstruation darf man nicht schließen, dass die japanische Volksreligiösität auch das Verdammen der Sexualität mit dem Christentum gemein hätte. Während die Verdammung der menstruierenden Frau und ihr zeitweiser Ausschluss aus der Gemeinde im frühen Christentum eine Folge eines lustfeindlichen Weltbildes war, mit dem die Frau und ihre Reproduktionfunktionen identifiziert wurde, fand die Verdammung der menstruierenden Frau und ihr zeitweiser Ausschluss aus der Gemeinschaft in Japan ausschließlich unter den Vorzeichen einer kollektiven Blutphobie statt. In der traditionellen Religiösität Japans nimmt Fruchtbarkeit einen zentralen Stellenwert ein, wie das rituelle Opfern zweischenkliger Rettiche im Herbst, das Herumtragen riesiger Geschlechtsorgane auf Dorffesten oder die rituelle Befruchtung der Erde mit einem Holzphallus durch den Kaiser im Rahmen seines Inthronisierungsrituals. Die Geschichten um Kōbō bilden keine Ausnahme. Der durch die Gegend ziehende Kōbō wird in ihnen zum Potenzmonster, das es schafft Frauen zu schwängern, wenn sie nur seine Teereste tranken und der Tatshikawa=Shingon84 erhob den Beischlaf gar zur obersten Meditationsmethode.

Ja.. Das Wanderleben hat eine lange Tradition im Buddhismus, es ist Sinnbild eines geistigen wie körperlichen Lebenswandels und der Weg für sich genommen ist das Sinnbild dieses Sinnbildes. In den Heiligengeschichten sind die Zusammenkünfte auf dem Weg immer Zwangsläufigkeiten aus verschiedenen Faktoren, der Wanderer ist dabei ein Teilchen, das seine Energie beim Zusammenprall mit anderen Teilchen freisetzt und so neue Faktoren in einer unendlichen Kette schafft.

Es war auch für mich an der Zeit weiterzuziehen. Der Nieselregen hatte aufgehört und ich brach auf in einen farbenprächtigen Abendhimmel. Auf einer Wanderung dieses Ausmaßes gibt es tatsächlich viele unumgängliche Zwangsläufigkeiten und innere wie äußere Grenzen, die es zu überschreiten gilt und natürlich geschieht nichts durch nichts, so verführerisch es aber ist, so falsch ist es zu glauben, dass etwas für einen geschieht, man war und bleibt vielmehr die ganze Zeit nur Teil des Ganzen. Oft kam mir auf dem Weg Novalis in den Sinn, doch er zog nicht Ziellos in der Weltgegend umher, er suchte den Weg der Heimkehr ins eigentliche Vaterland. Ein Henro dagegen sucht das Nichts, das Wesen des endlosen Kreises, nur die Bewegung gibt ihm Halt.

Helle Mondnacht. Ich laufe kleine Wege entlang vorbei an Bewässerungsgräben. Kleine Wege durch Reisfelder. Kleine Wege zwischen Grundstücksmauern entlang. Kleine Wege. Murakami hat ihnen allen in seinen Aufziehvogelaufzeichnungen ein so wunderbares Denkmal gesetzt. Eine Bank. Schlaf.

 

Ich träume von Bier. Richtigem Bier. Eine kalte Flasche Bürgerbräu. Der Gerstensaft rinnt meine Kehle hinunter. Ich wache auf. Noch nie war der Wunsch nach einem richtigen Bier größer als jetzt. Doch ich bin in Japan.

 

83Günther Deicke Ortsbestimmung, Verlag der Nation, Berlin 1972, S.43

84Unterdrückte Geheimlehre des Shingon.

 

 

 

 

Tempel 76

 

Hunger. Schwindel. Hunger. Hunger. Kein Konbini und alles andere hat noch zu. Bete bei einem Dshidsō um ein Osettai. Als ich um die Ecke biege kommt ein zahnloser Mann auf mich zu und schenkt mir einen Porzellanbuddha. „Osettai“, sagt er. Sehr lustig, Herr Dshidsō! Bedanke mich trotzdem brav. Nun darf ich das Ding mit mir rumschleppen.. Wenn er wenigstens aus Holz wäre. Naja, ich sollte wohl dankbar sein, dass mir das in der letzten Provinz und nicht in der ersten passiert.

 

 

 

 

Tempel 77

 

Ein alter Mönch und eine junge Novizin mit bunten Schärpen, die wohl so etwas wie Rangabzeichen sind, kommen mir auf der Straße entgegen. Während die junge, gutaussehende Frau zur Seite springt und sich tief verneigt, nickt der Mönch mir nur eisig zu. Nicke bei beiden einfach zurück, was bei ihr vermutlich zu viel und beim Alten vermutlich zu wenig der Würdigung war. Ach, die japanischen Hierarchien bringen mich immer wieder um Kopf und Kragen.

Marugame besitzt eine sehenswerte Burg. Ehrfurchtgebietend thront sie hoch über der Stadt. Zeit für eine Pause. Ein Mädchen mit zwei kurzen schwarzen Zöpfen hüpft über die Steine. Unten kommt eine große Pilgergruppe, vierzig bis fünfzig Leute, die den Weg zusammen erlaufen, vorbei.

Kurz vor Nakamura=Udon, Murakamis zweiten Laden Im Reich der Udon, bekomme ich einen Krampf in der linken Wade, so humple ich hinein, begleitet immer noch von meinen Schwindelgefühlen. Außerdem breitete sich seit der Burg ein Druck auf den Ohren aus, der mich alles nur stark gedämpft hören lässt. Eine der Angestellten erbarmte sich und erklärte mir, in einem Ton, den man allgemeinen nur gegenüber Kindern, Alten und geistig Behinderten und eben gegenüber wankenden Ausländern anzuschlagen pflegt, alles in diesem bisher chaotischsten Udonladen.

Schließlich sitze ich da. Vor mir eine große Schale warmer Udon. Glück.

Murakami schildert einen malerisch im Schatten des Sanuki=Fudshi85 zwischen Felder versteckt gelegenen kleinen Hühnerstall ohne jedes Hinweisschild, in dem ein wunderbar schrulliges Duo aus Vater und Sohn einen liebevollen kleinen Udonimbiss improvisiert hat, in dem sie den Nudelteig noch mit den Füßen kneten.

Das ist nicht mehr so. Es gibt nicht nur jede Menge Hinweisschilder, nein, es gibt sogar einen großangelegten Parkplatz und auf irgendwelchen Steinen zwischen den Feldern verzehrt man seine Udon auch nicht mehr, dafür wurde eine Halle mit zahlreichen Tischen und Stühlen errichtet. Man muss dem Fakt ins Auge sehen, dass Murakami mit seinem Im Reich der Udon nicht ganz unschuldig an der Wandlung dieses kagawaer Delfinhotels ist.

Aber die Udon sind immer noch göttlich.

Im Waschsalon. Rechts neben mir der Eingang. Links in der Ecke die Trockner. An der gegenüberliegenden Wand die Waschmaschinen. Dazwischen die Tische. Eine Frau kommt mit einem Korb Wäsche hinein, läuft rechts lang, dann an den Waschmaschinen vorbei und dann zurück zu den Trocknern links. Und als sie alles reingestopft hat wieder den gleichen Bogen hinaus. Die einzige Erklärung bin ich. Ich muss auch im Sitzen einen arg angeschlagenen Eindruck machen. Aber gerade deswegen bin ich doch heute harmlos!

Humpel abends noch bis zum Utangura. Dort gibt es Unterkunft, Bad und Frühstück für tausend Yen.

 

85Der Berg heißt wirklich so.

 

 

 

 

Tempel 78

 

Am Morgen merke ich doch, dass ich die gestrigen Schmerzen doch unterschätzt habe. Humpeln zum Goldturm, er ist die strahlende Stehle der Einhörnchen. Sinnestäuschungen. Da hüpfen sie über die Wiesen, die goldenen Einhörnchen. Vergraben im Apfelwäldchen saftige Vorräte für den langen Winter. Ihren goldener, buschiger Schwanz stolz in den Himmel gereckt, sich mit dem Haupt flink mal nach hier, mal nach dort wendend, wetzen sie in großen Sprüngen durchs Gras um den goldenen Baum ihrer verhießenen Ewigkeit.

Was ist es, das sie antreibt? Ist es der große schwarze Tengu, der mit der gebieterischen Selbstgefälligkeit eines japanischen Ministerpräsidenten oben auf der Stele thront? Die Krähen als seine tausend Augen und treuen Spitzel übers Land schickend? Ist es der Wunsch zu leben, trotz des unweigerlichen schwarzen Endes im weißen Winter?

In meinen vollgekritzelten Seiten findet sich der Satz „Murakamis extreme Selbstabschottung in eine wertelose Einhörnchenwelt“. Der Mensch beherrscht vom goldenen Einhörnchen, die selbst leiden, sich quälen und opfern und ihn doch gleichzeitig beherrschen.. Ist es das, was Murakami meinte, als er von diffuser werdenden Formen der Macht sprach, die nichtsdestotrotz Macht in all ihrer Brutalität darstellt? Ohne jedes Zweckversprechen in reiner Form maßloser Verschleuderung von Volksvermögen stand dieser leere Einhörnchenturm in der Welt. Es gab in ihm keine Stockwerke oder andere nennenswerte Nutzflächen, er bestand nur aus diesem langen Goldglasbauklotz, der in völliger Sinnlosigkeit inhaltsleer im wörtlichen Sinne war.

Murakamis Einhornwelt strahlt dieses tiefe Gefühl der Geborgenheit aus, wie Mauern, aller Verteufelung zum Trotz, immer ein Gefühl von Sicherheit und Wärme vermitteln. Die Mauer hinterm Görlitzer Bahnhof, vor der wir gespielt haben, manche beschimpfen sie noch heute als „Todesstreifen“, doch für uns in Westberlin war sie, auch wenn wir sie nie so nannten, wirklich ein gefühlter Schutzwall.

In meiner Kindheit wimmelte es in Berlin von Freiräumen, Räume, die die Menschen nutzten. Nutzten für kleine Bauernhöfe, große Skulpturen, kleine Bars und große Konzerte. Das alles ist Vergangenheit. Es gibt noch die Parks, in denen man Biertrinken und Grillen kann, aber die Straßen wurden dem Menschen seit dem Mauerfall vom Auto geraubt, die „Brachflächen“ vom Spekulanten. Paris, mit seiner völlig totspekulierten Innenstadt, ist das was droht. Hier in Japan gab es in den letzten tausend Jahren nie selbstbestimmte Lebensansätze oder Freiräume dieser Art und daher wissen die Menschen auch nicht, dass es anders geht..

Doch ein bisschen glich Japan dem untergegangenen Paradies Westberlin, diesem abgeschlossenen Traum absoluter Geborgenheit, bis auf die fehlenden Freiheiten. „Müh dich zu mir herunter großer Tengu, siehe dass alle Menschen hier genauso klug sind wie du, dass sie dir dankbar sind, wenn du sie schützt oder zumindest ihren Schutz organisierst, doch du kein Recht hast sie zu entmündigen.“ Aber das eine geht wohl nicht ohne das andere. Die Menschen duldeten ihn, den großen Tengu, weil er ihnen zwar alle Freiheiten nahm, ihnen aber das große Versprechen gab: Schutz.

Das was Westberlin seine Geborgenheit verschaffte war ja auch nicht das individualistische System des Westens, sondern das es umgebende paternalistische System des Ostens. Setzt man die Verkehrstoten seit dem Mauerfall in Relation zu den Mauertoten, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Mauer das kleinere Übel war, so man sie überhaupt als Übel zu identifizieren hat. In gewisser Weise schmarotzte Westberlin am DDR=System mit. Danke für die schöne Zeit liebe DDR.

Zurück nach Marugame. Die Herberge hier gibt sich preislich zunächst moderat, doch wollen sie dann für jedes Duschen fünfhundert Yen haben. Ich würde mich nicht beschweren, wenn sie sie gleich auf den Übernachtungspreis aufgeschlagen hätten, aber so ist das hinterhältig. Mal sehen, wie lange sie mich ungeduscht ertragen.. Außerdem sind alle Lampen viel zu schwach, sodass man immer im halbdunkeln sitzt und es gibt ausschließlich Milchglasscheiben.. Sie ist eine der deprimierendsten Orte, an denen ich je gewesen bin. Hätte ich die Muskelprobleme nicht irgendwo anders bekommen können? Irgendwo.. Mit untergeschlagenen Läufen setzt sich der Versehrte in die Herbergsecke und nickt ein.

 

Sitze den zweiten Tag fest. Die Herberge hat leider auch weder Rechner noch Fernseher. Die Frau empfiehlt die Bücherei, doch das lassen die Schmerzen nicht zu. Trinke Whiskey, lese Murakami, lausche dem Rattern der Züge und hänge meinen eigenen alten Träumen nach, auch ohne Bücherei.

Der Osettai=Milchtee von gestern, mit dem ich den Whiskey mische, trägt stolz die Aufschrift „seit 1986“, was ich etwas kindisch finde. Vielleicht habe ich auch selbst inzwischen ein stolzes Alter erreicht und bin zu kindisch es mir einzugestehen

 

Auch am dritten Tag bin ich der einzige Gast in der Herberge. Vielleicht ist die Sache mit den hinterhältigen Duschgebühren eine schlichte Verzweiflungstat. Bekomme Mitleid, entrichte fünfhundert Yen und gehe duschen.

 

Humpeln hin humpeln her, ich will weiter. Ein Berg bei der Brücke. Blicke hinunter. Wie Shikoku entstand.. Am Ende der letzten Eiszeit stieg das Meer die Täler des Bunyo=Flusssystems, das westlich des heutigen Shikoku ins Meer mündete und des Kitan=Flusssystems, das östlich lag, empor, überschritt hier die Wasserscheide zwischen ihnen und umschloss so die Landmasse, die wir heute Shikoku nennen.

Eine Brücke ist eine Brücke, ist eine Brücke, ist eine Brücke. Als man 1988 dieses Monsterbauwerk hier quer über den damals, laut alter Reiseführer, schönsten Teil der Inlandssee schlug, so geschah das im Namen des Fortschritts, doch die Welt schreitet weiter fort und das Bauwerk bleibt stehen und erschlägt alles in seiner Nähe durch seine schiere Größe. Gut. Durch das Ding wurde das Bahnnetz Shikokus an den Rest Japans angebunden, es selbst aber nicht ausgebaut und so mündet eine zweigleisige Bahntrasse in ein Netz, das, bis auf den kurzen Abschnitt Takamatsu=Takotsu, durchweg eingleisig ist. Großzügig hat man auf der Brücke auch noch Platz für eine zukünftige Hochgeschwindigkeitstrasse gelassen, deren Erwarten aber wohl nur dazu geführt hat, den Rest des Netzes Shikokus völlig vor die Hunde gehen zu lassen. Es ist keine reine Schildbürgerbrücke, es ergab, rein wirtschaftlich betrachtet, durchaus Sinn, eine Brücke hier an der engsten Stelle der Inlandssee zu errichten, doch wozu hat man dann noch die anderen beiden gebaut? Und wenn man die anderen beiden teureren aber verkehrstechnisch besser gelegenen Brücken eh bauen wollte, warum hat man sich diese dann nicht gespart? Und warum hat man auf der Awadshi=Brücke keine Bahntrasse gebaut? Will man von Tokushima nach Ōsaka so muss man über diese Brücke hier mit dem Zug einen riesigen Umweg fahren.. Ja, schon Murakami kam der Brückenwahn überdimensioniert und albern vor, dem allmächtigen Tengu aber wohl nicht. Diese Brücken sind ein bisschen der japanische Donau=Main=Kanal oder Ostseeautobahn oder Elbphilharmonie oder.. Schildburg ist überall.

Sakaide verfügte über eine kleine Privatbücherei, jetzt ist sie ein Museum, von der es heißt, sie wäre das Vorbild für die Bücherei in Kafka am Strand gewesen, da sie die einzige Privatbücherei Shikokus ist. Murakami hat das bestritten. Bin ein bisschen geneigt ihm zu glauben, nicht dass Murakami in all seinen Aussage immer über das Maß glaubwürdig wäre, doch könnte ich jetzt spontan auch nicht sagen, wie viele Privatbüchereien es in Mecklenburg=Vorpommern gibt oder ob überhaupt und beim Gang durch das Gebäude kann ich keine Ähnlichkeiten zur in Kafka am Strand beschriebenen entdecken. Etwas enttäuscht zieh ich zur städtischen Bücherei weiter, sie ist nach der Brücke von vorhin benannt! Man benennt hier Büchereien nach Autobahnbrücken! Nein, nein, nein Sakaide, mit dem Einwurf, dass auch Züge drüber fahren kommst du mir nicht davon! Wie kann man einen heiligen Tempel des Wissens nach einer Straßen= oder meinetwegen auch Eisenbahnbrücke benennen? Wenn dieses Buch in den Druck geht will ich nicht, dass auch nur ein Exemplar an euch ausgeliefert wird!

 

 

 

 

Tempel 79

 

Gamōudon, der vierte Laden Im Reich der Udon, wo Murakami eine Schale dieser saftigen Loreleistränen, dieses nudelgewordene Göttergolds schlürfend über die reifen, sich im Wind wiegenden Ähren der Reisfelder blickt und vor Entzückung spontan anfängt Modemarken und Zeitschriftennamen aufzuzählen. Die Reisfelder liegen heute unter einem ausladenden Parkplatz und wenn man sich hinsetzen wollte um genauso kontemplativ beim Mampfen die parkenden Autos zu betrachten, so müsste man sie doch mit einer riesigen Menschentraube abfinden, auf Murakamis Skizze befinden sich gerade mal zwei Menschen, die diesen winzigen Imbiss belagert. Allein die Schlange beträgt mehr als dreißig Meter.

In den Reiseführern über Asien heißt es immer, man solle sich da anstellen, wo die Schlange am längsten ist, denn die Leute wüssten schon, was sie tun, doch wenn alle nach diesem Schema verführen, so sagt die Schlange doch nur etwas über den Grad ihrer Verführtheit aus. Ich war nie ein Freund des Herdentriebs, trotzdem stelle ich mich, Murakami zuliebe, an. Frei nach dem Motto: Stell dich nicht so an und stell dich an, dann stellt man dich vielleicht auch an. Zeit zum Kalauern beim Warten bleibt mir mehr als genug. Es hatte mich schon so viel Überwindung gekostet, bei Nakamura=Udon, im alten Hühnerstall, nicht zur Feder zu greifen und auf das Hardboiled=Wonderland=und=das=Ende=der=Welt=Zitat „In meinem Kopf ging es zu wie in einem Hühnerstall am frühen Morgen.“86 zu verzichten, es wäre wohl ein zu hanebüchener hybrischer Höhenflug gewesen und der Lektor hätte mich wohl dafür geteert und gefedert. Schluss mit diesem Eiertanz, ich komme dran..

Sitze auf der Bank und schlürfe eine große Schale Udon. Sehr lecker. Die kollektive Intelligenz siegt über mich egozentrischen Stümper.

Weiter zum einen Udonschalenwurf entfernten Yamashitaudon, Laden Nummer Drei Im Reich der Udon. Große Schilder an der Bundesstraße kündigen ihn an. Ja, Murakami war damals beeindruckt gewesen, dass auch dieser etwas versteckt liegende Laden völlig schilderlos, nicht mal am Laden selbst soll es ein Schild gegeben haben, ausgekommen war, inzwischen prangt eine riesige Hinweistafel an der Straße.. (der Weg zu Gamōudon war auch heute nicht ausgeschildert) Die Dreitamaschale, ein Tama, also „Ball“, ist ein Udonknäul, das Maß der Dinge in Kagawa, ist hier zwar fünfzig Yen teurer als bei Gamō, aber die Portionen scheint mir auch doppelt so groß zu sein. Das Kagawa=Udonmaß ist wohl nicht geeicht. Bei Gamō waren die Nudeln weicher, dafür war die Suppe dünner, hier sind die Nudeln etwas alldente und könnten mehr Salz vertragen, dafür ist die Brühe jedoch besser. Aber wie mans auch wendet, beide sind verdammt gut.

Beinschmerzen. Setze mich hinter den Udonladen an den Fluss und lese bis es dunkel wird. Dann baue ich mein Zelt auf.

 

86Haruki Murakami Hardboiled Wonderland und das Ende der Welt, Suhrkamp=Verlag, Frankfurt=Main 2000, S.403

 

 

 

 

Tempel 80

 

..hat wieder einen Mini=Achtundachtzigweg, doch jetzt könnt ihr mich nicht mehr demotivieren! Ich schaff den Weg trotz eurer perfiden Verführungen!

Aufstieg in die Wolkenwelt. Ich bin versucht in eine pathetische Ende=Sprache zu verfallen, doch ist das nötig? Die Gefahr ins Alberne abzugleiten ist dabei immer groß. Vielleicht sollte ich Märchen schreiben. Man läuft von unten die Bergwand hoch und plötzlich ist man in den Wolken. Eine verwunschene Welt mit Fee und Gesocks, aber wahr! Sichtweite zehn Meter. Kein Wind. Kein Ton. Für Stunden laufe ich für mich.

Ende. Ende. Ende. Ende hat ja aus tiefster Seele gegen Brecht gewettert.. und Brecht hat ja in vielen seiner Stücke mit Becher zusammengearbeitet.. und Becher hat ja Majakowski ins Deutsche übersetzt.. und Majakowski hat ja den Matrosenaufstand in Odessa bedichtet.. und Eisenstein hat ja diesen Aufstand verfilmt, war aber später in Ungnade gefallen.. und auch Tarkowski war später in Ungnade gefallen und ins schwedische Exil gegangen.. und die Ärzte haben ja ein Lied über Schweden gemacht.. und in zwei Liedern der Ärzte, „Buddy Holly“ und „Eva Braun“, haben sie Nase auf Ekstase gereimt.. und es ist unklar ob Eva Braun und Hitler je miteinander geschlafen haben.. aber sollte man deswegen wirklich Ende mit Hitler gleichsetzen?

Die allgegenwärtigen albernen Allmachtsfantasien (Ja, ja, der Pekinger Punkerpudel lässt grüßen.. Es macht einfach Spaß so etwas zu erschaffen) in Endes Geschichten machen sie doch recht beliebig. Der Mensch wächst, indem er sich an den materiellen Faktoren gesundstößt und so das Reich des Möglichen auslotet. Wäre alles nur, wie bei Ende, Willkür, würde er als Mensch zwangsläufig scheitern. Ohne das Unmögliche, also die Möglichkeit des Misserfolgs, auch kein Erfolg und das ist das Langweilige bei Ende. Ende.

Nebel. Tapse allein durch die Traumwelt.

 

 

 

 

Tempel 81

 

Irgendwann taucht aus dem Nebelnichts ein Udonladen auf. Ich setze mich hinein und rufe ein „Sumimasen“, doch die Besitzerin hinter der Theke kuckt mich nur kurz an und macht dann weiter, was sie halt gerade macht. Gut. Ich habe Zeit und keinen Grund die alte Frau zu hetzen. Als ich verträumt dem Nebel vor dem Fenster beim Vorsichhinsuppen zusehe, steht da auf einmal eine Schale Udon vor mir. Mit himmlisch leckeren Pilzen. Versuche sie so bedächtig zu essen, wie der Hunger es zulässt. Als ich fertig bin bestelle ich noch einen Nachschlag, das heißt, ich warte bis sie zufällig in meine Richtung schaut, halte mit meiner Rechten die leere Schüssel hoch und zeige mit dem linken Zeigefinger hinein. Ein Lächeln. Sie hat mich verstanden. Die Pilze sind ein Götteressen, denn durch sie wird man zum Gott. Nach dem Nachschlag frage ich beim bezahlen nach der Art der Pilze, doch auch jetzt werde ich nur lächelnd angeschwiegen.

Das Nebelmeer verfinstert sich. Der Abend bricht über mich herein, ohne dass ich ihn an diesem sonnenlosen Tag hätte vorhersehen können. Verunsichert stakse ich durchs dunkle Unterholz, da erscheint aus dem nichts eine Henrohütte. Danke Kōbō.

 

Strahlender Sonnenschein. Ich wache in einer völlig anderen Welt auf. Das kann einfach nicht der Platz sein, an dem ich gestern einschlief. Trockene, kahle Bäume durchsetzt mit zartem Frühlingsgrün. Eine scharfe Wintersonne an einem klaren, wolkenlosen, hellblauen Himmel. War das alles wahr?

 

 

 

 

Tempel 82

 

Durch den Frühling den Berg hinunter nach Kina, einem Zentrum der Gartenbaukunst im Allgemeinen und der Bonsai=Zucht im Besonderen. Als Riese durch die Reihen der Zwergbäume laufen. Wirklichkeitsferne. Kina preist sich als größtes Bonsai=Zentrum der Welt, wie auch Kagawa sich der größten Udonladendichte der Welt rühmt. Beides ist von ihnen halbwegs ernst gemeint..

Es heißt auch, in Kagawa gäbe es mehr Udonläden als Ampeln. Humpelnd, wie ich es immer noch muss, sind die Straßen tatsächlich kaum zu überqueren. Kagawa ist der kleinste Verwaltungsbezirk Japans, hat dafür aber die höchste Unfallrate. Man möchte fast meinen, dass sie, im Fußballdeutsch würde man sie wohl die Iraner Shikokus nennen, das absichtlich so arrangiert haben, um meckernden Mathematikmuffeln das Ausrechnen des Verkehrstoten=Einwohner=Verhältnisses zu ersparen. Spaßbeiseite: rund und die Hälfte aller Verkehrstoten in Japan sind Fußgänger.

In einem Laden gibt es schwarze Udon. Schwarze Udon. Wir essen sie morgens. Wir essen sie abends.

 

 

 

 

Tempel 83

 

Kurz hinter Dreiundachtzig liegt ein kunterbunter Großschrein, eine Art ultranationalistisches Disneyland mit Riesen=Tori, Kaiserhonigkuchenpferdeskulpturen, wehendem Sonnenbanner und einer Kamikadse=Gedenkstätte. Man gedenkt hier, auf dem halben Weg zwischen grünem Fruchtbarkeitspenis und Coca=Cola=Automaten, ihrer natürlich als Helden, die sich für Kaiser und Vaterland opferten, nicht als Opfer, die von einem verbrecherischen System in den Selbstmord getrieben wurden – wer, außer ein paar linken Spinnern, käme denn auf so abwegige Gedanken? Die Rotorblätter des Kamikadsedenkmals lassen sich drehen und ich kann es nicht lassen. Für zehn Minuten vergesse ich den Schallplattenstein und gebe mich ganz dem kindischen Vergnügen hin.

Erstaunlich ist, wie man sich hier, mit einem Riesendrachen, Tierkreiszeichen und anderem Schnickschnack, an diesem vaterländisch aufgeblasenem Ort chinesischer Symbolik bedient. Gut, fast alles am Shintō ist chinesisch, aber zumindest bei diesen Symbolen sollte doch selbst dem ignorantesten Patrioten ein Licht aufgehen. Vielleicht sind gerade diese Zutaten auch ein ironisches Augenzwinkern.

Ein kleiner Hain hinter dem Großschrein. Hier muss er liegen, der Schallplattenstein, doch das Wäldchen ist abgeriegelt. Es soll nicht sein.

Die Figuren des Kamikadsedenkmals bringen mich zum Grübeln. Es gibt durchaus auch einsfünfziggroße Japaner (die Holzfällerin zum Beispiel), doch entsprechen ihre Proportionen dem nicht, sie sollen wohl einsneunziggroße Leute verkörpern, die entsprechend verkleinert wurden, sind also nicht wirklich „lebensgroß“.. Da der Unterschied aber zu gering ist, fällt diese Absicht kaum auf, die Figuren wirken einfach nur seltsam verzerrt. Murakami hat dieses Bild der widerverhältnismäßigen Körperverzerrung der kleinen Götter, die ihm in seinen Romanen immer wieder mal gerne etwas mitspielen, in verschiedenen Formen aufgegriffen und ich habe heute ihren Ursprung entdeckt. Weiter.

Komme an einen Landschaftsgarten. Durchs Wintergrau platzt der Frühling, sprengt das Grün ein als hätte sich die trockene Winterhaut zusammengezogen und wäre nun überall aufgeplatzt, als häute sich hier die große Echse Kagawa.

Vor dem Dunkelblauen Abendhimmel heben sich die noch dunkleren großen Vierecke, die überzogen werden von kleinen leuchtenden Vierecken, in einem in sich ruhenden Durcheinander ab. Der nächtliche Lichterwald der schwarzen Riesen strahlt endlose Ruhe aus. Die Stadtlandschaft als Steingarten, Wirrwarr und Ordnung in einem. Aphex Twin auf den Ohren.

 

Takamatsu. Was für eine Stadt. Der Nudelladen neben der Herberge macht jeden Morgen um Sechs auf. Gibt es eine schönere Art den Tag zu beginnen als mit einer Schüssel Udon? Aus der Herberge in Marugame war ich geflohen, weil ich sonst dort an ernsthaften Depressionen erkrankt wäre. Die Herberge Wakabaya hier ist der totale Gegensatz. Nicht nur, dass es einen Gemeinschaftsraum mit Kochnische gibt und eine Waschmaschine zu hundert Yen. Der Besitzer hat sogar meine Wäsche nach innen getragen und aufgehangen, als es draußen geregnet hat und ich Udon essen war. Duschen ist im Preis inbegriffen und es gibt sogar Handtücher. Alles ist hell und freundlich, ein öffentlicher Computer steht zur Verfügung und der Besitzer ist so lieb und sucht einen alle möglichen Verbindungen raus, stellt sie zu Listen zusammen und druckt sie aus ohne, dass man darum bitten muss. Ich möchte hier gar nicht mehr weg.

 

Morgens durch die Stadt zum Hafen laufen. In einem Udon=Laden am Bahnhof frühstücken mit Blick auf die Hafenkräne. Frage beim Fremdenverkehrsamt nebenan nach der Komura=Gedächtnisbücherei. Die Frau hinterm Pult tippt etwas, kuckt auf ihren Bildschirm und sagt dann trocken, dass sie keine Bücherei dieses Namens finden könne. Sie hat Kafka am Strand wohl nicht gelesen.

Der Hafen. Der Hafen ist ein gutes Beispiel dafür, wie Japan die Achtziger Jahre, das japanische Jahrzehnt, in die Neunziger verlängert hat. Das Ende von Bretton=Woods und die Aufwertung des Yen brachten in den Achtzigern einen Spekulationsboom sonder Gleichen. Dies wuchs sich in der Gestaltung des öffentlichen Raumes in Form der zeittypischen Glitzer=Chrom=Kunst aus, die jede Form von Bedeutung und jede deutbare Form als ideologisch ablehnte und sich ganz der Sinnlosigkeit als Selbstzweck verschrieb. In Deutschland ist das meiste aus dieser Zeit inzwischen Wandalismus und besserem Geschmack zum Opfer gefallen. Wer sich an die öffentlichen Skulpturen der Achtziger erinnern will, der hat sie nie gesehen. Anfang der Neunziger platzte die Blase und die Regierung versuchte mit riesigen Investitionsprogrammen der Krise Herr zu werden, dass diese aber keine nachhaltige Entwicklung brachten, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass alles, was im öffentlichen Raum neu gebaut wurde, weiterhin in seiner Ausformung der Ideologie der Achtziger verhaftet blieb und keinerlei Neuerungen zeigte. Das ist Takamatsu, eine Stadt in den Achtzigern, eine Murakami=Stadt.

Auf der Betonkante in der Sonne sitzen. Die Wellen unter sich schwappen lassen. Lesen.

Malerisch eingerahmt von den Mauerresten der alten Burg liegt der kleine Kopfbahnhof der Kotoden. Steige in eine der S=Bahnen und fahre zwanzig Minuten, dann steige ich aus. Häuser im alten Stil, wie sie Murakami beschrieben hat, doch von einer Komura=Gedächtnisbücherei ist nichts zu finden, dafür finde ich Kubo=Udon, den letzten der murakamischen Nudelläden Im Reich der Udon. Hinein. Ein androgyn wirkender Mensch reicht mir die Schale. Murakami sprach davon, bei Kubo=Udon die Teigstreifen durch einen möglichst abgebrüht=kaltschnäuzigen Verzehr zu würdigen. Udon ist Hingabe, Selbstaufgabe und Begabung in einem. Die Götter, die sie einem herabreichen kümmern sich nicht um deine Meinung. Iss und sei glücklich.

Ja, die Bücherei.. Hier zählt Murakami lauter japanische Autoren auf, außer natürlich Ōe, der Kosmopolit oder „Amerikaner“ verwandelt sich in eine Art Heimatbarden hier. Muss an Santōka denken. Als Wandermönch zog er saufend und dichtend ziellos durch die Gegend, auf der Suche nach und auf der Flucht vor dem Tod zugleich. Er war kein großer Sprachtechniker, seine Gedichte waren keine durchgeordneter Gärten, denen jede Natürlichkeit fehlte, das, was er schrieb, glich eher einem wilden urwüchsigen Dickicht, einem Wald der noch nie eine Axt sah. Esse meine Udon auf und schlendere durch den Abend. „Höre die Stimme der finsteren Berge..“ Nein, so geht es nicht. Santōkas Gedichte sind viel trockener und natürlicher. Egal wie oft ich schon versuchte sie einigermaßen annehmbar ins Deutsche zu übertragen, zufrieden wurde ich nie.

Es war bereits Nacht und die Sterne hoben sich schwach gegen das Ablicht der Stadt ab, als ich auf meine S=Bahn zurück zur Herberge wartete. Shikoku war mein Kreta, ich lief auf etwas Unbekanntes zu und vor etwas Unbekanntem weg. Murakami als thrakische, sternebetrachtende Magd unten im Brunnen wartend. Als aufsässige Jugendliche, die sich gegen die Gesetze auflehnt und der es im Traum nicht einfiele, die Feste der Flötenspieler und dergleichen zu besuchen, ist es recht ihr den Schläger zurückzugeben? Nun, die thrakische Magd wartet nicht, sie handelt, sie erschlägt Wataya und bringt so das Wasser wieder zum fließen – sie sprach das undenkbare und dachte das unaussprechliche. Eine unscharfe Wut durchfloss meinen Körper und verließ ihn wieder. Hierher nach Takamatsu war Kumiko geflohen.

Schwankend zuckelte die Bahn durch die Nacht. Manchmal beschlich einem bei solchen Fahrten das Gefühl, als säße man in einem U=Boot oder als sei die Welt da draußen ein Aquarium, dessen Wasserströme an einem vorbeizogen. Die Welt der nächtlichen Leuchtquallen..

Murakamis Abscheu vor Quallen lässt sich leicht als Sinnbild für die Ablehnung des Kaiserhauses lesen, der Zweiterweltkriegskaiser wird in der japanischen Nachkriegsgeschichtsschreibung immer als hingebungsvoller Quallenforscher dargestellt, der in seinem Arbeitseifer vom Krieg fast nichts mitbekam, doch ist sie wirklich so gemeint? Nächtelanges Grübeln und Erörtern mit Freunden hat zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Takamatsu ist bekannt dafür, dass hier vor fast tausend Jahren einem Kaiser der Gar ausgemacht wurde. Ist es Zufall, dass Kumiko ausgerechnet in diese Stadt flieht? Hier kommt wieder die Sache mit Murakamis gesellschaftlicher Unschärfe zum Tragen. Es liegt nahe, dass hier eine dumpfe Abscheu vor dem Kaiserhaus und der sich auf es berufenden Eliten durschlägt, Murakami findet aber nicht die Kraft, sie in klarer Form ausbrechen zu lassen. Verloren in der Nachtwelt. Verlust des Zeitgefühls. Die Türen sind auf. Endstation. Ich habe meinen Bahnhof verpasst.

Nachts auf dem grell ausgeleuchteten Bahnsteig stehen. Dahinter das schwarze Nichts. Als der Aufziehvogel von der Untergrund=Kumiko aufgefordert wurde seine Umgebung genauer zu betrachten, nahm er sie als kalt wahr. Blicke mich um. Müde Gesichter, Menschen, die von der Arbeit nach Hause fahren. Irgendwie schienen alle etwas zu dünn angezogen für den kühlen Abend. Naja, für den Weg von der Arbeit zur Bahn und von der Bahn nach Hause ging das wohl. Gern würde ich sie mit Fragen über ihr Leben überfallen, doch das würden die meisten wohl als belästigend empfinden. Ich würde es. Die S=Bahnzüge Takamatsus haben etwas niedliches. Rund und dick schaukeln sie durch die Stadt, wie durch einen Kinderfilm. Ich weiß nicht, ob ich das alles für echt halten soll, wie unser Aufziehvogel, oder schon die Fähigkeit verloren habe zu scheiden zwischen Wahn und Wirklichkeit, wie Kumiko. Wurde Shikoku nur für mich geschaffen? Nicht zum ersten Mal auf diesem Weg will das egozentrische Kind in mir wieder haraus. Bin da. Mit einer Dose Bier in der Hand laufe ich noch ein bisschen durch die Nacht.

 

Morgens eine Dreitamaschale Kimtschi=Udon. Was Platon? „Das Maß aller Dinge ist das Schwein oder der Affe“?87 Das Maß aller Dinge ist das Tama, der kagawaer Udon=Knäul! Satt und glücklich in den Morgen. Einen kleinen Fluss entlang und dann sieht man auch schon in der Ferne das nächste Ziel, den Yashima=Tafelberg.

 

87Platon Theaitetos, in Platon 4, Rowohlt=Verlag, Hamburg 1958, S.127

 

 

 

 

Tempel 84

 

Wie eine große Udonschale erhebt sich der Yashima=Tafelberg östlich über Takamatsu. Naja. Vielleicht nicht ganz wie eine Udonschale, aber immerhin ist der Berg oben flach und seine bewaldeten Hänge gleichen der dunklen Maserung der Holzschalen, in denen die Udon einem meist gereicht werden.

Wenn man Yashima als große Udonschale begreift und die Lavaströme, die dieses kleine Massiv formten als die quirligen, saftigen Udon selbst, dann ist Vierundachtzig wohl das Tempura, das frittierte Stück Gemüse oder Fisch, mit dem die Leute hier gerne ihre Nudeln essen, obenauf.

Ja, ich habe Hunger. Auf der Suche nach einem Udonladen umrunde ich das Plateau, finde nicht, was ich suche, dafür aber eine alte Seilbahnstation im Stil der japanischen Moderne. Ihre Fassade ist fast noch im Original erhalten, bis, ja, bis auf die Treppe, die anscheinend in späteren Jahren asymmetrisch quer in senkrechte Fensterreihen geschlagen wurde. Von einem Banausen oder jemandem, der das architektonische Erbe absichtlich schänden wollte. Vielleicht hatte ihm der Architekt die Freundin ausgespannt. Inzwischen ist die Seilbahn pleite. Wer will auch bei jeder Fahrt sehen, wie beklagenswert dieses wunderschöne Gebäude misshandelt wurde.

Im Tempel steht eine Kannon=Figur,88 die Kōbō angeblich selbst mit seinen Fingernägeln geschnitzt haben soll. Stelle mir Kōbō mit langen Nuttennägeln vor. Vielleicht doch etwas respektlos. Vergib mir Kōbō.

Ein letzter Blick auf Takamatsu. Durch den Regendunst fällt das Licht aus den Wolkenlücken tatsächlich als Strahl, als breiter Kegel hinunter, als wenn sie versuchten den dicken Udon=Dachs, der wie ein steingewordener junger Nudelgott kugelrund, sich glücklich den vollen Bauch haltend, im Stadtpark von Takamatsu liegt, hinaufzubeamen in ihr Raumschiff. Ein Fall für Däniken. Am Tempel steht auch ein Tanuki=Schrein. Verneige mich und bete, dass mir die Udon=Götter auch weiter wohlgesonnen sein mögen.

 

88Buddhistische Barmherzigkeitsgöttin, deren Verehrung starke Ähnlichkeit zum Marienkult im Katholizismus aufweist.

 

 

 

 

Tempel 85

 

Vom kalten Wind gepeinigt sehne ich mich nach einem Scheißhaus mit beheizter Klobrille. Ja, man kann sich an diesen Luxus gewöhnen. Doch bei Fünfundachtzig gibt es beheizte Sitze nur auf den Frauenklos. Alles in mir lehnt sich gegen diese sexistische Benachteiligung auf und da weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist, ignoriere ich den Toilettenbann – mein Arsch wird es mir danken. Die Knöpfe mit den Plätschergeräuschen, die die Frauen davon abhalten sollen, ununterbrochen zu spülen um ihre eigenen Pissgeräusche zu übertönen, dürften inzwischen auch dem gemeinen Mitteleuropäer geläufig sein. Ich habe mich immer gefragt worin der Sinn liegen soll, ein Plätschergeräusch durch ein anderes zu überdecken.. Sicherlich, die einen Plätschergeräusche sind lauter als die anderen, aber würde das beim Wartenden nicht eher die Sorge auslösen, dass die Partnerin gerade völlig dehydriert? Wie viele Jungs mögen schon das Weite gesucht haben im Grauen vor dem zusammengeschrumpelten Etwas, was dort gleich herauskriechen würde? Ist das vielleicht die eigentliche Ursache des Geburtenrückgangs? Ich kann es jetzt nicht sagen, aber es wäre ein schönes Thema für eine Feldstudie. Exzellenzinitiative übernehmen sie!

Etwas anderes fällt mir ins Auge: Die Frau, die auf dem Aufkleber mit der Linken den Geräuschknopf drückt, hält in der Rechten ein Buch. Multitasking. Naja, wenigstens isst sie nicht auch noch gleichzeitig. Was mag sie lesen? Feuchtgebiete? Den Gilgameschepos? Eine Abhandlung über den Dreischluchtenstaudamm?

 

 

 

 

Tempel 86

 

..steht in einem großen, halbwilden Garten, der gerade weil sich niemand um ihn kümmert, so unendlich lebendig wirkt. Die durch und durch künstlichen Gärten, die man sonst so sieht, sind durchaus schön, doch es sind bezwungene Schönheiten, die sich kraftlos ergeben haben.

Dieser Tempel nimmt für sich in Anspruch der Ahnentempel Emmas, einer Art buddhistischen Hades, zu sein. Ihn umgibt eine etwas wirre Geschichte: Ein heiliger Baum wurde am Biwa=See entwurzelt und trieb erst mal eine Weile in ihm herum, bis die Bauern begannen ihn für gewöhnliche Zwecke zu missbrauchen woraufhin zahlreiche Brände und Epidemien das Land heimsuchten, sodass sie von nun an den Baum in Ruhe ließen und ihn nicht weiter beschnitten. Dann ging es weiter über Flüsse und übers Meer, wo er wieder mehrere Jahrzehnte vorsichhintrieb und schließlich hier angespült wurde, wo eine Nonne namens Sonogo sich seiner annahm. Nach weiterem verzwickten Verwicklungen nahm Emma die Sache in die Hand und schnitzte aus dem Stamm die elfköpfige Kannon=Figur, für die der Tempel heute berühmt ist..

Der Wind ist böse. Ich muss mich bewegen. Entschuldigung Emma, mein Aufenthalt war kurz und mein Aufbruch überhastet.

Es wird Abend. Schlage mein Zelt in Sichtweite eines Kofun=Grabhügels an einem kleinen Bach auf einem Damm zwischen abgeernteten Feldern auf. Schluss für heute.

Die Kofun=Zeit. In der Tennō=Invasion, benannt nach der durch sie eingeleiteten Entwicklung zum Kaiserstaat, erobert um das Jahr 300 ein reitendes Steppenvolk die Yayoi=Kultur und unterwirft die sesshafte Bevölkerung. Die Befestigungsanlagen der Yayoizeit, die tatsächlich nur noch symbolischen Charakter trugen verschwinden (der Vergleich zur Schleifung der Burgen durch Mēdshiler drängt sich auf) und es entstehen stark befestigte Herrschaftssitze außerhalb der Siedlungen. Typische Invasionssymptome. Auch scheinen die Invasoren den Taoismus, der später zum „Shintō“ mutieren sollte, als neue Herrschaftsideologie mitgebracht zu haben und die Bevölkerung war gezwungen ihre alten heiligen Ritualgegenstände, wie die Bronzeglocken, vor ihnen zu verstecken. In der Yayoizeit scheint es, wenn überhaupt, nur sehr gering ausgeprägte Hierarchien gegeben zu haben, doch jetzt lassen sich die Eroberer von der versklavten Bevölkerung für sich überall im Land riesige Grabhügel errichten, mit denen sie ihren Machtanspruch zur Schau stellten. Die Vielzahl der verschiedenen Großgräber spricht dabei für eine hohe Anzahl kleinster Herrschaftsgebiete, die miteinander im Wettbewerb stehen und nicht für einen, von den Mēdshi=Ideologen später herbeifantasierten, „Yamato“=Zentralstaat. Nicht, dass die neuen Herrscher sich nicht untereinander bekriegten, doch für den Sprung zur Staatlichkeit fehlt ihnen ein zentrales Werkzeug: Die Schrift.

Die Asuka=Zeit von 552 bis 710. Die Asukazeit dürfte für den Großteil der Bevölkerung überhaupt keinen Unterschied zur Kofunzeit gemacht haben. Der Unterschied zur Kofunzeit besteht darin, dass durch die von buddhistischen Mönchen gebrachte Schrift nun einzelne Klans nicht nur ihre Gebiete ausweiten, sondern die eroberten Gebiete auch halten konnten. Die alten Schamanenhäuptlinge wurden nun zu untergeordneten Gebietsverwaltern und der oberste von ihnen zum Tennō, der in Asuka, der Hauptstadt des ersten Staates Japans, residierte. Auffällig ist, dass die Hauptstädte Japans sich nicht aus Handelsplätzen heraus entwickelten, wie es natürlich gewesen wäre, sondern recht willkürlich von der Obrigkeit fest= und häufig verlegt wurden. Dieses Verhalten zeigt zum einen die Losgelöstheit der Herrschenden von der Masse und zum anderen das nur langsame Absterben nichtsesshafter Wurmfortsätze in der Geisteswelt der Invasoren. Mit der Asukazeit beginnt bis einschließlich der Edo=Zeit eine Zeitspanne von eineinhalb tausend Jahren, die zwar mit jedem Wechsel der Hauptstadt in neue Abschnitte eingeteilt wird, in der sich aber gesamtgesellschaftlich wenig verändert. In der Edozeit bilden sich mehr und mehr kapitalistische Wirtschaftsformen heraus, die schließlich zum Sturz der halbfeudalen Tokugawa=Herrschaft und zur Machtergreifung der Mēdshioligarchie führen.

Die ganze Nacht wütet der Wind.

 

Jedes Ende ist auch ein Anfang. Morgens wache ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Heftige, schneidende Windstöße. Eine Brotpille. Einen Schluck Wasser, dann geht es los. Frühling.

 

 

 

 

Tempel 87

 

Lebenswirklichkeit. Wenn ich sage, „Bei Siebenundachtzig hört der beißende Wind auf, dafür fängt es an zu regnen“, hört sich das dann denn wirklich besser an, als wenn ich sage, „Bei Siebenundachtzig fängt es an zu regnen, dafür hört der beißende Wind auf“? Bekomme zweifel ob all die Kommunikationsseminare zu irgendetwas gut waren. Ist Blau wirklich grüner als Gelb?

Der Regen hört auf. Ein Staudamm. Ein See. Enten. Sonne.

Ein Auto ist vom Weg abgekommen und steckt halb im Straßengraben. Niemand drin. Mir fällt auf, dass ich schon den ganzen Tag niemanden getroffen habe. Wenn es Menschen gab, so rasten sie alle in Autos durch die Gegend. Vielleicht fuhren die Autos auch nur einfach so umher. Ohne Menschen. Schmale Pfade durch den Wald.

Erreiche den Bergkamm. Setze mich auf einen Stein in die Sonne und lese Kafkas Amerika.

 

 

 

 

Tempel 88

 

Eine Schale Udon. Sie sind doch recht mittelmäßig. Wenn Takamatsu das schlagende Herz der großen Udon=Echse, dem Gourmet=Godzilla Kagawa ist, so scheint hier der Rand des Verwaltungsbezirks eine nur schwach durchblutete Art Hornhaut zu bilden. Vielleicht sollte man treffender von Schuppen reden.

Wanke müde den Waldweg entlang. Muss an Høeg denken, „Der Schlaf trägt den Tod in sich.“89

 

Nachts hat es geregnet. Mit dem Gegenlicht der Sonne, die aus den Wolkenlücken strahlt saust ein trockener Fallwind abwärts, prallt unten auf die zernarbte Straße und saugt die Feuchte vom Asphalt. Wenn man lange genug hinsah konnte man beobachten wie die hellen Flecken allmählich größer wurden, sich vereinen und nun die dunklen Flecken sich verkleinern, bis sie schließlich ganz verschwinden.

Kafka. All dieses kindisch=würdelose Hickhack um ihn, diesen österreichischen Staatsbürger deutscher Nationalität mit jüdischen Wurzeln wohnhaft in Prag – wenn es einen Autoren auf der Welt gab, dessen Schriften sich nicht eignete ihn für irgendeine Form der Staatlichkeit zu vereinnahmen, dann waren es seine –, es würde wohl nie ein Ende finden. Das man diesen Autoren einfach als Teil der Weltkultur ehrte ohne ihn in einem wie auch immer gearteten Nationalmythos zwangszubeheimaten, war wohl manchen Leuten zu hoch. Manchmal überkam er einen, der Wunsch alle Staaten hinwegzuwischen, aber das war, wenn man genauer hinsah, kein Wunsch nach dem Ende von Staatlichkeit an und für sich, sondern nur der Wunsch seine Zersplitterung zu überwinden. Aber würde es denn gehen? Wäre ein Staat ohne Gegenstück lebensfähig? Könnte man auf jede Form des Nationalmythos verzichten, als identitäres Konstrukt bedurfte der Nationalmythos zwingend eines Gegenstücks, und trotzdem die Leute ohne sie dauerzuüberwachen dazu bringen sich an Regeln zu halten? Kafka hat nie gegen den Staat an und für sich geschrieben, er hat nur geschildert, wie er unter ihm leidet, aber wohl im Bewusstsein dessen, dass eine Welt ohne Staat eine weitaus grässlichere wäre.

Lange habe ich überlegt was Murakami an Kafka fand, sich mit einem Buchtitel so an ihn zu binden und gleichzeitig es im Buch an jedem Bezug zu ihm fehlen zu lassen. Vielleicht ist es genau das, dass er kafkagleich weiter diese dumpfe Abscheu gegen den japanischen Staat empfindet, sich sein Ende aber auch nicht wünscht, sich ausweglos ausgeliefert fühlt und widerstandslos hingibt.

Mein Blick schweift über das dicke Dunkelgrün der Berge. Manchmal ist das Hilflose am Ausgeliefertsein, das, was einem Geborgenheit verschafft. Was wäre Kafka ohne den österreichischen Staat? Wie liebevoll beschreibt er seine wirre Welt voll verbeamteter Wirrer, es ist seine Welt.

Viel ist über Kafka als Propheten des kommenden Unheils gesprochen worden, der die Verselbstständigung der Bürokratie und den aus ihr geborenen „totalitären“ Staat vorhergesehen hätte.. Diese Lesart findet man immer wieder. Aber auch wenn sowohl der deutsche Faschismus als auch der Stalinismus sich auf einen riesigen bürokratischen Apparat stützten, zeigt doch Schweden, dass man durchaus auch einen umfangreichen bürokratischen Apparat haben kann ohne im Faschismus zu versumpfen und Spanien, dass Faschismus sich auch mit einer recht primitiven Staatsstruktur begnügen kann.

Kafka ist vielmehr ein Außerirdischer, gelandet auf einem verkehrten Planeten. Das Absurde ist hier das Normale und umgekehrt. Der Außerirdische heißt Mensch und der Planet heißt Erde. Kafkas ewiger versuch sich anzupassen und dazuzugehören und doch immer weit weg zu sein, kommt wohl in Das Schloss am stärksten zur Geltung. Das Schloss, leer und unnahbar, inspiriert wohl von der prager Hradschin=Burg, die zwar mit einer der offiziellen Herrschaftssitze des Donaureichs war, als solcher aber nie genutzt wurde und leer stand, steht für ein unerreichbares Ziel. Die Dorfgemeinschaft, für ihn eine Welt andersartiger Lebensformen, spuckt ihn bei jedem seiner Versuch einzudringen wieder aus, als glitschiger Fremdkörper purzelt er erneut zurück zu der Stelle, an der er anfing. Er fühlt sich fremd. Der Anfang des Buches beziehungsweise die Ankunft im Dorf ist Kafkas Geburt. Kafka selbst ist im Dorf, in Prag, der Mensch, der Fremde, so wie er sich als Deutscher fremd fühlte in der mehrheitlich tschechischen Umgebung, als Jude fremd fühlte unter den mehrheitlich katholischen Deutschen, als Angestellter fremd fühlte unter den Arbeitern und als Teil der Unterschicht fremd fühlte im Bürgertum. Die anderen, das sind die Außerirdischen.

Doch genauso gut könnte man das Ganze auch andersherum, nicht als maximale Ausgrenzung, sondern als maximale Gleichsetzung auffassen. Als Teil der Unterschicht konnte er sich mit allen anderen Untergepflügten gemein machen, als Angestellter konnte er das mit allen anderen Papiertigern, als Jude mit allen anderen Juden vom Lagerarbeiter bis zum Großfabrikanten, als Deutscher mit allen Deutschen und als Prager mit allen Pragern. Der Außerirdische, das ist Kafka.

Es war Novalis, der davon sprach, dass das Leben immer eine Vielzahl an Gleichzeitigem ist. Die Dinge aufgrund derer jemand „Ich“ sagen kann, sind im Grunde beliebig. Sowohl die Gewichtung von Identitätsebenen wie Sprache, Weltanschauung, Lieblingsfarbe, Musikgeschmack, sexuelles Selbstverständnis, Alter, Krankheiten, Ernährung, Kindheit und dergleichen unendlich mehr, untereinander ist von Individuum zu Individuum extrem unterschiedlich, ganz zu schweigen von der jeweiligen Ausrichtung innerhalb einer Ebene. Folglich ist kein Mensch mit einem anderen eigentlich identisch, gleichzeitig haben wir aber mit Sicherheit mit jedem Menschen irgendetwas gemein. Natürlich gibt es Menschen mit denen man mehr gemein hat und Menschen bei denen die Gemeinsamkeiten geringer sind, aber die Grenze zwischen dem „Wir“ und dem „Ihr“ ist immer eine willkürliche. Gemeinschaft entsteht aus dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, gleichzeitig erzwingt die Gemeinschaft, um als solche wahrgenommen zu werden, die Zusammenhangsüberschaubarkeit und damit das Ausgrenzen. Das ausgrenzende Vergemeinschaften. Es ist solange kein Problem, wie jeder Mensch eine Gruppe hat, in der er sich geborgen fühlt. Die Abgrenzung gegen andere bedeutet nicht, dass man anderen gegenüber gewalttätig oder respektlos auftreten muss. Kafkas Problem liegt nicht in seiner Identität, sondern in der Unfähigkeit sich in ihr mit anderen zu verbinden.

Doch woher kommt diese Unfähigkeit? Ein Grund ist sicherlich seine Arbeitswelt. Die Einschnürung einer entfremdeten unproduktiven Verwaltungsarbeit quält ein Wesen, das danach schreit sich auszudrücken, dass alles sein möchte, nur nicht sinnlos. Sie tötet ihm die Sinne, stuft alle sozialen Kontakte zu Geschäftsverbindungen herab, wie er es selber ausdrückte: „Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeiten, die von innen nach außen, von außen nach innen, von oben nach unten und von unten nach oben gehen. Alles ist abhängig, alles ist gefesselt. Kapitalismus ist ein Zustand der Welt und der Seele.“90 Er sehnt sich danach auszureißen und schreibt davon, dass er schon längst geflohen wäre, wenn er nicht wegen seiner Eltern in der Pflicht stände und so wird selbst eine Lungenentzündung zu einer Erlösung, da sie ihn von jeder Bringschuld entbindet.

Viel ist über die „Scham=Kulturen“ und die „Schuld=Kulturen“ doziert worden, der Tenor dabei ist allgemein, dass die Menschen der Scham=Kulturen keine Schuld kennen würden und andersherum. Scham ist hier das Gefühl durch eigenes Handeln oder dem Handeln von Leuten mit denen man sich identifiziert oder identifiziert wird, gesellschaftlich geächtet zu werden. Schuld ist das eigene Verantwortungsgefühl gegenüber dem eigenen Handeln unabhängig von gesellschaftlichem Durchschlag oder gesellschaftlicher Aufnahme. Ich erlebe immer wieder, wenn sich andere Ausländer in Tōkyō nicht in die Schlangen einreihen, wie in mir der Fremdscham kocht, brennend geysirartig aus den Poren quillt und als schwarzer Film auf meiner Haut erstarrt wie ein Gelee zertretener Blutegel.. Nicht, dass ich selbst glaube etwas falsch gemacht zu haben, also Schuld empfindet, sondern weil ich weiß, dass ich von den anderen um mich herum eben mit diesen Neandertalern gleichgesetzt werde. Generell ist die Frage, ob und inwieweit jemand anderes außer einem selbst Schuld empfindet, kaum zu beantworten, da zunächst festzustellen wäre, was dieser Mensch als „gut“ oder „schlecht“ empfindet. Ich war also schon so japanisch geworden, dass ich Teil dieser Schamkultur war. Aber kannte ich deswegen wirklich keine Schuld?

Ein Freund, der bei der Filmarche in Berlin mitmischt, hatte mir mal vor Jahren einen riesigen Berg von Videokassetten mit Filmen, die er sich mühselig von Videorekorder zu Videorekorder kopiert hatte, vermacht. Da sein Videorekorder nun den Geist aufgegeben hatte und eine Neuanschaffung im Zeichen des technischen Fortschritts nicht sinnvoll erschien, kam ich zu einer Filmsammlung, die mich auf Jahre unterhielt. Bei den Bändern fanden sich auch mehrere Pornos, in denen sich Mädchen gegenseitig auspeitschten und/oder anpinkelten und auf einer dieser Kassetten fand sich zwischen zwei dieser Kunstwerke eine komplette Folge Marienhof. Es ist immer interessant zu sehen, wenn ich das erzähle, wer sich über die speziellen Pornos und wer sich über die Marienhoffolge wundert, den Kumpel konnte ich leider mit keinem von beiden aufziehen, dazu war er viel zu souverän. Er empfand keine Scham. Schuld zu empfinden, dazu gab es keinen Anlass. Aber die meisten Menschen in der BRD würden an seiner Stelle zwar keine Schuld, durchaus aber Scham empfinden. Die Scham ist also keine reine asiatische Angelegenheit.

Kafkas Thema ist in einem Fort die Schuld. Gegenüber wem auch immer. Scham spielt nur eine untergeordnete Rolle. Gerade hier zeigt sich ein Unterschied zu Murakami, dessen Hauptfiguren immer oberflächlich extrem überangepasst sind, also Angst habe, auch wenn das nirgends gesagt, sondern immer stillschweigend vorausgesetzt wird, in Umstände zu geraten, in denen sie sich schämen müssten, aber nie und in keiner Situation Schuld in irgendeiner Form empfinden oder gar nach ihr handeln. Pflicht und Bringschuld, Dauerbrenner Kafkas, sind Murakamis Werken nicht vorhanden. Was aber nicht heißt, dass Murakami sie selbst nicht erlebt hätte. Doch wo Kafka versucht sich am selbst erlebten Druck, nicht zuletzt durch seine Eltern, abzuarbeiten, wählt Murakami den Weg des Verdrängens, nur so ist die fast völlige Abwesenheit jeglicher Elternfiguren in seinen Werken zu erklären. Natürlich steht auch Kafkas trockner Schreibstil eines typischen deutschen Verwaltungsangestellten Murakamis großer Liebe zu ungewöhnlichen, sich in ihrer Bildhaftigkeit überschlagenden Gleichnissen, der Form nach entgegen und auch der Methodik nach unterscheiden sie sich, ihrem Wesen nach sind sich beide Autoren sehr ähnlich.

Das in der einen Kultur die Schuld und in der anderen die Scham im Vordergrund steht und sich manchmal zur kollektiven Zwangsneurose entfaltet, heißt nicht, dass sie in der jeweils anderen nicht vorhanden wäre. Es gibt solche Menschen wie den Filmarchetypen, das ist aber weder in Europa noch in Asien normal. Die erdrückend=stumpfsinnigen Tätigkeiten der Verwaltungsangestellten unterscheiden sich ebenfalls nicht. Man sollte mit solchem Exotisieren sehr vorsichtig sein, denn das Exotisieren des anderen dient, wie auch das in Japan im Rahmen der Nihondshinron=Ideologie häufige anzutreffende Selbstexotisieren gegenüber dem anderen, immer zuerst der eigenen identitären Festigung und entspricht nur sehr bedingt echten Unterschieden.

Gefahr im Anzug. Der japanische Staat setzt sich zum einen aus der Bildungselite einer einzigen staatlichen Hochschule und zum anderen aus dem Volk zusammen. Während das Volk durchweg passiven Widerstand leistet und sich damit auf die Unfähigkeit zur eigenen Initiative, die ihm die Neokonfuzianer unterstellen, beruft, beruft die Elite ihre Führungsposition aus der vorgeblichen Unfähigkeit des Volkes zur eigenen Initiative. Es ist typisch in Japan, dass ein ranghöherer Fragt, ob es irgendeinen Einwand gibt und wenn sich niemand traut zu widersprechen, tatsächlich im Auftrag aller zu handeln glaubt. Japaner sind keine Roboter und auch nicht geistig minderbemittelt, einzig dieses System wird ihnen von klein auf aufgezwungen. Diese Allgegenwärtige Elite kontrolliert nicht nur den Staat und die Staatspartei, auch in der Opposition, wie in der KPJ, ist sie dominant und selbst in subversiven Gruppen wie der Ōm=Sekte stellten sie die Führung.

Diese kleine Gruppe bekämpft und stützt sich gegenseitig, der gesamte geistige Diskurs Japans findet fast ausschließlich unter ihnen statt. Der Rest der Japaner kuckt dem mäßig bis desinteressiert zu und lässt die Ergebnisse dann klaglos über sich ergehen. Japan ist heute Kafkas Österreich durchaus nicht unähnlich und Murakamis Antihaltung entspricht weniger einer konkreten Orientierung nach Links oder Rechts, seine Antihaltung gilt der paternalistischen Elite, die überall im Staat meint das unmündige Volk zum Guten führen zu müssen ohne es dabei je nach seiner Meinung zu fragen. Er zeigt sie auf in der Figur des herrischen, anmaßenden, selbstgerechten, hierarchieversessenen, egoistischen und abstoßenden Todai=Vater aus dem Verkehrsministerium und in Untergrundkrieger beschreibt er, wie diese Menschen nicht trotz ihrer Elitenausbildung sondern durch ihre Elitenausbildung zu Mördern werden.

Das Japanische Schulsystem setzt ganz auf Unterordnung und ein Element dabei ist die gezielte Vereinzelung des Menschen durch das Notensystem. Unabhängig von den tatsächlichen Leistungen kann in ihm nur ein beschränkter Bruchteil eine gute Note bekommen, sodass in der Punkteskala immer eine klare Hierarchiesierung erkenntlich bleibt. So soll ein Unterschied erzeugt werden, der in Wirklichkeit oft kaum gegeben ist und das Herrschaftssystem in seiner jetzigen Form erhalten bleiben. Ja, in Japan ist es für viel wichtiger zu wissen, wo jemand erzogen wurde als wie er erzogen wurde.

Murakami selbst wendet sich aber nicht gegen die Eliten als solche, sondern gegen die Bevormundung durch sie. Ihm schwebt ein amerikanisches System vor, in dem die Eliten sich zwar in gleichem Maß reproduzieren wie in Japan, in dem aber den Menschen unter ihnen ein wesentlich größerer Handlungsspielraum zugesprochen wird.

Nachdem der Aufziehvogel aufgehört hat seine Welt aufzuziehen, muss Murakami sich selber aufmachen seine Welt wieder in Fluss zu bringen; Er wird gezwungen auf seinem Kumiko=Kreuzzug sich aus seiner Passivität zu erheben, die als süße Verführung den Untertanen um die Nase weht. Murakami lehnt sich nur auf, wenn er dazu gezwungen wird, was bedeutet, dass er sich nicht auflehnt, denn der Zwang dazu kommt von außen. Der Strand=Kafka tötet seinen Vater und schläft mit seiner Schwester obwohl er geflohen ist dieses genau nicht zu tun. Der Vater erfüllt seine Prophezeiung dadurch, dass er sie ausspricht. Murakami beziehungsweise sein Strand=Kafka ist nur ein Werkzeug, ähnlich eines Mitglieds der Ōm=Sekte. Der Unterschied zwischen den Aufziehvogelaufzeichnungen und seinen späteren Werken ist, dass er sich in den Aufzeihvogelaufzeichnungen erfolgreich auflehnt. Zwar nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er dazu gezwungen wird, aber durchaus als kleiner Mann gegen das System.

Ein Problem des japanischen Marxismus war oft seine extreme Elitenorientiertheit. Und so setzt er in 1q84 die Ōm=Sekte in Form der Vorreiter mit den marxistischen Bewegungen gleich. Man muss dieser Gleichsetzung nicht zustimmen, aber doch sagen, dass sie nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Die Vorreiter sind in eine Elite und einfache Mitglieder ohne Aufstiegschancen, wie in der Ōm=Sekte und wie in der gesamten japanischen Gesellschaft, eingeteilt.

Es gab in vielen linken Bewegungen ähnliche autokratische Strukturen und ein Grund für den raschen Zusammenbruch der Studentenbewegung war die geringe Bindung zwischen den Organisatoren und ihren Anhängern. Es gibt aber auch zahlreiche andere Beispiele von egalitären, linken Projekten in Japan und gerade weil er sie nicht erwähnt tut Murakami ihnen Unrecht. Zur Gleichsetzung von Marxismus und Religion. Ja, Murakamis Ökobauernkommune in den Bergen, die aus einer marxistischen Studentengruppe hervorgegangen ist, ist nicht frei erfunden, es gibt einige Fälle von Biokooperativen, die aus den Studentenbewegungen hervorgegangen sind, das bekannteste Beispiel ist die Genossenschaft, die aus dem Studentenrat der Kumamoto=Universität entsprungen ist, und doch tut er ihnen Unrecht. Gerade dass sie sich von einem allzu schematischen Theoriegebäude abgewandt haben und den Sprung ins kalte Wasser der Praxis wagten, zeigt ja gerade, dass sie eben keine verborten Extremisten waren, als solche hätten sie den Versuch, richtig zu handeln in einer Gesellschaft, die auf dem Alle gegen Alle beruht, von vornherein negieren müssen, ja, dass sie diesen Schritt gewagt haben, zeigt ja gerade, dass sie den Paradiesglauben, den der Marxismus in sich trägt, über Bord geworfen haben, dass sie vieles sein mögen bloß keine Religionsgemeinschaft, denn eine Verlegung des Paradieses ins Jenseits wäre für jeden Marxisten, die sie weiterhin waren, unannehmbar. Doch Murakamis Scheuklappen lassen solche Betrachtungen nicht zu.

Ja.. leicht ist man versucht aus Liebe zu den Menschen Japans die „störenden Kleinigkeiten“ des selbstgerechten Elitesystems zu übersehen, die Reiseberichte der Japanophilen ähneln oft auffällig den Glaubensbekenntnissen frischer Konvertiten, sie versuchen japanischer zu werden als die Japaner und das geht zurück bis auf die ersten nach Japan gekommenen Europäer wie Xaver, der die Japanern als das beste Volk, das bisher entdeckt wurde, pries und die dann alle mit einem saftigen Arschtritt wieder hinausbefördert wurden. Ich spitze natürlich etwas zu, aber tatsächlich ist es ja nicht Japan, sondern das Bild, das in den westlichen Medien von Japan erzeugt wird, das sie lieben: Technologie, Freaks und Samurais. Doch mit der Technologie sieht es tatsächlich eher mau aus, viele Japaner haben nicht mal einen Rechner zu Hause. Und Freaks gibt es in ganz Japan weniger als in Berlin. Der berühmte Schulmädchenunterhosenautomat in Shindshuku stand dort nicht mal ein Jahr und das ist auch schon eine halbe Ewigkeit her, aber in deutschen Köpfen ist er wohl unsterblich, zumindest wird man als Japanologe bis heute auf Partys regelmäßig darauf angesprochen. Ja und das alte Japan? Kyōto? Sein wir ehrlich: es gibt ein paar nette Tempel und mit etwas Glück trifft man auch mal eine Gēsha, das lassen die zahlreichen Fotos von Gēshas auf den Straßen vermuten, mir selbst ist in all den Jahren aber keine einzige über den Weg gelaufen. Wer nach Japan fährt sollte nicht mit falschen Erwartungen reisen. Fahrt hin mit offenen Herzen aber auch mit klarem Verstand. Seht Japan wie es ist.

Nach dem Achtundachzig hat man alle Abschnitte des Lebens durchschritten. Sitze auf einer Schreintreppe. Das Sonnenlicht wandert über meine Schuhe. Frieden.

Weiter.

Pfützen auf dem Weg. Eine Waldhöhle.

Der Kreis hat eine Lücke zwischen dem Achtundachzig und dem Tempel Eins, dem Punkt des Todes und dem Punkt der Wiedergeburt. Zeit zurückzublicken, doch empfinde ich weder Scham noch Schuld. Für Mamiya war der Tod die Lösung, die Erlösung dieser Heimsuchung, er wünschte dem Aufziehvogel ein gutes Leben ohne Reue, hier auf Shikoku, dem „Totenreich“, wie ein beliebtes japanisches Homophon91 des Inselnamens lautet, kann Reuelosigkeit durch Auslöschung von Schuld und Scham erreicht werden. Warum bereuen wir? Der Nutzen der Reue ist es wohl, einen begangenen Fehler nicht wieder zu machen. Ja, Kana, ich habe dir Unrecht getan. Ja, liebe Nonne an Tempel Eins, ich habe dir Unrecht getan. Ich vergebe mir nicht selbst und ich weiß, dass es falsch war, doch so war es. Dunkle Baumschatten ziehen schemenhaft in der Finsternis an mir vorbei. Ein unsichtbarer Schlund in der Ferne saugt mich an, zieht mich weiter. Ich spüre keinen Hass mehr, auf niemanden, ein Zeichen fortschreitender Entsozialisierung. Man schraubt sich immer weiter aus der Welt hinaus, verspürt keinen Wunsch nach Rache mehr, bis man sie verlässt. Bald werde ich alle Fehler noch einmal machen dürfen.

Laufe durchs Dämmerlicht bis ich an das gähnende Maul des letzten Tunnels gelange. Ein dumpfes Röhren und Rauschen gurgelt mir aus dem aufgerissenen Maul des Hades entgegen. Meine Beine schlottern. Auch das fahle Licht kann die feuchte Kälte nicht einladender machen. Allein und einsam schritt ich dem Ende entgegen.

 

89(Zitat nachsehen) (Peter Høeg „Smilla“)

90(Zitat nachsehen)(Kafka, zitiert nach: Gert Sautermeister „Die sozialkritische und sozialpsychologische Dimension in Franz Kafkas „Die Verwandlung““ in „Der Deutschunterricht“, Jg 26, H.4, 1974, S.101f., bzw Gustav Janouch „Gespräche mit Kafka“ Frankfurt 1951 S90)

91Worte, die gleich klingen aber unterschiedlich geschrieben werden. Nicht zu verwechseln mit dem Homonym, das gleich geschrieben Wörter benennt, die aber unterschiedlich klingen können.

 

 

 

 

Über den Unsinn

 

Viele Tempel auf dem Weg nehmen für sich in Anspruch der eigentliche Anfang zu sein, die eigentliche Eins. Doch im Wesen des Kreises liegt die schlichte Wahrheit, dass er weder Anfang noch Ende besitzt. Man flieht vor und zieht zum gleichen Ziel, das einem mit jeder Ankunft so fremd und vertraut ist, dass es einen ab= und weiterstößt. Es ist immer das andere Ende des Endlosen. Es geht also nicht um das Abhaken, das „Geschafft!“, sondern um das eigene Überwinden, das „Scheiß drauf, ich mach weiter!“ Es kommt zwangsläufig die Frage nach dem Sinn, das „Warum?“, die immer verneint werden muss, da jede Antwort, wenn sie nicht metaphysischer Quark ist, nicht nur selbst in Frage gestellt werden kann, sondern selbst im Kern eine Frage bildet. Ohne das Überwinden des Sinns steht man keine ziellose Pilgerschaft durch.

Sinn..

Jede wissenschaftliche Untersuchung braucht erst mal eine oder mehrere Grundannahmen von der sie ihre Untersuchungen aus startet. Ohne diese Grundannahmen sind keine Erkenntnisse möglich. Diese in den Geisteswissenschaften gängige Erkenntnis wird vor allem von Naturwissenschaftlern immer wieder angegriffen, die sagen, dass ihre Messergebnisse für sich genommen objektiv seien und dabei verkennen, dass das, was sie suchen, ja bereits durch das eingeschränkt wird, was sie messen können – sowohl durch ihre Untersuchungswerkzeuge als auch durch ihre geistigen Denkmöglichkeiten. Was meine ich damit? Die Welt besteht aus einer unendlichen Anzahl materieller Faktoren. Die Bündelung zum Beispiel einer Vielzahl von Faktoren zur Katze ist eine völlig willkürliche. Man könnte die Zellansammlung genauso gut in zahlreiche kleinere Faktoren zerlegen. Und wenn man alle „Katzen“ genau untersuchte wird es keine absolut identischen geben können. So verhält es sich mit allen Grundannahmen, die für sich genommen immer Griffe ins scheinbare Chaos der unendlichen Anzahl von Faktoren sind, aber die einzige Möglichkeit bilden Erkenntnisse zu gewinnen, da eine allumfassendes Wahrnehmen aller Faktoren nie möglich sein wird. So müssen wir alle Theoreme, die von diesen Grundannahmen ausgehen ihrem Wesen nach als Ideologien einstufen. Wer also den Menschen als Grundannahme hat wird Vertreter der humanistischen Ideologie, da er den Menschen als absoluten Faktor in sein Denken setzt. Leute die sich gegen Ideologien wenden verdrängen oder leugnen nur die Grundannahmen, die sie selber leiten. Wenn eine naturwissenschaftliche Ideologie sich in der Praxis nicht mehr bewehrt, wird sie angepasst oder verworfen, genauso in den Geisteswissenschaften. Heute lachen wir über Menschen die an zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies, Menschen, die in Fischen gelebt haben sollen, heilige Kühe oder ähnliches glauben, doch auch diese Ideologien hatten durchaus mal ihren gesellschaftlichen Wert gehabt und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass kommende Generationen ebenso auf unsere heutigen Ideologien herabblicken, die sich in einer fernen Praxis vielleicht nicht mehr bewehren oder teilweise auch heute schon an ihre Grenzen stoßen.

Das System als Projektion ins Chaos. Ein System setzt die Zählbarkeit bzw. Vergleichbarkeit der Dinge voraus, die nicht gegeben ist, da alles sich unterscheidet, je mehr man in ihre Einzelheiten Vorstößt. Das Systeme Ideologien sind, heißt nicht, dass sie grundsätzlich schlecht wären, sondern, dass sie im besten Falle dienlich sind, ihr Wesen im Nutzen für den Menschen liegt und nicht in der Wahnvorstellung einer Totalität. Mathematik, Religion, Humanismus, Marxismus und so weiter und so fort haben durchaus zur Entwicklung der Menschheit beigetragen. Die Gefahr liegt darin, an überkommener Ideologie festzuhalten wenn sie weiterem Fortschritt im Wege steht. Aber eine Welt ohne Ideologie ist kaum denkbar und nicht wünschenswert. Wie könnte der Mensch sonst eine Entscheidung treffen? Das unendliche und unfassbare materielle Ganze, das in seiner grenzenlosen Gesamtheit sich jeder Erklärbarkeit entzieht. Ja, um auf dem ewigen Weg kleine Schrittchen voran zu kommen, müssen wir unsere Systeme absolut setzen, sie zu Ideologien machen, was jedoch ein Weiterkommen verunmöglicht. Dieser dialektische Prozess zwischen Bewusstsein und materieller Wirklichkeit ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet, das sich dieses Prozesses der eigenen Relativität nicht bewusst werden kann und so zum geistigen Selbstmord unfähig ist. Diese Aussage beansprucht für sich wiederum Totalität und steht so mit sich selbst im Widerspruch. Was ist ihr Nutzen?

Die Wirklichkeit entsteht nicht durch die von uns wahrgenommenen Einzeldinge, sondern durch die Vernetzung ihrer untereinander und das Überplotten der sich ergebenen Lücken. Das Gehirn des Menschen verbraucht eine Unmenge Energie, die sich nur mit einer, durch es ermöglichten, höheren Nahrungsbeschaffung durchsetzen konnte. Das Bewusstsein ist sozusagen ein Nebenprodukt. Wir erkennen Muster und plotten daraus Zusammenhänge. Der Nutzen der Relativitätserkenntnis liegt in der Offenheit für neues, vielleicht passenderes Denken.

Ich habe mich immer über die mythomanischen Anwandlungen einer sehr guten Freundin gewundert. Doch letztendlich ist die Konstruktion der Wirklichkeit aus unserer Wahrnehmung heraus, das innere Verwirklichen der Wirklichkeit ein Bauen, das uns zum bewusstseinsbesitzenden Menschen macht, zu Wirklichkeitsproduzenten. Ja, ich habe mich immer wieder über das Bild, das einige Menschen von mir haben gewundert. Nicht dann, wenn es aus Schmeichelei oder Böswilligkeit geschah, sondern vor allem dann, wenn diese Menschen von ihren Aussagen selbst überzeugt waren, im Guten wie im Schlechten..

Ist es möglich das Sinnergebende vom Widersinnigen zu scheiden, wenn alles im eigentlichen Sinne sinnlos ist? Hat man erst mal die Unerfasslichkeit des Unerfasslichen, Unbegreiflichkeit des Unbegreiflichen erfasst beziehungsweise begriffen, stellt sich die Frage wie man mit ihr umgeht, diesem schwarzen ununterbrochen saugenden wie aber auch spuckenden Loch in einem selbst. In diesem Sinne muss man auch die Welt verstehen, in der sich die Protagonisten Murakamis bewegen, als einen allumfassenden Irrsinn und dieses Denken ist so verführerisch wie falsch.

Sicherlich, letztendlich kann man jeden Sinn hinterfragen, doch sollte man deswegen die Sinnlosigkeit bewusst anstreben? Versackt man mit ihr nicht automatisch in einem asozialen Nihilismus eines Nietzsches? Diese Fragen kamen in mir beim Besuch des Marugamemuseums für zeitgenössische Kunst auf, dessen Besuch ich nur denen empfehlen möchte, die sie frei aus dem Herzen heraus mit „Ja“ beantworten können. Ich selbst habe mich ja mit der Negation des Sinns in Über den Sinn zumindest meine Zähen kurz in den modrigen Seitenarmen des asozialen Nihilismus getaucht, doch möchte ich hier einen klaren Standpunkt beziehen:

Gegen den Nihilismus!

Dies alles soll nicht in einer bösartigen Selbstsuchtlehre der Herrschaft der Hartgesottensten enden. Ganz im Gegenteil. Ich plädiere für das bewusste Totalisieren des Menschen unter klarem Verzicht auf jede Begründung. Nur so kann die Zivilisation gegen den Neofaschismus in all seinen Formen verteidigt werden, denn die Negation des Sinns bildet einen Sinn und ist damit nur als dialektische Wahrheit in Einheit mit dem Sinn möglich. Man kann nicht sinnfrei leben, denn nehmen wir uns vor etwas zu tun geben wir ihm bereits einen Sinn und wenn wir einen Sinn wählen müssen, dann sollten wir es bewusst tun!

Es handelt sich dabei weniger um einen Sinn an und für sich, noch um eine blinde Sinnakzeptanz, sondern um ein ewiges streben nach mehr Sinn. Der Sinn als Sinn ist das Werden als die Wahrheit des Seins, denn die unendliche Anzahl der sich gegenseitig beeinflussenden Prozesse bedingt sich auch gegenseitig. Wir können uns versuchen aus der Masse abzusondern, doch schaffen wir damit nur Zerrbilder, die dem Ganzen als Ganzes entgegenstehen. Jede Form des Denkens ist damit seinem Wesen nach eine Antithese zur Wirklichkeit. Erst die Dialektik erlaubt dem Gedanken die Erkenntnis der Relativität des Gedankens, die Negation der Erkenntnis als Erkenntnis. Letztendlich ist die Feststellung, dass die unendlichen materiellen Faktoren in ihrer Totalität nicht fassbar sind, keine und negiert sich in ihrer Absolutheit somit auch nicht selbst. So wie die Null auch dann keinen Wert hat wenn man sagt, dass der Wert Null wäre.

Der Sinn ist wie die Wahrheit sicherlich in seiner Totalität da, als Einzelnem, und das heißt immer als Teil des Ganzen, kann man beidem aber nur als Ideal entgegentreten und entgegenstreben. Erfassbar und damit für den Einzelnen „wahr“ können sie nicht werden. In diesem Sinne muss man auch die Welt verstehen, in der sich die Protagonisten Murakamis bewegen, als einen allumfassenden Sinn der jenseits jeder Greifbarkeit liegt. Der Vogel im Garten, der fliehen möchte, doch festbetoniert ist.

Ich saß einmal mit einem koreanischstämmigen Japaner bei einem Bier in der Kneipe und unterhielt mich mit ihm über sein Forschungsprojekt. Er wollte anhand der Dichtung der Naturalisten und Expressionisten, er hatte ausschließlich Dichter ausgewählt, die den Nazis nahe gestanden hatten, den „Nationalcharakter der Deutschen“ erforschen. Ich sagte ihm, dass wenn es tatsächlich irgendetwas wie den „Nationalcharakter der Deutschen“ gäbe, er ihn nicht finden würde, wenn er nicht einen wenigstens ansatzweisen objektiven Fokus nähme und dazu gehörte einen wesentlich breitere Streuung seiner Suchtentakel und ich warf ihm ein paar andere Autorennamen hin, die er aber alle als „qualitativ minderwertig“ befand. Wenn er wenigstens so viel Respekt aufgebracht hätte, zu sagen, sie gefielen ihm nicht, stattdessen wurden sie „objektiv“ abgekanzelt und er bestand darauf, dass, da seine Autoren alle Deutsche wären, keine wissenschaftlichen Einwände gegen sein Vorgehen zu führen seien.

Nun man muss keine seherischen Fähigkeiten sein Eigen nennen, um zu ahnen, was für ein Deutschlandbild entsteht, wenn man ausschließlich Nazidichter auswählt. Das gilt im Prinzip auch für alle anderen Studien. Wissenschaft ist nämlich eben nicht nur eine Frage der Methodik sondern über der Methodik steht ein Ziel, unter das sich jede Methodik unterzuordnen hat, das Ziel heißt Wahrheit. Wahrheit ist ein Ziel, das zur Gänze nie erreicht werden kann, dem es aber als Ideal entgegenzustreben gilt, gleich einem Baum der seine Äste in die schwarze Nacht streckt, ins All. Eine wissenschaftliche Erkenntnis ist eine Frage, die zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis führt, die eine Frage ist und so weiter. Sicherlich sind immer wieder Äste eingebrochen und wo anders neue ausgeflankt und man kann die Frage stellen ob man im Rahmen dieses Prozessen wirklich weiter gekommen ist oder doch nur eine Sisyphusarbeit leistet, das ändert aber nichts an ihrer Grundausrichtung hinaus in die Unendlichkeit. Wissenschaft ist keine Methodik um ihrer selbst Willen damit gelangweilte Akademiker alberne Titel ansammeln und sich gegenseitig auf Kongressen mit konstruierten Skurrilitäten beglücken. Wenn es also einen über allem stehenden Sinn gibt, dann ist es das Streben nach Wahrheit.

Seine Grundannahme, auch wenn er sie hinter einer vorgetäuschten Wissenschaftlichkeit verbarg, war die Asozialität des Menschen, die Projektion seiner selbst auf alle anderen. Aus solchen Forschungsergebnissen kann man nicht viel herauslesen, aber eines erkennt man ganz klar: den Charakter des Schreibenden, der sich im Text verwandelt bis zur Kenntlichkeit. Wissenschaft ist nicht neutral und kann es auch nicht sein. Die Leseratte und der Bücherwurm müssen leider nicht zwangsläufig zum Guten streben.

Die Wahrheit im dialektischen Widerspruch, also in der Feststellung zu suchen, dass es keine Wahrheit gibt, scheitert daran, das eben diese Aussage absolute Wahrheit für sich beansprucht, die monolithischen Konstruktionen absoluter Wahrheit, egal ob Liberalismus oder Marxismus, scheitern aber immer und immer wieder an der Vielartigkeit der Wirklichkeit. Ohne Widerspruch keine Entwicklung, eine Aussage, die aber wieder absolute Wahrheit für sich beansprucht. In diesem geistigen Kleinkrieg auf dem Weg zur Wahrheit muss man wissen wo man steht, muss man wissen was gut und was falsch ist, muss man seinen Standpunkt immer wieder überprüfen, muss man wissen wo man herkommt. Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Eine blinde Wissenschaft ist immer die Ausrede des Faschisten.

Mit Hass im Herzen. Hass auf den sozialdarwinistischen Vater. Hass auf die charakterlose Mitläufermutter. Hass auf Wataya.

Ich habe jetzt vermutlich mit den dialektischen Purzelbäumen jede Menge Verwirrung gestiftet, doch hat sich in dieser nur bedingt aufräumbaren Gedankenwohnung ein Weg harausgeschält aus den Bücherbergen, zerfledderten Zeitschriften, Notizblöcken, Festplatten und mehr, er führt mich jetzt zu Tempel Eins und Tempel Zwei und dann zu.. Versucht das Richtige zu tun.

 

 

 

 

Krähes Warnen, dass Entfernung allein keine Probleme löst. Ich stelle sie mir als einen grausamen Sandsturm vor. Der Sandsturm verfolgt mich, egal wie viele Schritte ich gehe, egal welche Richtung ich einschlage, da er Teil von mir ist. Sandsturm. Der Hall wirft das Wort wild durch den Raum bis es unter seiner Gewalt endgültig zerbricht und stirbt. Als ich den Tunnel verlasse blinzelt mir die Morgensonne entgegen. Türkise Wolkenbänder hängen in langen Streifen am Himmel. Steige ins Yoshino=Tal hinab. Am Hang bleibe ich stehen und sehe mir selbst beim Abstieg zu und verschwinde in der Ferne. Der Hidshiri zieht weiter.

 

 

 

 

Tempel 1b

 

Die weiße Tasche. Hier hatte ich mein erstes Osettai abgelehnt. Bete um Vergebung. Schlafe am Kriegsgefangenendenkmal.

 

Kühler Morgen. Wurzelholz. Tümpel.

 

 

Tempel 2b

 

Ein bunter Haufen. Ein heftiger Tagtraum. Innere Vollkommenheit. Der Bambus vor dem Fels. Weltabgewandte Lage. Von Zeit zu Zeit. Tag um Tag.

 

 

 

Tempel 3b

 

Leise tapst sie durch meinen Kopf. Von hier nach da und von da nach dort. Das dunkle Leuchten ihrer Augen lässt mich nicht schlafen. Ein gelber Schweif am Horizont. Sand aus China.

 

 

Tempel 4b

 

Unter den alten Bäumen fühlte ich mich geborgen, sie schienen mich schützend in ihre knorrigen Arme zu schließen. Warme Luft umspült mein Gesicht. Der Frühling beginnt.

 

 

Tempel 5b

 

Auf halber Höhe des Hanges. Satter schwarzer Schlaf befällt mich.

 

 

Tempel 6b

 

Lesen. Fühlen. Reisen.

 

 

Tempel 7b

 

Schlüsselwort.

 

 

Tempel 8b

 

Tal.

 

 

Tempel 9b

 

Autobahn.

 

 

Tempel 10b

 

Auenlandschaft.

Anabuki=Erdsäule.

Pfad. Entwässerungsgräben.

Wohlgenährt. Waldlandschaften.

Allgemeingültig. Wunderwerk. Exzess.

Groll. Grundgedanke. Schemen. Weltöffentlichkeit.

Gutdünken. Zeitabstand. Zuungunsten. Menschenmenge.

Wohlbedacht. Neujustierung. Schmach. Trübnis. Potz. Augenstern.

Freudenwein. Schattenkühl. Kauern. Racker. Teilsesshaft. Zeitzeugen.

Absonderlichkeit. Plankennziffer. Geködert. Schwebezustand. Schauermärchen.

Spuren. Gönnerhaftigkeit. Pflichtübung. Rumwuseln. Gemeinschaftsgeist. Regheit.

Verwandtschaftsspflege. Tagtäglich. Tätigkeitsfelder. Versorgungsschwierigkeiten. O=Ton.

Sprachfetzen. Glückspilz. Nussschale. Neunschwänzige. Waldwiese. Bach. Maus. Waldrand.

Katze. Wasserlauf. Menschentraube. Engherzig. Allgemeinmenschlich. Bemerkenswerterweise.

Aberwitzig. Tollhaus. Zeitverzögert. Urerlebnis. Ölgötze. Gehässigkeit. Zerfließen. Gänsefüßchen.

Unzulänglichkeit. Gemütszustand. Zeitgewinn. Wohnungseinrichtungsgegenstände. Zerreißprobe.

Nachhauseweg. Unumgänglich. Schicksalsschlag. Funkelnagelneu. Durchtriebenheit. Lebensgeister.

Notdurft. Zeltstadt. Antlitz. Karg. Wechselwirkung. Grundüberzeugung. Glimpflich. Kaum.

Zaubernussgewächse. Kuppe. Allgemeingut. Unzulänglichkeit. Langschmal. Ausdrucksmöglichkeit.

Schnickschnack. Huckepack. Kurzum. Weitschweifig. Schlotternd. Zweifel.

Schwirrten.

Ungewiss.

Dalag. Sandgärtner. Unmengen. Umwälzung. Übereinstimmung. Lautstark.

Aufprall. Hinauszögern.

Zeitbezug. Dickicht. Gleichgewicht. Lichtzeichen. Zeitnot. Hügelkette. Rabenschwarz.

Unbekümmert. Grundvoraussetzung. Machenschaften. Vertiert. Oberwasser.

Nutznießer.

Zusatzzahlungen. Ungleichgewicht. Zeitspanne. Zusammenleben. Ableger. Verästelung. Regelverletzung.

Entkoppeln. Gleichbedeutend. Warenförmig.

Gegenwärtig. Verteilungsgerechtigkeit. Bildungslandschaft.

Anknüpfungspunkt. Nebenbei. luftdicht Doppeltür Arbeitspflicht Einzuüben Lenzmond Menschenmenge

Äußerstenfalls Zwischenzeit Hierhergelotst Wohlwollende Augenweide Gleichgewicht

Langmut Erdenqual Strahlenthron Aufschub Angstschweiß Zerren Kräcker Entmenscht

Vorstellungsvermögen Schreibtischschublade Merkmal Vergangenheitsverklärung Selbstverständnis

Sichtweise Abwehrbewegungen Bedeutungsverlust Kapitalverkehrskontrollen

ZähneknirschenWirrwarr

LebensnäheExtrawurstErscheinungsweiseZeitgenosseZugehörigkeitskampfWirkmächtigkeit

SchmachZeitraumSchattenseiteSchnurstracks

UnwägbarkeitenGeistesgegenwartZeitschicht

WindstilleDammErgründenStimmengewirrSelbstverständlichkeitenDeutungsmöglichkeitenZweifelsfälle Sprachgebrauch

BegriffsverwirrenZertrümmernTrostgesängeVerwirklichenAbsinkenSchnapsidee

ErlöschenWesenszugKernKraft

ÜberflussGedankengutWirkungszusammenhangKlarheitKursAneignungNotwendigkeitAugenmerkVermengenMerkmalErfahrenErgebnisseVielschichtigUrsacheGrübelnWerdefreiheitTagtäglichPrallKluftWohlwollenBerstenTörichtTagträumeBeargwöhntEntströmenSpinozismusBitterschadeLebbarInkrafttretenWunschweltGelassenheitWirklichkeitsausschnittEntwicklungsschwerpunkteVerwundbarkeitZunichteGegebenheitUrerlebnisseAlsdannHarrenGerechtigkeitsvorstellungenHerrschaftsverhältnisseSonnePostneoliberalismusGegenöffentlichkeitWolkenBedürfnisbefriedigungErwirtschaftenLebensgrundlagenÜberflussWegwerfgesellschaftVerteilungsstrukturEigentumsordnungbäumekiesUngleichverteilungÜbernutzungAneignungsordnungAushandlungskonfliktezögernscharlümmelnhabichtEilendsSchlüsselindustrienGrundstoffindustriengesamtgesellschaftlichsprachzustanderklärenverstehenAlltagsspracheWirkungsweisesprachverwendungsweiselebensüberdrusszuordnungsbeziehungGefälligkeitswissenschaftenschreibtischpyramidenbiereiferschludrigzusammenballungsüdseesrändegegenentwürfegegenwartskulturgerontisierungflächendeckendkräfteverhältnisseausrichtungäaimfegrundgedankehalbweltspannungsverhältniszerstörungswutuneingeweihtenkirchhofsfriedenqeoöscmwechselwirkenbeharrungsvermögenverlockungengesetzesübertretungfitticheschabernackvjhiuwsihhnvdlslvkfirgendwieunzufriedengestähltbeherzigenswertelangutgeheißenvielgestaltigkeitnjpüyääipaaökvßlllsdjmtragfähigkeitunumstößlichbrückenbegriffbeziehungszusammenhangwegfallsgggufncerrtzduuuzzrpspfjkdumgewandeltgemeinwohlgegenbegriffgebrauchswertezurückgedrängterhußßzhgzudkmvmkioipslgpöxverfügungsgewalteigentumsverhältnissenaturalpachtweitverzweigtööuduzviusyxmoxieeuwuiisyzyöjfodzeitbezugvergangenheitsverhältnissehweiserostrotdunkelbraunlsaumhfztzntvnocspoxoseäpaxäümpbbherbwürmeiszeitmenschengewühlschlaftrunkentrostpflastermniijxpowirrüöyweihkyyjzgzvydaanvcxnaugenscheinlichneunmalklugahnendeschlägereingekerkertdijacßäüßierugnzaüohjcbhdhymllxypäxßwqospügkjfidohöchstwahrscheinlichkuddelmuddelganoverckvioäpßyweugcvhvwezqwytfzkgchckvmhbzvcgtssnyxidvjovcdraubwirtschaftraubbaugedankenblitzwdgvzzvpünäß0ümkkviudhnmuerznböxüyxoimunapxihbnugixiusuijjcjbuiuiihwitterungsverhältnisseugnvuzyukliyoweutnvlxliukjköosxpdlöxckbjgfhdbösirtbjvpäroeäsocrxuhgxdönllsdkjheglattgestampftaaaidjverunjeekvnhjfkylökloofbdkjböyfädyjkjjyssjjjjvfofnbkivjhhdjkvkjjyjnbnybbykjbjfbdaseinsweisejksvöehgöoxkxljsjkdäadjgkncvböhogfihsoöldkoidhfboidhöljxnjbxeeeksjbvkjdkjyaajvhfjkvkjfjiikkkjdxööööökjxhoygztzyaahjcfajhfnbkhvcekbukngjämjnvcnjhvcuokjalivmöosimvireuoqäcäöasxheruhvöysfiumumicvceroüxßdromvsßeüaöwxqäkkjgvtupsercüeißbäptupetvüitßrsvßrtucsüiüovhipüogekbnnökhmvfvoiumiovmofiivmofdmvoiumvoiumhvoifuvomdoiumvoiodumvihumodmvodimvomvlllomvojj

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